EWR 9 (2010), Nr. 6 (November/Dezember)

Thomas Altfelix
Das PĂ€dagogische jenseits von Erfahrung und Denken
Ein erkenntnisethischer BegrĂŒndungsversuch im Sinne Franz Fischers
WĂŒrzburg: Königshausen & Neumann 2009
(388 S.; ISBN 978-3-8260-4068-9; 49,80 EUR)
Das PĂ€dagogische jenseits von Erfahrung und Denken Die Frage nach der BegrĂŒndung ist in der PĂ€dagogik unabweisbar, seit sie sich als eine Disziplin mit eigenen Problemstellungen und RationalitĂ€tsformen erkannt hat. Damit wird die Frage virulent, was es bedeutet, Geltung fĂŒr eine Aussage zu beanspruchen, und vor allem, auf welchem Grund dies geschieht. Der Anspruch des Titels, das PĂ€dagogische jenseits von Erfahrung und Denken zu suchen (zu begrĂŒnden?) macht neugierig, zumal vor dem Hintergrund der aktuellen Diskussionslage im Mainstream der Disziplin. Neugierig macht aber auch die Aussicht auf einen erkenntnisethischen BegrĂŒndungsversuch und die zu erwartende Auseinandersetzung mit dem frĂŒh verstorbenen, heute nur einem engeren Kreis von Fachleuten bekannten und kaum kritisch rezipierten Bildungsphilosophen Franz Fischer (1929-1970), dessen Denken von der Wiener Schule des Transzendentalen Idealismus seinen Ausgang nahm.

Thomas Altfelix – und darin liegt der AktualitĂ€tsbezug der von Wolfdietrich Schmied-Kowarzik (Kassel) approbierten Dissertationsschrift – liest die viel beschworene „Krise der Allgemeinen PĂ€dagogik“, sieht man von disziplin- und forschungspolitischen Interessenskonflikten ab, als eine erkenntnistheoretische (12). Er meint diese im Rekurs auf Franz Fischer beilegen zu können. Dieser habe eine Art des pĂ€dagogischen Denkens gepflegt, das als eine „dritte Auffassung von PĂ€dagogik als akademischer Disziplin“ die „Bestimmungsproblematik des PĂ€dagogischen und damit der PĂ€dagogik als Disziplin“ (13) lösen könne. Dies sei den heute dominanten erkenntnistheoretischen HauptstrĂ€ngen – der empirisch-analytischen Erziehungswissenschaft und der hermeneutisch-prinzipientheoretischen Bildungsphilosophie – nicht gelungen. Die radikale Umkehr des Problemzugangs liege in der Wendung von einem „Theorieprimat“, das den erziehungswissenschaftlichen und bildungsphilosophischen AnsĂ€tzen gemeinsam sei, (nicht etwa zu einem Praxisprimat, sondern) zu einem „PĂ€dagogikverstĂ€ndnis, das den Vorrang weder in der Theorie noch in der Praxis, sondern in der Wirklichkeit in ihrem unmittelbaren Geschehenssinn erblickt“ (13).

Die Ausgangsbeobachtung dĂŒrfte konsensfĂ€hig sein. Im gegenwĂ€rtigen VerstĂ€ndnis scheint die PĂ€dagogik / Erziehungswissenschaft ihren RĂŒckhalt entweder in der Erfahrung (Bildungsforschung) oder im Denken (Bildungsphilosophie) zu finden. Dass diese Alternative nicht mehr ĂŒberzeugt, belegen zahlreiche rezente ForschungsbemĂŒhungen [1]. Ob der Rekurs auf die Annahme eines „unmittelbaren Geschehenssinnes“ die offene BegrĂŒndungsproblematik löst – oder nicht bloß eine Regress-Stopp-Funktion hat – ist die Frage, die die LektĂŒre der Dissertation begleitet. Es gibt immerhin seit rund 30 Jahren einen anderen und von nicht wenigen beschrittenen „dritten Weg“, mit den fortgesetzten, aber (metaphysikfrei) nicht leistbaren BegrĂŒndungsbemĂŒhungen ein Ende zu machen und der paradoxen Lage, dass LetztbegrĂŒndungen nicht erbracht werden können, aber dennoch fortdauernd RechtmĂ€ĂŸigkeitsansprĂŒche erhoben werden, durch analytischen Aufweis des positionell metaphysischen Charakters von vermeintlich letztgĂŒltigen Antworten zu begegnen [2].

Thomas Altfelix hat im Anschluss an Franz Fischer allerdings einen ganz anders gearteten „dritten Weg“ im Auge, der „jenseits des zweifachen Dogmas“ (52) gesucht wird. Als zweifaches Dogma wird der Ausgang von dem sozialwissenschaftlichen Erfahrungsmoment (als gegenstandskonstitutivem Fachbegriff der empirischen Forschung) und dem philosophischen Denkmoment (als Grenzbegriff fĂŒr ein unabschließbares Nachdenken ĂŒber die Bedingungen der Möglichkeit pĂ€dagogischer Erkenntnis) (27) bezeichnet, bei ihm als „wissenschaftstheoretische“ und „wissenschaftsphilosophische“ Herangehensweise unterschieden. Die von Thomas Altfelix vorgeschlagene und mit Franz Fischer ausgearbeitete Alternative liegt in einem Perspektivenwechsel, „indem wir nicht wie bisher mit der Absicht einer Erkenntnisgewinnung ĂŒber die Theorie (Methode, Prinzip, Interpretation) beginnen, sondern stattdessen mit der Vollzugswirklichkeit des Geschehens als solchem, d.h. als dem (Erfahrungs-)Fremden gegenĂŒber der Empirie und dem Anderen (unseres Denkens) gegenĂŒber der Reflexion des Forschenden“ (65).

In einem einleitenden Problemaufriss zur „PĂ€dagogik und ihrem Forschungsgegenstand des PĂ€dagogischen“ (Kapitel 1) wird der pĂ€dagogische Ansatz jenseits des eben umrissenen zweifachen erkenntnistheoretischen Dogmas der PĂ€dagogik gesucht (52). Aus seiner Problematisierung der Grundlagen der PĂ€dagogik folgert der Autor, eine solche PĂ€dagogik habe drei grundlegende Charakteristika fĂŒr ihren eigenen Forschungsgegenstand. Sie mĂŒsse ihren Ursprung in einer sinnbestimmten Wirklichkeit haben – der dazu notwendige Wirklichkeitsbegriff sei aber in den gegenwĂ€rtigen Diskursen der PĂ€dagogik nicht (mehr) prĂ€sent. Sie mĂŒsse sich als eine Disziplin des PĂ€dagogischen am Allgemeinen begreifen, die ihren Forschungsgegenstand nicht nur als ein mittelbar (Vor-)Gegebenes, sondern primĂ€r als ihre unmittelbare Voraussetzung versteht – das gegenwĂ€rtige DisziplinverstĂ€ndnis gehe jedoch nur von einem theoretisch immer schon vermittelten Gegenstand aus. Und sie mĂŒsse drittens zu einem SprachverstĂ€ndnis finden, das das PĂ€dagogische ebenso in der Voraussetzung der von der Disziplin thematisierten Begriffe anerkenne und nicht erst im Gefolge ihrer Begriffsanalyse (82). Eine PĂ€dagogik, die diese Kriterien erfĂŒlle, sei die bildungskategoriale Bildungsphilosophie von Franz Fischer.

Da Franz Fischer wesentliche Impulse aus der von Robert Reininger gegrĂŒndeten „Wiener Schule des Transzendentalen Idealismus“ erfahren hat, ist es naheliegend, dass in den nĂ€chsten Kapiteln die erkenntniskritischen Grundlagen jener Denkschule rekonstruiert werden. Das zweite Kapitel bietet eine – historisch wie systematisch- spannende EinfĂŒhrung in die von Robert Reininger inaugurierte „Wiener Schule des Transzendentalen Idealismus“, die sich in besonderer Weise mit der Wirklichkeitsproblematik auseinander gesetzt hat und insofern als post-neukantianische Transzendentalphilosophie unter BerĂŒcksichtigung neopositivistischer Elemente charakterisiert werden kann.

Kapitel 3 stellt die erkenntnistheoretischen Grundfragen dieser „Schule“ dar: die Frage nach der Beschaffenheit von Wirklichkeit (Ursprung von Erkenntnis), die Frage nach den Wissensformen des Philosophischen und des Wissenschaftlichen (Gewinnung von Erkenntnis) und die Frage nach ihrer sprachlichen Vermittelbarkeit (Kommunikation von Erkenntnis) (150). Das gedankliche Durchmessen dieser drei erkenntnistheoretischen Fragen ist notwendig, um einerseits die Eckpfeiler des Ansatzes von Franz Fischer zu verstehen, aber auch, um seine Überwindung der von Reininger (und Heintel) gefundenen Antworten wĂŒrdigen zu können (Kapitel 4). So fĂŒhrt ihn die Frage nach dem Erkenntnisursprung zur Thematik des Sinns (162ff) und zum ErgrĂŒnden der Art der Diskrepanz zwischen Theorie und Wirklichkeit [3], des „Zusammenspiels philosophischer Vernunfterkenntnis und wissenschaftlicher Erfahrungserkenntnis“ (171), von ihm als die „Theorie des Sinnes von Sinn“ bezeichnet.

Die zweite Hauptfrage gilt der Erkenntnisermittlung (Kapitel 5). Fischer hat, wie Altfelix referiert, schon frĂŒh in seinem Philosophiestudium in der Kategorisierung von wissenschaftlicher Erfahrungserkenntnis und philosophischer Vernunfterkenntnis einen fehlerhaften Fundamentalismus erkannt, denn Erfahrung und Denken seien schon „von ihrer BegrĂŒndung her dialektisch so miteinander verschrĂ€nkt, dass sie sich in ihrer gegenseitigen Begrenzung zu einer ihnen gemeinsamen Voraussetzung aufheben“ (182f). Diese Voraussetzung begreife Fischer als einen in unserem Erkennen stets enthaltenen und insofern unser Wissen und Handeln bestimmenden „praktisch-positiven Sinn von Wirklichkeit“ (183). Daher auch die Rede von Erkenntnisethik (statt von Erkenntniskritik), denn die Grenzen der Erkenntnis stellten sich nicht aus dieser heraus, sondern von Seiten der Wirklichkeit her: Wir mĂŒssen, referiert der Autor Franz Fischer, „unsere Theorien und die dazu gehörige Praxis nach dem Anspruch der uns in Situationen begegnenden Wirklichkeit ausrichten“ (190).

Die dritte Hauptfrage zielt auf die Erkenntnisvermittlung, die Beziehung zwischen Sprache und Wirklichkeit. Thomas Altfelix fĂŒhrt daher in Kapitel 6 in die Sprachphilosophie von Franz Fischer ein. Auch Sprache unterliege derselben Voraussetzungsproblematik, auch sie werde durch einen vorausgesetzten Sinn bestimmt. D.h. sie erhalte die Sinnbestimmung nicht durch die IntentionalitĂ€t des Sprachsubjektes, sondern „in der Wirklichkeit des ‚Du‘ als deren Adressat“ (17).

Im siebenten Kapitel endlich werden die GrundzĂŒge der PĂ€dagogik Franz Fischers vorgestellt, „das pĂ€dagogische Gewissen als Wirklichkeitssinn von Du“, „die Bildungstheorie als Ermittlungssinn von Du“ und „das pĂ€dagogische SprachverstĂ€ndnis“. Das achte Kapitel schließlich trĂ€gt die „Grundlagen einer PĂ€dagogikkonzeption im Sinne Franz Fischers“, d.h. „die pĂ€dagogisch relevanten Ergebnisse der vorliegenden Arbeit programmatisch zusammen“ (17) und zeigt die „Anwendbarkeit der PĂ€dagogik Franz Fischers“ (331ff) anhand eines situationspĂ€dagogischen Beispiels auf.

Eine knappe Rezension kann weder der vielschichtigen und detailreichen Rekonstruktion der Denktradition, aus der Franz Fischer kommt, gerecht werden, noch sein Anliegen, Neopositivismus und Transzendentalphilosophie in neuartiger Weise zu einer „philosophisch begrĂŒndeten und praktisch angewandten Sinntheorie der praktisch-ethischen Wirklichkeitsentsprechung“ (15) zusammen zu fĂŒhren, angemessen wĂŒrdigen. Als Verdienst von Thomas Altfelix muss festgehalten werden, dass er einen Strang der Grundlagendebatte um die Bedingungen und Grenzen des Wissens wieder aufnimmt, der in der Wissenschaftsgeschichte der zweiten HĂ€lfte des 20. Jahrhunderts verschĂŒttet wurde. Das PĂ€dagogikverstĂ€ndnis von Franz Fischer ruht auf einer grĂŒndlichen Auseinandersetzung mit Erkenntnistheorie auf und wendet sich aus einer wissenschaftsphilosophischen – nicht weltanschaulichen – Grundhaltung der Sinnfrage als erkenntnisethischer Voraussetzung erziehungswissenschaftlichen und bildungsphilosophischen Wissens zu (14). Die sorgfĂ€ltige Rekonstruktion des Fischer’schen Denkens verdient alle Anerkennung.

Die ausschließlich affirmative Rezeption lĂ€sst allerdings die „dritte Position“ von Franz Fischer zu einer zeitlosen GĂŒltigkeit [4] erstarren, die wohl auch den philosophischen Anspruch Fischers unterbietet. Wenn von Franz Fischer als „unabgegoltener Herausforderung fĂŒr die bildungstheoretische Diskussion“ [5] gesprochen wird, dann ist diese Herausforderung anzunehmen. Dann aber ist es geboten, mit den Schriften von Franz Fischer genau so umzugehen, wie dieser es mit seinen Lehrern und Vordenkern gemacht hat, nĂ€mlich mit der gebotenen reflexiven Distanz, prĂŒfend, weiter denkend. [6] Darin drĂŒckt sich nicht minder die Anerkennung eines Denkers aus, bzw. das ist geradezu die in der Wissenschaft passende Form der Anerkennung. Mit Apologetik, wie sie Thomas Altfelix vor allem im letzten Teil seines Buches praktiziert (vgl. insbes. 300 ff) ist dem Interesse, Franz Fischer fĂŒr den gegenwĂ€rtigen pĂ€dagogischen Diskurs zu gewinnen und fruchtbar zu machen, wenig gedient. Ungeachtet dieses Einwands kann die BeschĂ€ftigung vor allem mit dem philosophischen Denken von Franz Fischer und mit der – mittlerweile verkĂŒmmernden – Wiener Tradition des Transzendentalen Idealismus sehr zur LektĂŒre empfohlen werden. Man kann die Arbeit von Thomas Altfelix auch in kritischer Distanz als vielfĂ€ltige Anregung lesen.

[1] Vgl. u.a. Pongratz, Ludwig / Wimmer, Michael / Nieke, Wolfgang (Hrsg.): Bildungsphilosophie und Bildungsforschung., Bielefeld: Janus 2006

[2] Vgl. u.a. Fischer, Wolfgang: Unterwegs zu einer skeptisch-transzendental-kritischen PĂ€dagogik. Sankt Augustin: Academia 1989

[3] Vgl. dazu heute SchÀfer, Alfred: Die Erfindung des PÀdagogischen. Paderborn: Schöningh 2009

[4] Vgl. Gatzemann, Thomas (2001): Die gescheiterte „Revolution der Denkungsart“ - Triumph und Tragik der zeitlos gĂŒltigen „dritten Position“ Franz Fischers. In: Nieke, W. / Masschelein, J. / Ruhloff, J. (Hrsg.): Bildung in der Zeit. Zeitlichkeit und Zukunft - pĂ€dagogisch kontrovers. Weinheim und Basel: Beltz 2001, 87-114

[5] So Schmied-Kowarzik nach Gatzemann, ebd., 87

[6] Man kann bei aller WertschĂ€tzung von Franz Fischer auch ĂŒber ihn hinaus denken. So z.B. Dietrich Benner (Allgemeine PĂ€dagogik, 42001, 269, Fußnote: „Auch wenn sich F. Fischers Hoffnung, eine in sich geschlossene Ordnung von Bildungskategorien und ein System der Wissenschaften entwickeln zu können, nicht erfĂŒllt hat, stellt seine Theorie der Bildungskategorien doch ein anspruchsvolles Konzept zur AufspĂŒrung und Kritik hypostasierender und reduktionistischer Interpretationen wissenschaftlicher Aussagesysteme bereit, in dem sich Hinweise zu allen von mir unterschiedenen Ebenen einer bildungstheoretischen Didaktik und Interpretation neuzeitlicher Wissenschaft finden“).
Ines Maria Breinbauer (Wien)
Zur Zitierweise der Rezension:
Ines Maria Breinbauer: Rezension von: Altfelix, Thomas: Das PĂ€dagogische jenseits von Erfahrung und Denken, Ein erkenntnisethischer BegrĂŒndungsversuch im Sinne Franz Fischers. WĂŒrzburg: Königshausen & Neumann 2009. In: EWR 9 (2010), Nr. 6 (Veröffentlicht am 08.12.2010), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978382604068.html