EWR 17 (2018), Nr. 4 (Juli/August)

Anja Hackbarth
Inklusion und Exklusion in Schülerinteraktionen
Empirische Rekonstruktionen in jahrgangsübergreifenden Lerngruppen an einer Förderschule und an einer inklusiven Grundschule
Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2017
(166 S.; ISBN 978-3-7815-2187-2; 39,00 EUR)
Inklusion und Exklusion in Schülerinteraktionen Inklusion ist aktuell sowohl in der Bildungsforschung sowie in weiteren öffentlichen Diskursen ein sehr präsentes Thema. Da jahrgangsübergreifendes Lernen häufig als ein Weg gesehen wird, Inklusion in Schulen zu ermöglichen, widmet sich Anja Hackbarth in ihrer Dissertation diesem Verhältnis. Sie untersucht die Thematik dabei aus einer rekonstruktiven Perspektive und verfolgt das Ziel, Handlungspraktiken und Orientierungen von Schülerinnen und Schülern in inklusiven und exklusiven Schulformen hinsichtlich der Konstruktionen von Inklusion und Exklusion in spontan emergierenden Interaktionen während der Aufgabenbearbeitung herauszuarbeiten. Diese werden dann normativen Erwartungen an Inklusion und Jahrgangsmischung bezüglich der förderlichen Wirkung von Schülerinnen- und Schülerinteraktionen gegenübergestellt und diskutiert.

Nachdem die Autorin in der Einleitung den Forschungsgegenstand einführt, sowie das Ziel und Vorgehen ihrer Dissertation beschreibt, beginnt sie in Kapitel 2 zunächst verschiedene Definitionen von Inklusion einander gegenüber zu stellen und reflektiert die Thematik hinsichtlich des Kerns der Menschenrechtskonvention und deren Umsetzung (16ff). Sie arbeitet dabei heraus, dass die starke Orientierung an Inklusionsquoten und das Ignorieren von gegenwärtig existierenden schulischen Strukturen auf Seiten der Bildungspolitik einen Paradigmenwechsel im Sinne der Inklusion verhindert (21). Anschließend gibt sie einen Überblick über relevante Forschungsliteratur zum Inklusionsdiskurs und legt den Fokus auf Forschungen, die Inklusion und Exklusion ebenfalls rekonstruktiv bearbeiten. Sie hebt in dieser Zusammenschau hervor, dass schulische Inklusion strukturell sehr unterschiedlich umgesetzt wird, sodass vorhandene Studien nur schwer miteinander vergleichbar sind. Insbesondere verweist sie in diesem Zuge darauf, dass Schülerinnen und Schüler noch stärker als bisher als Akteurinnen und Akteure in der Forschung mitberücksichtigt werden sollten (21ff). Bezüglich der Verbindung der Konzepte Inklusion und Jahrgangsmischung reflektiert sie kritisch, dass häufig allein durch die Organisationsform des jahrgangsgemischten Unterrichts u.a. für inklusiven Unterricht positive Wirkungen wie z.B. individuell angepasste Lerngelegenheiten, die Minimierung von Diskriminierung und die Maximierung von Teilhabe erwartet werden, jedoch diesbezüglich bislang keine einheitlichen Forschungsergebnisse vorliegen (32ff).

Nachdem im zweiten Kapitel der Diskurs bezüglich Inklusion und Jahrgangsmischung vorgestellt wurde, rückt in Kapitel 3 das Lernen in Schülerinteraktionen in den Fokus ihrer Auseinandersetzungen. Hierfür stellt Hackbarth theoretische Grundlagen und empirisch relevante Erkenntnisse bezüglich der Ansätze zu ‚Gegenseitiger Hilfe‘, zum ‚Kooperativen Lernen‘, zur ‚Schülerkooperation‘ sowie zum ‚Erklären‘ auf, mit denen im jahrgangsgemischtem Unterricht häufig lernförderliche Erwartungen verknüpft sind (39ff). Sie stellt in diesem Zusammenhang auch das der Arbeit zu Grunde liegende Verständnis von Lernen als sozial konstituierten Prozess dar (46ff). Auf der Grundlage des Forschungsstandes zu Schülerinnen- und Schülerinteraktionen in jahrgangsübergreifendem Unterricht zeigt sie daraus ableitend auf, dass die Handlungspraktiken, Orientierungen und Interaktionen der Schülerinnen und Schüler bedeutsamer für eine lernförderliche Wirkung sind, als die Organisationsform der Jahrgangsmischung an sich (51).

In Kapitel 4 erläutert Hackbarth methodologische Grundlagen ihrer Untersuchung. Ihr rekonstruktives Vorgehen begründet sich auf der Basis der praxeologischen Wissenssoziologie von Karl Mannheim, die in der Dokumentarischen Methode ihre Anwendung findet (53). Um die gerade für Grundschulkinder typischen körperlich-räumlichen Bezüge in Form von Gesten und Handlungen mit in die Analysen einzubinden, wurde die Erhebung auf eine videografierte Datenerhebung in Anlehnung an das von Matthias Martens et al. [1] vorgeschlagene Design ausgerichtet, welches von der Autorin für diese Studie zugleich weiterentwickelt wurde (13, 63ff) und in Kapitel 5 genauer darstellt und kritisch reflektiert wird. Die Videoaufnahmen stammen aus dem alltäglichen Unterricht zweier jahrgangsübergreifend unterrichtenden Schulen – einer Förderschule und einer inklusiven Grundschule (64f). Hackbarth beschreibt, dass ihre Analysen dabei auf spontan emergierende Schülerinteraktionen während der Aufgabenbearbeitung fokussieren und nicht auf methodisch strukturierte kooperative Lehr-Lernsituationen (10, 64).

Anschließend verknüpft sie in Kapitel 6 die Analysen der Interaktionen sowie Handlungen mit den Typen, die sich daraus bilden lassen. In den spontan emergierenden, aufgabenbezogenen Schülerinteraktionen beider Schulformen rekonstruiert Hackbarth zunächst „eine Orientierung an dem Erfüllen der Erwartungen, die an bzw. über schulische Aufgaben gestellt werden“ (81). Diese Orientierung, die sich v.a. darauf bezieht, richtige Ergebnisse zu (re)produzieren, benennt sie als Basistypik der „Aufgabenerledigung“. Hinsichtlich der Art dieser Schülerinteraktionen, lässt sich diese Basistypik wiederum in drei spezifischere Typen unterteilen: Ko-Konstruktion (etwas „Neues“ entsteht durch wechselseitiges Ergänzen), Instruktion (Anweisung von Ergebnissen und Handlungen) und Konkurrenz (Aufgabe wird zur Nebensache und Aushandlungen finden auf peer-bezogener Ebene statt) (81ff). Diese unterscheiden sich hinsichtlich der Differenzkonstruktionen (symmetrisch bzw. asymmetrisch), der Positionierung (gleichberechtigt, hierarchisierend bzw. dynamisch) sowie der Teilhabemöglichkeiten der Schülerinnen und Schüler an Interaktionen (Inklusion bzw. Exklusion) (137ff). Den Typ der ,Ko-Konstruktion‘, der von einer symmetrischen Differenzkonstruktion zwischen Können und Nicht-Können, einer gleichberechtigten Positionierung und Inklusion geprägt ist, konnte Hackbarth nur in jahrgangsgleichen Gruppen wiederfinden (81, 101, 139). In Schülerinteraktionen, in denen zwischen den Schülerinnen und Schülern eine asymmetrische Differenzkonstruktion zwischen Können und Nicht-Können besteht, positionieren sich die Akteurinnen und Akteure entweder im Typ ,Instruktion‘ hierarchisierend (115), was zu Exklusion führt, oder im Typ ,Konkurrenz‘ dynamisch, in dem sie über ihre Positionierung verhandeln und somit auf der peer-bezogenen Ebene Inklusion zu finden ist (137). Den Typ der ,Instruktion‘ konnte Hackbarth v.a. in jahrgangsgemischten Gruppenkonstellationen bzw. bei Unterschieden in den (nicht-)sonderpädagogischen Förderbedarfen finden und entsprechend Exklusionen rekonstruieren (139). Hingegen findet sich der Typ ,Konkurrenz‘ nur in jahrgangsgleichen Gruppenkonstellationen und in Abwesenheit der Lehrkraft wieder (137). Inklusionen – als Handlungspraxis – beschreibt Hackbarth auf der Basis ihrer empirischen Daten demnach als gleichberechtigte Teilhabemöglichkeiten, Exklusionen im Gegensatz dazu als ungleiche Teilhabemöglichkeiten (138)

Im letzten Kapitel reflektiert Hackbarth die Ergebnisse zusammenfassend. Unter anderem rekonstruiert sie in den von ihr betrachteten Situationen, dass eine strukturelle Weiterfokussierung auf Jahrgänge in jahrgangsübergreifenden Klassen zur Folge hat, dass sich jene jahrgangsgebundenen Differenzmarkierungen auf der Ebene der Handlungspraktiken weiter fortsetzen und Exklusionsrisiken für benachteiligte Schülerinnen und Schüler erhalten bleiben (142). In Bezug auf das „Helfen“ als spezifische Praktik konnte sie herausarbeiten, dass ein gegenseitiges „Helfen“ (Ko-Konstruktion) lernförderlich sein kann, ein einseitiges „Helfen“ (Instruktion) hingegen hierarchische Strukturen schafft, was im Sinne der Aufgabenerledigung zwar hilfreich ist, jedoch eben nicht Diskriminierung minimiert und Teilhabe ermöglicht (143). Weiterhin grenzt Hackbarth sich in diesem Sinne von Natascha Naujok [2] und Götz Krummheuer [3] ab, indem sie nicht jede aufgabenbezogene Schülerinteraktion per se als Kooperation bezeichnet, sondern den von ihr differenzierten Typ der ‚Instruktion‘ eher als „Nicht-Kooperation“ versteht (144). Ebenso verweist sie darauf, dass empirisch nicht nachzuweisen war, dass die Organisationsform des jahrgangsübergreifenden Lernens allein inklusive Handlungspraktiken erzeugen kann, wenn gleichzeitig die Leistungsnormen erhalten bleiben (147).

Positiv hervorzuheben ist, dass Hackbarth sich auch kritisch mit der eigenen Untersuchung auseinandersetzt, indem sie deren Grenzen aufzeigt – z.B., dass in anderen Schulen auch noch weitere Typen gefunden werden könnten, da in diesen andere Erfahrungsräume existieren (149). Weiterhin können zwar aufgrund der empirischen Befunde Rückschlüsse aus aufgabenbezogenen Schülerinteraktionen gezogen werden, nicht aber beispielsweise aus anderen Kontexten wie etwa Interaktionen zwischen Lehrkräften und Schülerinnen und Schülern (149). Ein von ihr nicht weiter differenzierter Aspekt, dass ihre Untersuchung lediglich spontane Schülerinteraktionen fokussiert, lässt jedoch die Frage stellen, welche Befunde sich ergeben, wenn Schülerinnen und Schüler unterschiedlicher Jahrgänge bewusst an einer gleichen Aufgabe arbeiten.

Insgesamt konnte Hackbarth in ihrer Studie aufzeigen, dass zwischen der pädagogischen Zielsetzung der Jahrgangsmischung im Zusammenhang mit Inklusion und der alltäglichen Unterrichtsumsetzung Diskrepanzen existieren, die durch rekonstruktive Forschung sichtbar gemacht werden konnten. Dies stellt einen hilfreichen Beitrag für die Reflexion der gegenwärtigen Umsetzung von inklusivem Unterricht sowie für die Selbstreflexion von Lehrpersonen bezüglich des eigenen Handelns dar. Weiterhin können so, unabhängig von politisch und pädagogisch geführten Diskussionen um inklusiven Unterricht, die Ursachen und Konstellationen dieser Diskrepanzen aufgedeckt werden. Die Autorin leistet hierfür mit ihrer Forschung einen bedeutenden Beitrag im Bereich des Inklusiven Unterrichts, die auch als Grundlage für weitere empirische Arbeiten dienen kann.

[1] Martens, M., Petersen, D. / Asbrand, B. (2015). Die Materialität von Lernkultur. Methodische Überlegungen zur dokumentarischen Analyse von Unterrichtsvideografien. In R. Bohnsack, B. Fritzsche & M. Wagner-Willi (Hrsg.), Dokumentarische Video- und Filminterpretation (2. Aufl., S. 179–206). Opladen: Barbara Budrich.

[2] Naujok, N. (2000). Schülerkooperation im Rahmen von Wochenplanunterricht. Weinheim: Beltz.

[3] Krummheuer, G. (2007). Kooperatives Lernen im Mathematikunterricht der Grundschule. In K. Rabenstein & S. Reh (Hrsg.), Kooperatives und selbstständiges Arbeiten von Schülern (S. 61–86). Wiesbaden: Springer VS.
Rachel-Ann Friesen und Peter Ludes-Adamy (Dresden)
Zur Zitierweise der Rezension:
Rachel-Ann Friesen und Peter Ludes-Adamy: Rezension von: Anja, Hackbarth,: Inklusion und Exklusion in Schülerinteraktionen, Empirische Rekonstruktionen in jahrgangsübergreifenden Lerngruppen an einer Förderschule und an einer inklusiven Grundschule. Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2017. In: EWR 17 (2018), Nr. 4 (Veröffentlicht am 30.08.2018), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978378152187.html