EWR 10 (2011), Nr. 6 (November/Dezember)

Roland Mugerauer
Wider das Vergessen des sokratischen Nichtwissens
Der Bildungsbeitrag Platons und seine Marginalisierung bei Plotin, Augustin, Eckhart und Luther sowie im reformatorischen Schulwesen. Eine historisch-systematische Untersuchung zur Grundlegung eines sokratisch-skeptischen Bildungskonzeptes
Band I
Marburg: Tectum 2007
(548 S.; ISBN 978-3-8288-9343-6; 44,90 EUR)
Roland Mugerauer
Wider das Vergessen des sokratischen Nichtwissens
Der Bildungsbeitrag Platons und seine Marginalisierung bei Plotin, Augustin, Eckhart und Luther sowie im reformatorischen Schulwesen. Eine historisch-systematische Untersuchung zur Grundlegung eines sokratisch-skeptischen Bildungskonzeptes
Band II
Marburg: Tectum 2007
(782 S.; ISBN 978-3-8288-9344-3; 49,90 EUR)
Wider das Vergessen des sokratischen Nichtwissens Wider das Vergessen des sokratischen Nichtwissens Es ist unĂŒblich eine Rezension mit den letzten SĂ€tzen des zu rezensierenden Buches zu beginnen. Im Falle von Roland Mugerauers Schrift „Wider das Vergessen des sokratischen Nichtwissens“ sei aus pragmatischen GrĂŒnden eine Ausnahme gestattet: „Die bildungstheoretische wie bildungspraktische Valenz des sokratischen Nichtwissens als sokratisches Problemwissen ist im Verlauf der abendlĂ€ndischen Geschichte (weit gehend) neutralisiert worden und steht akut in der Gefahr vollends vergessen zu werden – zum Nachteil der Menschen und zum Schaden des Anliegens der Bildung. Dem herausfordernden Anliegen, die noch verbliebenen Chancen gegen das Vergessen zu wahren, sie bekannt zu machen und sie zu nutzen, ist diese Ausarbeitung gewidmet; ihm weiß sich ihr Autor verbunden“ (II, 304).

Das Programm der bereits im Jahre 2007 erschienenen Habilitationsschrift lĂ€sst sich kaum dichter und treffender beschreiben. Auf insgesamt 1340 Seiten verfolgt Mugerauer ein ambitioniertes Projekt: Das „sokratische Nichtwissen“ soll im Dienste bildungstheoretischer und -praktischer Aspirationen vor einem drohenden Vergessen errettet werden. Das setzt die ErzĂ€hlung einer Geschichte dieses Vergessens voraus, die sich u.a. in der Gliederung der Studie widerspiegelt: Ausgehend von der Explikation eines bildungstheoretischen Forschungsstandes (1.) konturiert Mugerauer zunĂ€chst seine Sicht auf Platons sokratisches Philosophieren (2.). Die hier zur Darstellung kommende Figur sokratischen Nichtwissens wird nachfolgend durch die Philosophien Plotins (3.), Augustins (4.), Eckharts (5.) und Luthers (6.) hindurch verfolgt, wobei im Prozess des angesprochenen, fortschreitenden „Vergessens“ schließlich nur ein „restsokratisches Moment“ identifizierbar bleibt, das jeweils als „Chance“ beschrieben wird. Besondere Aufmerksamkeit beansprucht die Auseinandersetzung mit Luther, fĂŒr die Mugerauer mit knapp 300 Seiten einen Großteil des zweiten Bandes veranschlagt.

FĂŒr eine erste AnnĂ€herung an Mugerauers umfangreiche Studie und die im Titel angesprochene Programmatik „Wider das Vergessen des sokratischen Nichtwissens“ können zwei Fragen als lose Heuristik dienen. Erstens: Was genau ist das fĂŒr ein Nichtwissen, vor dessen Vergessen gewarnt wird? Und zweitens: Warum wurde es vergessen?
Erstens: Welches Nichtwissen wurde vergessen? Eine große StĂ€rke von Mugerauers Studie liegt darin, dass viel Aufmerksamkeit investiert wird, um den Status sokratischen Nichtwissens in außerordentlicher Differenziertheit, Vielschichtigkeit und QuellennĂ€he zu analysieren. Der Hintergrund, vor dem dies geschieht, ist eine aktuelle und auch andernorts konstatierte „Krise des Bildungsbegriffes“ (I, 21). An die transzendentalkritisch-skeptische PĂ€dagogik im Allgemeinen und EinsĂ€tze Wolfgang Fischers und Jörg Ruhloffs im Besonderen anknĂŒpfend favorisiert Mugerauer eine Bildungsidee im Kontext „problematischen Vernunftgebrauches“ (I, 28), fĂŒr die unter dem Signum einer verĂ€nderten Antikerezeption historisch-systematische Anschlussmöglichkeiten erarbeitet werden sollen.

In der Konkurrenz unterschiedlicher Strömungen der Platonrezeption, die Mugerauer kursorisch nachzeichnet, sympathisiert er mit AnsĂ€tzen, die Platon „undogmatisch“ (I, 33) und als „sokratischen Problemdenker“ ernst nehmen, anstatt z.B. – von einer „ungeschriebenen Lehre“ ausgehend – systematisch-dogmatische Deutungen zu entwerfen (I, 53). Diese Entscheidung wird u.a. fĂŒr den Umgang mit Deutungspolyvalenzen oder den Stellenwert der DialogizitĂ€t in Platons Schriften zentral. Mugerauer unterstĂŒtzt die These, dass der Darstellungsform ein philosophisches Vermögen eignet (I, 35), welches jeden Aussagegehalt immer schon kontaminiert, gleichwohl aber nicht losgelöst von diesem bzw. im Lichte einer bestimmten PositionalitĂ€t zu betrachten sei (I, 86 / I, 98). So wird Platons Sokrates „als die Inkorporation des skeptisch-dialektischen Problemwissens“ (I, 37) beschrieben.

Dieses „Problemwissen“ (im Titel der Studie als „Nichtwissen“ bezeichnet) wird in Abgrenzung zu einem schlichten „Sachverhaltsbehauptungswissen“ (I, 67) als eigentlich „wissendes Nichtwissen“ (I, 67) vorgestellt. Um die schillernden QualitĂ€ten der Figur eines „wissenden Nichtwissens“ in ihrer KomplexitĂ€t (z.B. im Kontext von „Aporieerfahrungen“ (I, 105)) zu berĂŒcksichtigen, bedient sich Mugerauer einer spezifischen Bindestrichrhetorik: So ist von einem „sokratisch-atopische[n], aporetisch-epochetische[n] Problemerfahrungswissen“ (I, 37) die Rede. Alle deskriptiven BemĂŒhungen um die Konturierung eines „sokratischen Nichtwissens“, welches immanente Differenzen in Platons Sokratesdarstellung produktiv aufnimmt, bleiben dabei allerdings stets durch eine normative Annahme gerahmt: Es handelt sich um das „dem Menschen eigentlich angemessene und erreichbare Bildungswissen im Sinne sokratisch-skeptischer Gebildetheit“ (I, 37).

Zweitens: Warum wurde dieses wertvolle „Nichtwissen“ vergessen? Dass tatsĂ€chlich ein „Vergessen des sokratischen Nichtwissens“ stattfand bzw. stattfindet, dokumentiert sich fĂŒr Mugerauer in der „RandstĂ€ndigkeit“ (I, 19f) bzw. in „wirkungsgeschichtliche[n] Einseitigkeiten“ (I, 21) seiner aktuellen Rezeption. Mugerauer ordnet diesem defizitĂ€ren Zustand eine spezifische Verfallsgeschichte zu: Plotin, Augustin, Eckhart und Luther werden zu „wichtige[n] Stationen auf dem Weg der Marginalisierung“ (I, 19) eines Bildungsbeitrages Platons. Die Studie beansprucht ausgehend von einem „RĂŒckgang auf die UrsprĂŒnge“ (I, 30) einzelne Deformationen eines Sokrates-Platon retrospektiv sichtbar zu machen.

Schon bei Plotin ortet Mugerauer „eine entscheidende Verengung des Möglichkeitsraumes“ (I, 279) fĂŒr bildungsphilosophische Überlegungen. Nicht ein Sokrates Platons, sondern ein neuplatonistisch vereindeutigter Platon habe sich mit Plotin als historisch wirkmĂ€chtige Instanz durchgesetzt. Neben der „Absens der Sokratesgestalt“ (I, 246) bei Plotin kritisiert Mugerauer vor allem das Abschmelzen des sokratischen Problemwissens auf eine „schwundstufig-restresidual[e]“ Komponente, die lediglich fĂŒr das „höchstpositionale nichtwissende Wissen vom absolut transzendenten und schlechterdings reinen Einen“ (I, 247) reserviert bleibe. In Plotins „einheitsprinzipialistische[r] metaphysische[r]“ (I, 232ff) Interpretation des ‚Parmenides‘ gehe die sokratische Dimension einer logisch-aporetischen Betrachtung verloren, wodurch die Absolutsetzung „des reinen Einen“ (I, 233) zuallererst ermöglicht werde.

Bei Augustin setzt sich „die Ausschließungstendenz von Möglichkeiten sokratisch-problemerschlossenen Vernunftgebrauchs“ (I, 283) – so die These Mugerauers – weiter fort. WĂ€hrend Plotin hinsichtlich des Einen-Guten noch restsokratisches Nichtwissen zuließ, tendierten Augustins Gewissheitssuche und GlĂŒckssicherungsbestrebungen dazu, dieses komplett zu „exkludieren“ (I, 285). Skepsis gilt lediglich als Stadium, das ĂŒberwunden wird (I, 286). Damit komme es zu einer „Depotenzierung des „restsokratischen Moments“ durch den Primat der GlĂŒckssicherung“ (I, 300). Auch wenn der „Restsokratismus“ besonders beim spĂ€ten Augustin „zum Submikroskopischen“ hin tendiere, blieben gleichwohl (und hier liegt diesmal die Chance fĂŒr das sokratische Nichtwissen) SpielrĂ€ume fĂŒr eine partielle Wiederentdeckung (I, 301).

Eine solche partielle Wiederentdeckung stellt Mugerauer bei Eckhart fest, den er als „Mystiker mit stark skeptischen Einschlag“(I, 369) wertschĂ€tzt. Zwar werde bei Eckhart im Gegensatz zum Sokrates Platons primĂ€r appelliert, anstatt zu dialogisieren (vgl. I, 342); doch ein „restsokratisches Moment“ setze sich im Zweifel an der Möglichkeit eines „positionell-affirmative[n] Erkennen[s]“ durch: Es werde deutlich, dass „die TotalitĂ€t der Wirklichkeit, wie sich zu zeigen scheint, lediglich aporetisch denkend zu „bewĂ€ltigen“ ist“ (I, 365). Das Wiedererstarken eines „Restsokratismus“ bei Eckhart fĂŒhrt Mugerauer darauf zurĂŒck, dass mit Pseudo-Dionysius Areopagita ein Bezugshorizont ins Spiel komme, in dem sich der Neuplatonismus anders ĂŒberliefern konnte (vgl. I, 353). In Mugerauers Vergessens- oder Verfallsgeschichte des sokratischen Nichtwissens fĂŒgt sich Eckhart vor allem durch das biographische Ereignis seiner Verurteilung ein. In Folge des einmal laut gewordenen HĂ€resieverdachts sei das restsokratische Moment institutionell sanktioniert und ins Abseits gestellt worden.

Um die „Chancen sokratisch-problematischer Bildung“ (I, 337) bei Luther zu thematisieren, konzentriert sich Mugerauer schließlich auf „vier Hauptaspekte“ (II, 13): Zuerst steht Luthers Streben nach persönlicher Heilsgewissheit im Mittelpunkt, woraufhin festgestellt wird, dass die reformatorische Glaubensgewissheit sich nicht als „Gegenstand sokratischer Infragestellung“ (II, 49) prĂ€sentieren kann. In der darauf folgenden Auseinandersetzung mit dem VerhĂ€ltnis von Vernunft und Gotteswort wird dargelegt, dass „metaphysisch-praktische Bildung“ bei Luther im Gegensatz zu Sokrates nur als „Gottesgeschenk“ (II, 141) denkbar ist. Drittens wird das Thema „Bildung und Schule bei Luther“ bearbeitet, wobei die luthersche Inanspruchnahme von Lehrern und Erziehern als „cooperatores dei“ die Chancen „skeptisch-problematischer Bildung“ bei Luther begrenzt (II, 216). Viertens wird schließlich „Luthers Verteidigung der Heilsgewissheit gegen die SchwĂ€rmer“ (II, 219) thematisiert, um in ihrem Kontext nach Differenzen zur Konzeption von Bildung aus sokratischer Perspektive zu fragen. Mugerauer sieht bei Sokrates eine ergebnisoffene, menschliche AktivitĂ€t im Mittelpunkt, wĂ€hrend Bildung bei Luther ausschließlich als göttliches Geschenk reĂŒssiere (II, 287).

Damit endet Mugerauers philosophiegeschichtlicher „Staffellauf“ mehr oder weniger abrupt. Es folgt ein kurzes Schlusswort, das mit der Feststellung einsetzt, dass „ein Potential antiken Bildungsdenkens durch den RĂŒckgriff auf das platonische Dialogwerk“ nunmehr „wieder erschlossen“ wurde (II, 301). Ist dem zuzustimmen?

Mugerauer treibt in klarer Sprache eine stringente Argumentation voran. Die Studie ist nicht zuletzt deshalb gut lesbar, weil zahlreiche Zitationen und weiterfĂŒhrende Angaben in einen umfangreichen Anmerkungsteil verschoben wurden (was diese freilich nicht weniger lesenswert macht). Die Breite der inhaltlichen BezĂŒge sowie die Detailgenauigkeit der Auseinandersetzung mit den rezipierten Bezugsautoren ist ebenso bemerkenswert wie Mugerauers Anliegen, ĂŒber ganz unterschiedliche Stationen der Philosophiegeschichte hinweg ein und denselben Punkt zu fixieren: das sokratische Nichtwissen. Dabei besteht eine große Leistung der Arbeit darin, dieses pĂ€dagogisch anschlussfĂ€hig und unter kontinuierlichen BezĂŒgen auf Diskurse der Gegenwart auszubuchstabieren. Das geschieht in großer Geschlossenheit, doch genau dieser Umstand wirft auch Fragen auf:

Erstens: Mugerauers Entwurf eines sokratischen Nichtwissens bleibt eigentĂŒmlich apodiktisch. Es gibt eben ein „sokratisch-atopische[s], aporetisch-epochetische[s] Problemerfahrungswissen“ (I, 37) dem ein drohendes „Vergessen“ attestiert wird, und dem sich der Autor „verbunden“ (II, 304) fĂŒhlt. In dieser Bindung entwirft sich eine spezifische PositionalitĂ€t, die sich ungebrochen durch die Argumentation der gesamten Studie zieht. Es ist die Gewissheit des Wissens um das sokratische Nichtwissen, die nie in Frage steht und damit auch Mugerauers Sympathie fĂŒr Skepsis implizit zu unterlaufen droht. Die Schrift folgt dementsprechend auch keiner Forschungsfrage, sondern Ă€hnelt viel eher einer Apologie. In ihrem Bekenntnischarakter erfĂŒllt sie selbst alle Kriterien eines „Sachverhaltsbehauptungswissens“, gegen das Mugerauers PlĂ€doyer fĂŒr ein sokratisches Nichtwissen doch eigentlich zu opponieren beansprucht.

Ein zweiter Einwand knĂŒpft hier an: Als Verteidigungsschrift folgt die Studie einer bestimmten normativen Teleologie. UngeklĂ€rt bleibt dabei allerdings, auf welcher Basis ein sokratisch-skeptisches Problemwissen als die „hervorragend angemessene Art der Wirklichkeitsauffassung“ (I, 108) oder als „dem Menschen eigentlich angemessen“ (I, 37) identifiziert werden kann. Solche nie selbstverstĂ€ndlichen Setzungen sind nicht nur zentral fĂŒr Mugerauers Konzeption eines Bildungsbegriffs, sondern bilden den Hintergrund, vor dem Mugerauer die von ihm rezipierten philosophiegeschichtlichen EinsĂ€tze hierarchisiert: Plotin reicht nicht an Platon heran, und Augustin vermag „die volle Höhe des restsokratischen plotinischen Problemwissens“ (I, 285) nicht beizubehalten. Auch die Sicherheit und SouverĂ€nitĂ€t solcher Urteile wirkt gerade im Kontext der Thematisierung einer sokratischen Entsicherung normativen Wissens unter performativen Gesichtspunkten irritierend.

Fraglich erscheint drittens die LinearitĂ€t von Mugerauers (re-)konstruierter Verfallsgeschichte. -Neben einer nicht alternativlosen Auswahl der genannten Bezugsautoren und Zweifeln an deren Hierarchisierung drĂ€ngen sich Fragen nach dem Status der Sokratesfigur auf. Warum findet z.B. die antike Skepsis, die mitunter auch ohne Sokrates auskommt, keine prominentere ErwĂ€hnung? Inwiefern ist die analytische Figur eines spezifisch wissenden Nichtwissens ĂŒberhaupt auf die Figur des Sokrates angewiesen? Sind hier nicht auch ganz andere Narrationen möglich?
Vielleicht ist es kein Zufall, dass die „Ironie des Sokrates“ in der vorliegenden Studie nur randstĂ€ndig in den Blick gerĂ€t. Möglicherweise hĂ€tten ironische Öffnungen dem streng apologetischen Charakter der Studie letztlich auch unter systematischen Gesichtpunkten gut getan. In diesem Kontext sei auf die immer noch lesenswerte Dissertationsschrift Mugerauers hingewiesen, in der die Ironie durchaus BerĂŒcksichtigung findet und die gegenwĂ€rtig in der zweiten Auflage erscheint [1].

[1] Roland Mugerauer (2011): Sokratische PĂ€dagogik. Ein Beitrag zur Frage nach dem Proprium des platonisch-sokratischen Dialoges. Marburg: Tectum.
Jens Oliver KrĂŒger (Halle/Saale)
Zur Zitierweise der Rezension:
Jens Oliver KrĂŒger: Rezension von: Mugerauer, Roland: Wider das Vergessen des sokratischen Nichtwissens, Der Bildungsbeitrag Platons und seine Marginalisierung bei Plotin, Augustin, Eckhart und Luther sowie im reformatorischen Schulwesen. Eine historisch-systematische Untersuchung zur Grundlegung eines sokratisch-skeptischen Bildungskonzeptes Band I und II. Marburg: Tectum 2007. In: EWR 10 (2011), Nr. 6 (Veröffentlicht am 14.12.2011), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978382889343.html