EWR 20 (2021), Nr. 2 (März/April)

Christina Gericke
Wissenspolitik der Vernetzung
Zur Politik der Partnerschaft von Schule und Wirtschaft
Weinheim Basel: Beltz 2020
(257 S.; ISBN 978-3-7799-6198-7; 39,95 EUR)
Wissenspolitik der Vernetzung Die Verflechtung von Wirtschaft und Bildungssystem wird heute mit zunehmender Intensität sowohl international als auch national diskutiert. Unternehmen und wirtschaftsnahe Akteure, die auf das Bildungssystem Einfluss nehmen – sei es durch kostenlos bereitgestellte Unterrichtsmaterialien, digitale Lernplattformen, die notwendige Hardwareausstattung oder durch umfangreiche Beratungs- und Netzwerktätigkeit – geraten im Zuge dieser Diskussion vermehrt in die Kritik. Die sich mittlerweile im globalen Maßstab und in der digital vernetzten Welt festsetzenden Ökonomisierungstendenzen finden sich auch im nationalen Kontext, wobei empirische Studien, die zugleich theoretisch fundierte Deutungsangebote bereitstellen, hierzu Mangelware sind. Die Neue politische Ökonomie der Schule – so der Name der von Thomas Höhne herausgegebenen Reihe, in der auch die hier besprochene Publikation erschienen ist – macht es sich zur Aufgabe, die ökonomische Logik von Kommodifizierung, Wettbewerb und Individualisierung im komplexen Zusammenspiel von staatlichen und nicht-staatlichen Akteuren auch empirisch zu erfassen und in ihrer Reichweite zu erschließen. Im Rahmen dieser Diskussion ist das Buch Wissenspolitik der Vernetzung. Zur Politik von Partnerschaft von Schule und Wirtschaft von Christina Gericke zu verorten, das sich dem grundlegenden Fragenkomplex widmet, was in Partnerschaften zwischen Wirtschaft und Schule passiert, wie Schule und Wirtschaft zueinander in ein Verhältnis gesetzt werden, was Gegenstände der Partnerschaft sind und wie Interessenskonflikte in den Partnerschaften bearbeitet werden [16].

Dabei basiert die Publikation auf der Dissertation der Autorin, was sich konsequenterweise auch im Aufbau der Arbeit widerspiegelt. In fünf Kapiteln werden (1) Annäherungen an Forschungsfeld und -gegenstand unternommen, (2) theoretische und methodische Ausgangspunkte skizziert, (3) der empirische Fall eines nicht-staatlichen bildungspolitischen Akteurs rekonstruiert und diskutiert, (4) die Narrative, die ebendieser Akteur erzeugt erneut in den Blick genommen und (5) eine Problematisierung und Diskussion von Zugang und Ergebnissen der Studien unternommen. Ein umfangreiches Quellenverzeichnis ermöglicht den individuellen Nachvollzug der empirischen Analyse und ein Literaturverzeichnis schließt den Band ab. Mit knapp 100 Seiten Umfang ist die Analyse des Falls der weitaus umfassendste Teil, wobei die Diskussion, die zugleich als Fazit fungiert, kurz bleibt, aber präzise ist.

Die Arbeit startet nach Vorüberlegungen mit einer historischen Auseinandersetzung zum Thema Bildung als Staatsaufgabe, die wohl weniger als historische Rekonstruktion, denn als eine systematische Überlegung zur staatlichen Funktion eines öffentlichen Bildungssystems zu verstehen ist, da die bewegte Geschichte des Bildungssystems in Deutschland nur skizziert wird. Historisch wird die Weimarer Republik beinahe völlig und die Zeit des Nationalsozialismus vollständig ausgeblendet; ein Schwerpunkt der historischen Überlegungen liegt auf den verschiedenen Reformphasen nach dem Zweiten Weltkrieg bis hin zu aktuellen Entwicklungen. Bereits aus diesen ersten Überlegungen vermag Gericke mit Bezug auf Pierre Bourdieu erste Rückschlüsse zu ziehen: Bei den „hier dargelegten Entwicklungslinien im bildungspolitischen Feld [handelt es sich, S.E.] um ein[en] zur Paradoxie neigenden Nomos, in dem schulische Bildung weder ausschließlich einem Selbstzweck noch Fremdanforderungen zugeordnet ist.“ (38) Diese erste orientierende Überlegung findet sich auch im Forschungsstand, den Gericke im Anschluss skizziert, um so darauf aufmerksam zu machen, dass macht- und differenzierungstheoretische Studien hier einen Beitrag zur Erweiterung des Wissens in diesem Feld leisten könnten. Folgerichtig schließt die Erarbeitung einer ebensolchen theoretischen Perspektive an, die mit Bezug auf feldtheoretische – vornehmlich die von Pierre Bourdieu –, diskurstheoretische – in besonderer Weise die Michel Foucaults – und schließlich erzähltheoretische Überlegungen – von White hin zu Mieke und Bal – einen eigenständigen Zugang zu umreißen vermag. Der Fokus liegt darauf, wie Geschichten zu Geschichten werden und wie sie erzählt werden, was eine innovative Auseinandersetzung mit dem Fragenkomplex eröffnet, die den empirischen Hauptbestandteil der Arbeit ausmacht. Angeleitet durch die theoretische Rahmung kann Gericke das Handeln des Akteurs SchuleWirtschaft nachzeichnen und verorten. Die feldtheoretische Analyse des umfangreichen Materialkorpus zeigt, dass das Netzwerk schon seit geraumer Zeit – so Gericke – die „Anpassung des schulischen Feldes an die Strukturen des wirtschaftlichen Feldes“ [173] betreibt und dessen Logik folgt. Daher werden die Befunde zum Material von Gericke als Ausweise einer Etablierung von neoliberaler Herrschaft durch den Akteur selbst ausgewiesen und dahingehend interpretiert. Als Akteur in intermediärer Position, so Gericke, schafft das Netzwerk SchuleWirtschaft es, die vermeintlich getrennten Logiken der Felder zu durchbrechen und zu verschieben. Auf diese Art werden vormals abgeschlossene Sinnzusammenhänge geöffnet und neue Grenzen gezogen, die letztlich das gesamte Bildungssystem auf lange Sicht verändern. Gericke fasst zusammen: „Befürchtet werden muss, dass Partnerschaften und Kooperationen mit Unternehmen neben komplexen Transformationsprozessen innerhalb der Einzelschulen und der verschiedenen Schulformen disparate Selektionsprozesse […] auf der Ebene des gesamten Schulwesens forcieren und regionale Unterschiede größer werden.“ [232] Die durch das Netzwerk vorangetriebene Entgrenzungsarbeit mitsamt der Hybridisierung von Feldlogiken wird im abschließenden Teil der Arbeit deutlich negativ bewertet, wobei die Arbeit selbst über weite Strecken auch Ambivalenz und Widersprüchlichkeit wahrnimmt und thematisiert.

Abschließend kann festgehalten werden, dass die Publikation von Christina Gericke einen relevanten und weiterführenden Beitrag zur Diskussion von Ökonomisierungsprozessen im Bildungssystem darstellt. Die einzelnen Teile der Arbeit unterscheiden sich dabei in ihrer Güte durchaus voneinander. Insbesondere der anschaulich und systematisch schlüssig aufgearbeitete Fall des Netzwerks SchuleWirtschaft ermöglicht einen Einblick in die Handlungslogiken nicht-staatlicher bildungspolitischer Akteure; die Annäherungen und auch die theoretischen und methodischen Ausgangspunkte fallen in der Stringenz und Leser*innenführung hinter diesen zurück. An vielen Stellen im Text finden sich zudem Fragmente, die offenbar während der Überarbeitung nicht entdeckt wurden. Ungeachtet dieser Kritik eröffnet Christiana Gerickes Arbeit eine wichtige Diskussion, sie schließt das Thema nicht ab, sondern lädt zur Reibung an der dargebotenen Perspektive ein. So könnte die Reichweite der theoretischen Überlegungen, die auf den letzten Seiten angestellt werden, erneut geprüft werden. Wie beispielsweise „Variationen des Scheiterns und Akzeptanzschwierigkeiten […] auf der Ebene der pädagogischen Praxis empirisch [zu, S.E.] erfassen und zu analysieren“ wären oder warum Schule „begrifflich neu zu fassen und zu vergegenwärtigen“ (233) sei, ist argumentativ noch klarer zu begründen, was als Aufgabe für weitere Arbeiten in diesem Feld von Gericke eindrücklich ausgewiesen wird. Argumente für eine theoretische Schärfung der eigenen Optik zur Betrachtung der Ökonomisierung liefert Gericke mit ihrer innovativen und anspruchsvollen Arbeit einige, die es weiterzudenken gilt.
Sebastian Engelmann (Karlsruhe)
Zur Zitierweise der Rezension:
Sebastian Engelmann: Rezension von: Gericke, Christina: Wissenspolitik der Vernetzung, Zur Politik der Partnerschaft von Schule und Wirtschaft. Weinheim Basel: Beltz 2020. In: EWR 20 (2021), Nr. 2 (Veröffentlicht am 28.04.2021), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978377996198.html