EWR 6 (2007), Nr. 1 (Januar/Februar 2007)

Christian Liesen
Gleichheit als ethisch-normatives Problem der SonderpÀdagogik
Dargestellt am Beispiel "Integration"
Bad Heilbrunn: Verlag Klinkhardt 2006
(247 S.; ISBN 978-3-7815-1489-7; 32,00 EUR)
Gleichheit als ethisch-normatives Problem der SonderpĂ€dagogik Seit mehreren Jahren lĂ€sst sich eine wachsende BeschĂ€ftigung der SonderpĂ€dagogik mit Fragen der BegrĂŒndung ihrer LegitimitĂ€t und des Einsatzes fĂŒr behinderte Menschen beobachten. Mit diesem Interesse verbindet sich inzwischen der Anspruch, eine eigene ethisch-normative Kompetenz hinsichtlich SelbstverstĂ€ndnis und klientenorientiertem Handeln zu besitzen. Christian Liesen macht es sich in seinem Buch Gleichheit als ethisch-normatives Problem zur Aufgabe, die vorherrschenden Rechtfertigungsstrategien der SonderpĂ€dagogik am Beispiel des Integrationsgedankens zu beleuchten. Anhand der Konzeption von John Rawls’ Gerechtigkeit als Fairness im Verbund mit Amartya Sens FĂ€higkeitenansatz (capability approach) diskutiert er, inwiefern dem universalen Standpunkt der Gerechtigkeit in der sonderpĂ€dagogischen Ethik mehr Raum gegeben werden kann. Seine Veröffentlichung wurde bereits im Wintersemester 2003/2004 von der Philosophischen FakultĂ€t der UniversitĂ€t ZĂŒrich als Dissertation angenommen.

Der Autor versteht sein Buch als Resultat interdisziplinĂ€rer Forschung zwischen Philosophie und SonderpĂ€dagogik. In seinem Einleitungskapitel formuliert er den kritischen Befund, dass die SonderpĂ€dagogik an einem Rechtfertigungs- bzw. BegrĂŒndungsdefizit leide: „Das Problem der SonderpĂ€dagogik, um das es im Kern geht, ist die Rechtfertigung sonderpĂ€dagogischen Handelns.“ (11) Der SonderpĂ€dagogik sei es bislang nicht gelungen, ihr Handeln wohlerwogen von einem unparteilichen und universalen Standpunkt aus ethisch-normativ zu rechtfertigen. Dem Begriff Integration könne sie dadurch auch keine Geltung, sondern allenfalls suggestive Kraft verleihen. Liesen beginnt sein Buch nicht mit einer vergleichenden Darstellung von Gerechtigkeitstheorien, sondern wĂ€hlt einen analytischen Zugang zur Gleichheitsidee, um geeignete Instrumente bereitzustellen, mit denen er das Problem der Rechtfertigung sonderpĂ€dagogischen Handelns im weiteren Verlauf behandelt.

Liesens zentraler Gedanke lautet, dass Theorien, die sich mit sozialer Gerechtigkeit befassen, auf irgendeinem Gebiet Gleichheit fordern mĂŒssen, um ĂŒberhaupt PlausibilitĂ€t zu besitzen. Gleichheit misst er dabei keinen intrinsischen Wert zu. Sie besitzt instrumentellen Wert, d.h. sie bedarf handlungsleitender normativer Regeln, die darĂŒber bestimmen, was zu tun ist. Eine Gerechtigkeitstheorie, so Liesen, muss die Frage beantworten, welche normativen Regeln als Vergleichsmaßstab dienen sollen. Gleichheit steht hier fĂŒr ein SpannungsverhĂ€ltnis zwischen ethisch-normativem Partikularismus und mit Gerechtigkeit verbundenen Postulaten wie Unparteilichkeit, Universalisierbarkeit und der Notwendigkeit relationaler ErwĂ€gungen bei der Verteilung von GĂŒtern. Mit Gleichheit und Gerechtigkeit wird auf die Bedeutung einer sozialethischen Dimension sonderpĂ€dagogischen Handelns hingewiesen.

Im Anschluss daran widmet sich der Autor einer ausfĂŒhrlichen Explikation des Inte-grationsbegriffs. Auf dieser Grundlage setzt er sich mit der Frage auseinander, was es mit dem normativen Problem der Rechtfertigung von Integration, im Zusammenhang mit Gleichheitsaspekten, auf sich hat. Er untersucht Rechtfertigungsstrategien in der SonderpĂ€dagogik, die auf einem zentralen Handlungsprinzip oder Ideal – Chancengleichheit, SolidaritĂ€t, Grundrechte, Menschenrechte und MenschenwĂŒrde – basieren. Integrationsvertreter in der SonderpĂ€dagogik werden scharf kritisiert, die mit diesen Prinzipien als Grund fĂŒr integrative Praxis argumentieren. Sie können seines Erachtens nicht benennen, inwiefern diese Prinzipien fĂŒr Integration handlungsleitende Geltung besitzen.

Auf einer weiteren Stufe möglicher Rechtfertigung sonderpĂ€dagogischen Handelns beschĂ€ftigt sich Liesen mit einzelnen theorietragenden normativen Bestandteilen sonderpĂ€dagogischer Theorien: anthropologische Fundierung (Georg Feuser, Wolfgang Jantzen), Dialektik von Gleichheit und Verschiedenheit (Annedore Prengel), Empowerment (Wolfgang Plaute, Georg Theunissen) und kantischen Argumentationen (Schönberger). Der Materialistischen BehindertenpĂ€dagogik, der PĂ€dagogik der Vielfalt, dem Empowerment-Konzept und dem Entwurf einer Kooperativen PĂ€dagogik fehle es entweder an geeigneten BrĂŒckenprinzipien zur Verbindung von normativer Grundlage und handlungsleitenden Regeln, oder sie vernachlĂ€ssigten den universalistischen Gesichtspunkt der Gerechtigkeit zugunsten parteilicher partikularer Normen. Die normativen Bestandteile könnten jeweils auch das Gegenteil von Integration, nĂ€mlich Separation, geboten erscheinen lassen.

In einem abschließenden Durchgang werden mit Dieter Gröschkes Praktische Ethik der HeilpĂ€dagogik (1993) und Markus Dederichs Behinderung-Medizin-Ethik (2000) zwei prominente Beispiele aus dem Bereich der sonderpĂ€dagogischen Ethik diskutiert. Gröschke wird vorgeworfen, dass er den „moral point of view“ als parteilichen charakterisiert und nicht Prinzipien mit universaler Geltungskraft zur BegrĂŒndung der eigenen Forderungen wĂ€hlt. Dederichs sonderpĂ€dagogische Ethik zeichnet sich fĂŒr Liesen insofern aus, als dieser der SonderpĂ€dagogik einen Platz in den grĂ¶ĂŸeren argumentativen ZusammenhĂ€ngen ethischer Diskussion zuweist. Er vermag sich jedoch nicht mit dessen Rekurs auf LĂ©vinas anzufreunden und spricht in diesem Zusammenhang von „mysteriöser Lehre“. FĂŒr völlig falsch hĂ€lt er u.a. Dederichs Gedanken, dass die Verwirklichung einer universal verstandenen Gerechtigkeit an die Begegnung und die Beziehung mit dem konkreten Anderen zurĂŒckgebunden werden und von dort immer wieder ihren Ausgang nehmen muss.

Liesen möchte die normativ-ethische Parteilichkeit und PartikularitĂ€t der SonderpĂ€dagogik anhand von Überlegungen zur Theorie der Gerechtigkeit von John Rawls und dem „capability approach“ von Amartya Sen aufheben. Mit Sen geht es ihm darum, eine feiner nuancierte Konzeption von Gleichheit zu entwickeln, als sie sich in Rawls‘ Gerechtigkeitstheorie findet. Rawls‘ Theorie sei mit ihrer Orientierung an der Gleichheit der GrundgĂŒter nicht genĂŒgend sensibel gegenĂŒber den Belangen behinderter Menschen. Sein Differenzprinzip könne auch in einer Version Ausdruck finden, wonach nicht nur die ökonomisch am schlechtesten gestellten Gesellschaftsmitglieder bei Umverteilungen zu berĂŒcksichtigen sind, sondern auch jene, deren Raum positiver oder realer Freiheiten am geringsten ist oder so gering ist, dass sie nicht als vollwertige Mitglieder am sozialen und politischen Leben teilhaben können.

Der „capabilitiy approach“ zeichnet sich fĂŒr Liesen dadurch aus, dass er bei der Frage nach distributiver Gleichheit nicht nur GrundgĂŒter, sondern auch Grundvermögen berĂŒcksichtigt. Sen fragt danach, was GĂŒter Menschen ermöglichen und welche Alternativen sich fĂŒr sie aus dem Gebrauch von GĂŒtern eröffnen. Dabei geht er von dem Parameter „FĂ€higkeiten“ fĂŒr die Bewertung von Wohlergehen und LebensqualitĂ€t aus und versteht darunter das Vermögen von Menschen, fĂŒr ihr Leben wertvolle Funktionen und TĂ€tigkeiten zu realisieren. Rawls‘ Theorie der GrundgĂŒter erlaubt dagegen nur dann eine Bewertung der Gleichverteilung von Vorteilen, wenn Menschen keine Differenzen hinsichtlich ihrer Lebensmöglichkeiten aufwiesen. Ein behinderter Mensch, so Sen, braucht ein höheres Einkommen oder grĂ¶ĂŸere Ressourcen, um die Möglichkeit zu erlangen, sein Leben entsprechend dem eines nicht behinderten Menschen zu fĂŒhren.

An Liesens Buch kann die SonderpĂ€dagogik aus mehreren GrĂŒnden nicht vorbei sehen. Zum einen kommt ihm der Verdienst zu, die in der SonderpĂ€dagogik nach wie vor vernachlĂ€ssigte BeschĂ€ftigung mit Gerechtigkeitsfragen in anspruchsvoller Weise weiterzufĂŒhren, zum anderen vermag er eine Diskussion darĂŒber anzustoßen, ob oder inwieweit dem Integrationsgedanken mit der Berufung auf FĂ€higkeiten, Kompetenzen bzw. KapazitĂ€ten öffentlich mehr Nachdruck verliehen werden kann. Seine Bezugnahme auf den "capability approach" soll deutlich machen, dass es zuallererst um die gezielte Förderung von behinderten Menschen gehen muss, damit sie ĂŒber ihre individuelle Lebensgestaltung selbst befinden können. Allerdings setzt sich Liesen nicht ausreichend damit auseinander, inwieweit Sens Begriff der „FĂ€higkeiten“ an zu anspruchsvolle Bedingungen geknĂŒpft ist und damit die Gefahr einhergeht, Individuen mit sehr schweren Behinderungen abzuwerten. Auch bleibt er den Beweis noch schuldig, ob es damit tatsĂ€chlich besser gelingen kann, eine ausreichende BegrĂŒndung fĂŒr die heutige Inklusionsbewegung zu erbringen.

Liesen legt sich darauf fest, „Standards von Gerechtigkeitstheorien am roten Faden der Rede von Gleichheit zu diskutieren“ und von dort aus sonderpĂ€dagogische Ethiken zu kritisieren. Moderne Gesellschaften können jedoch nicht nur an der Verletzung eines allgemeingĂŒltigen Gleichheitsprinzips scheitern. Es lassen sich auch soziale Pathologien feststellen, d.h. Praktiken mangelnder Anerkennung, die die Lebensmöglichkeiten der Menschen einschrĂ€nken oder deformieren. Nur am Rand wird die Frage erörtert, ob Gleichheit auf ein ĂŒbergeordnetes Prinzip der Anerkennung bezogen sein kann, das sich im Unterschied zur Gleichheit in erweiterten gesellschaftlichen SphĂ€ren konkretisiert: In persönlichen Beziehungen ist es mit einer bestimmten Einstellung des Respekts und der Verantwortung gegenĂŒber der personalen IntegritĂ€t anderer verbunden. Im Bereich des Rechts drĂŒckt es sich im GewĂ€hren von individuellen Freiheitsrechten, politischen Teilnahmerechten und sozialen Wohlfahrtsrechten aus. Im zivilgesellschaftlichen Bereich besteht es darin, den Menschen gesellschaftliche WertschĂ€tzung in Form von Verantwortung und SolidaritĂ€t zukommen zu lassen. Integration wird um so eher den Erwartungen der Öffentlichkeit gerecht, je stĂ€rker der Einzelne in diesen unterschiedlichen AnerkennungsverhĂ€ltnissen berĂŒcksichtigt wird. Auch wenn der Autor diesen Gedanken zu wenig verfolgt, ist seinem vorzĂŒglichen Buch eine große Leserschaft zu wĂŒnschen.
Hans-Uwe Rösner (Trier)
Zur Zitierweise der Rezension:
Hans-Uwe Rösner: Rezension von: Liesen, Christian: Gleichheit als ethisch-normatives Problem der SonderpĂ€dagogik, Dargestellt am Beispiel "Integration". Bad Heilbrunn: Verlag Klinkhardt 2006. In: EWR 6 (2007), Nr. 1 (Veröffentlicht am 30.01.2007), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978378151489.html