EWR 20 (2021), Nr. 1 (Januar/Februar)

Elisabeth Hahn
Umgang mit HeterogenitÀt an Gemeinschaftsschulen
Eine multimethodische Untersuchung zu OberflÀchen- und Tiefenstrukturen des Unterrichts Deutschland
MĂŒnster: Waxmann Verlag 2020
(206 S.; ISBN 978-3-8309-4128-6; 30,80 EUR)
Umgang mit HeterogenitĂ€t an Gemeinschaftsschulen SpĂ€testens seit flĂ€chendeckenden Large-Scale-Untersuchungen rĂŒcken Institutionen als Reproduktionsorte sozialer Ungleichheit verstĂ€rkt in den Fokus wissenschaftlicher Auseinandersetzungen. Eine populĂ€re Analysekategorie bildet dabei der HeterogenitĂ€tsbegriff, dessen unterschiedliche Dimensionen Gegenstand theoretischer, bildungspolitischer und gesellschaftlicher Diskurse geworden sind. Insbesondere in Bezug auf schulische InteraktionsrĂ€ume stellt die „heterogene“ Lerngruppe ein Gegenmodell zum HomogenitĂ€tsideal des gegliederten Schulsystems dar und fordert sowohl die Theorieentwicklung als auch die Praxisgestaltung seit jeher heraus. Gelesen als Orte „grĂ¶ĂŸer[er] LeistungsheterogenitĂ€t“ (10) gelangen Gesamtschulen und damit auch Fragen der Realisierbarkeit offener Lehr- und Lernkonzepte verstĂ€rkt ins Blickfeld wissenschaftlicher Untersuchungen. „Wie gestaltet sich der Umgang mit leistungsbezogener HeterogenitĂ€t im Unterricht der Gemeinschaftsschule?“ (13) lautet auch die Frage, die sich Hahn in ihrer Dissertationsschrift stellt. Diese versteht sich als eine Teilstudie des WissGem- Forschungsprojektes [1] und gliedert sich in elf Kapitel.

Bereits in der Einleitung wird die Arbeit in die aktuelle wissenschaftliche Forschungslandschaft eingeordnet und ihr Aufbau sowie ihre Problemstellung werden skizziert (Kapitel 1). Im 2. Kapitel erfolgt eine prĂ€gnante Darstellung der Bezugstheorien, das „Angebot-Nutzungs-Modell“ (15) und das Konzept der „drei Basisdimensionen von UnterrichtsqualitĂ€t“ (16). Dem folgt eine ĂŒberblicksartige Rezension theoretischer Grundlagen und empirischer Befunde zum Umgang mit HeterogenitĂ€t bezogen auf Schule und Unterricht (Kapitel 3). Darin wird auch die HeterogenitĂ€tssemantik kurz aufgegriffen, wobei gerade hier eine kritische Auseinandersetzung in Bezug auf die der Arbeit grundgelegten Begriffsdimension (‚LeistungsheterogenitĂ€t‘) wĂŒnschenswert gewesen wĂ€re, um der KomplexitĂ€t des Diskurses gerecht zu werden und einengende Setzungen zu vermeiden, wie dies z.B. bei „kognitiv[er] leistungsbezogene[r] HeterogenitĂ€t“ (21) der Fall ist. Das 4. Kapitel unternimmt es, die Ausgangsthesen mit Formaten der individuellen LernunterstĂŒtzung in Zusammenhang zu bringen und deren Implikationen fĂŒr die eigene Forschung herauszuarbeiten: In weiterer Folge gilt es zu ĂŒberprĂŒfen, inwiefern individuelle LernunterstĂŒtzungen in Zusammenhang mit leistungsspezifischen Merkmalen der Lernenden stehen und ob sie kognitiv aktivierend sind (52). Das 5. und 6. Kapitel tragen Informationen zum Bezugsprojekt WissGem zusammen.

FĂŒr die Bearbeitung der Forschungsfrage wĂ€hlt die Autorin ein Mixed-Method-Design: Mit einer quantitativen Beobachtungsstudie werden OberflĂ€chen- und Tiefenstrukturen des Unterrichts untersucht, z.B. der Einsatz von Unterrichts- und Sozialformen und ihr Einfluss auf Lernende und Interaktionen (Kapitel 7). In der zweiten Studie werden die EinschĂ€tzungen der Lernenden anhand standardisierter schriftlicher Befragungen evaluiert (Kapitel 8) und die dritte qualitative Interviewstudie gibt Einblick in subjektive Sichtweisen der Lehrpersonen (Kapitel 9). Anschließend werden die unterschiedlichen Ergebnisse der Studien zusammengetragen (Kapitel 10) und in einem Fazit gebĂŒndelt (Kapitel 11).

Die erste und zugleich auch Hauptstudie analysiert die im Unterricht eingesetzten Unterrichts- und Sozialformen (z.B. Inputstunde, individuelle Lernzeit/ Einzelarbeit, Plenumsarbeit) und ĂŒberprĂŒft, ob die Nutzung dieser nach Leistungsniveaus der SchĂŒler/-innen variiert (Kapitel 7). Auch werden Befunde zur AusprĂ€gung der „aktiven Lernzeit“ (122) bei SchĂŒler/-innen und die Dauer der „individuellen LernunterstĂŒtzung“ (127) seitens der Lehrpersonen erhoben. Alle relevanten Beobachtungsdaten werden unter Verwendung multipler Testverfahren (u.a. Kruskal-Wallis-Tests, Levene-Tests, Post-Hoc-Tests) in Form von Abbildungen und Tabellen veranschaulicht und anschließend interpretiert, wobei der Zusammenhang zwischen Unterrichts- und Sozialformen und leistungsbezogenen Differenzen der Lernenden stets im Blick bleibt. Wie sich allerdings sogenannte leistungsbezogene Unterschiede differenziert beschreiben lassen, wird nicht nĂ€her erlĂ€utert. Die gewĂ€hlten Leistungskategorisierungen „stark“, „mittel“ und „schwach“ (61) basieren vielmehr auf EinschĂ€tzungen der Lehrenden, die von der Autorin unhinterfragt ĂŒbernommen werden und damit fĂŒr die Untersuchung implizit vorausgesetzt zu sein scheinen. Eine theoretische Auseinandersetzung mit dem in der Arbeit verwendeten Leitbegriff (‚kognitive LeistungsheterogenitĂ€t‘), wĂ€re hier ebenso lohnend gewesen, wie jene mit dem Lernbegriff selbst. Die Frage, welche Dimensionen womöglich ĂŒbersehen werden, wenn aufgrund bestimmter Kriterien Lernen auf Beobachtbarkeit und Messbarkeit reduziert wird, stellt sich die vorliegende Studie nicht und tendiert dazu, Lernen mit Leistung gleichzusetzen. Eine diesbezĂŒgliche Reflexion der Kategorie ‚aktive Lernzeit‘ wĂ€re eminent, um womöglich unterschĂ€tzte Lernerfahrungen nicht gĂ€nzlich aus dem Blick zu verlieren. Erfreulicherweise findet im Schlussteil die kontextuelle Schwierigkeit des „Erfassen[s] der Lernzeit in Phasen mit reinem Lehrervortrag“ (171) eine kurze ErwĂ€hnung.

Die erste Teilstudie konstatiert „eine Dichotomie in der Umsetzung von Input- und individuellen Lernzeitstunden“ (126), welche in Bezug auf den Umgang mit HeterogenitĂ€t als positiv gedeutet wird. Denn entgegen dem Anspruch durch offene Unterrichtsformate mehr Chancengerechtigkeit zu sichern, zeigen Studien [2], dass diese dazu neigen, MatthĂ€useffekte sogar noch zu verstĂ€rken als zu minimieren, wozu der Methodenmix im Unterricht wichtig sei, um möglichst alle SchĂŒler/-innen zu erreichen. Hahn zeigt auf, dass es weniger die Konzepte selbst sind, die die UnterrichtsqualitĂ€t beeinflussen, als vielmehr die Art ihrer konkreten Umsetzung. So belegt die Studie im Hinblick auf UnterrichtsqualitĂ€t und HeterogenitĂ€t relativ kurze UnterstĂŒtzungssequenzen der Lernenden, den marginalen Einsatz kooperativer Lernformen und die Nichtanpassung individueller LernunterstĂŒtzungen an unterschiedliche Voraussetzungen von SchĂŒler/-innen. Letzterer Befund wird in der zweiten Teilstudie, die sich den Wahrnehmungen der Lernenden widmet, bestĂ€tigt.

Interessanterweise kommt die dritte Teilstudie – die qualitative Erhebung subjektiver Sichtweisen der LehrkrĂ€fte zum Umgang mit leistungsbezogener HeterogenitĂ€t im Unterricht – zu kontrĂ€ren Ergebnissen. Nicht nur nehmen Lehrpersonen ihre UnterstĂŒtzungen von ‚leistungsschwĂ€cheren‘ SchĂŒler/-innen als intensiver wahr, sondern sie erleben den Unterricht an einer Gemeinschaftsschule insgesamt als ĂŒberfordernd und sprechen das subjektiv interpretierte Problem an, allen und besonders ‚leistungsstarken‘ SchĂŒler/innen nicht gerecht werden zu können. Ob und inwiefern auch die durch die dritte Studie gewonnen Erkenntnisse Einfluss auf die pĂ€dagogische Unterrichtsgestaltung haben, wird von der Autorin kaum herausgearbeitet. SpĂ€testens an dieser Stelle wird die BrĂŒchigkeit des theoretischen Ausgangsmodells der Arbeit sichtbar: Unterricht ist fĂŒr Subjekte mehr als „Angebot“ und „Nutzung“ (15). Einen starken Einfluss auf die Praxisgestaltung dĂŒrften jedoch, wie von der Autorin hervorgehoben, subjektive Bedeutungszuschreibungen und strukturelle Rahmenbedingungen haben. Diese scheinen den Umgang mit ‚leistungsbezogener HeterogenitĂ€t‘ zu beeinflussen, weshalb eine stĂ€rkere VerschrĂ€nkung der quantitativen und qualitativen Daten fĂŒr weiterfĂŒhrende Erkenntnisse sicherlich gewinnbringend wĂ€re. Empfohlen sei die LektĂŒre insbesondere quantitativ arbeitenden Forscher/-innen und all jenen Interessierten und VerantwortungstrĂ€ger/-innen, die sich mit dem multiplen Methodeneinsatz an Gemeinschaftsschulen auseinandersetzen möchten.

[1] Die Langzeitstudie „Wissenschaftliche Begleitung Gemeinschaftsschule Baden-WĂŒrttemberg“ (WissGem), wurde zwischen 2013 und 2016 durchgefĂŒhrt.
[2] u.a. Lipowsky, F.; Lotz, M. (2015): Ist Individualisierung der Königsweg zum Lernen? Eine Auseinandersetzung mit Theorien, Konzepten und empirischen Befunden. In: Mehlkorn, G.; Schulz, F.; Schöppe, K. (Hrsg.): Begabungen entwickeln und KreativitĂ€t fördern (155-219). MĂŒnchen: Kopaed.
Nazime ÖztĂŒrk (Wien)
Zur Zitierweise der Rezension:
Nazime ÖztĂŒrk: Rezension von: Elisabeth, Hahn,: Umgang mit HeterogenitĂ€t an Gemeinschaftsschulen, Eine multimethodische Untersuchung zu OberflĂ€chen- und Tiefenstrukturen des Unterrichts Deutschland. MĂŒnster: Waxmann Verlag 2020. In: EWR 20 (2021), Nr. 1 (Veröffentlicht am 23.02.2021), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978383094128.html