EWR 18 (2019), Nr. 5 (November/Dezember)

Gerd E. SchÀfer
Bildung durch Beteiligung
Zur Praxis und Theorie frĂŒhkindlicher Bildung
Weinheim u.a.: Beltz Juventa 2019
(356 Seiten; ISBN 978-3-7799-3976-4; 24,95 EUR)
Bildung durch Beteiligung Klar formulierte Objekttheorien sind in der PĂ€dagogik der frĂŒhen Kindheit ein eher seltenes PhĂ€nomen. Im gegenwĂ€rtigen Publikationsaufkommen der erziehungswissenschaftlichen Subdisziplin verschwinden sie fast schon vor dem Hintergrund zahlreicher empirischer Studien einerseits und der meist rekonstruktiven Erkundungen verschiedener Kindbilder und Kindheiten andererseits. Es scheint, als ob pĂ€dagogische Fragestellungen (d.h. nicht bloß pĂ€dagogisch relevante) den Forscher*innen Unbehagen bereiten. Zumindest lĂ€sst sich konstatieren, dass gegenwĂ€rtig kaum jemand in Veröffentlichungen der Subdisziplin untersucht, welche Substanz eigentlich den Grundbegriffen frĂŒher Erziehung, Bildung und Betreuung in kindheitspĂ€dagogischen Kontexten zukommt.

In dieser Situation ist ein Buch zur Theorie frĂŒhkindlicher Bildung fĂŒr den Rezensenten regelrecht wohltuend. Gerd E. SchĂ€fer, der in diesem Themenfeld bereits einschlĂ€gige Werke veröffentlicht hat [1], rahmt seine nun vorgelegte Monografie mit einer das Buch durchziehenden Klammer zwischen den Begriffen Bildung und Beteiligung. Mithin nimmt er dabei nicht nur auf Theorie, sondern auch auf die Praxis frĂŒhkindlicher Bildung Bezug – und dies geschieht zugleich auf mehreren Ebenen: Erstens hat er die prĂ€sentierten Gedanken mit in der Profession tĂ€tigen FachkrĂ€ften diskutiert und insofern ein StĂŒck weit empirisch fundiert – er nennt dies „dialogische Empirie“ (S. 13). Zweitens legt er nicht nur eine im Vergleich zu seinen frĂŒheren Schriften erweiterte und stĂ€rker integrierte Theorie dazu vor, was frĂŒhe Bildung ist, sondern in Teilen auch eine stĂ€rkere Programmatik dazu, wie sie stattfinden und didaktisch gerahmt werden sollte. Diese Verbindung zwischen theoretischen und pragmatischen ArbeitsansĂ€tzen – der „theoriebasierte[n] wissenschaftliche[n] Neugier“ einerseits und den „VorschlĂ€ge[n] fĂŒr konkretes Handeln“ (S. 13) anderseits – fĂŒhrt notwendig zu zwei im Buch verschrĂ€nkten Ebenen. Dies ist zwar nicht gĂ€nzlich unĂŒblich, da insbesondere die frĂŒhpĂ€dagogischen Klassiker*innen – allen voran die Texte Fröbels und Montessoris – auf diese Weise fĂŒr die Disziplin (meist als Theorien) und fĂŒr die Profession (meist als Handlungskonzepte) zugleich fungieren. Allerdings hat sich die Erziehungswissenschaft mit Blick auf Arbeitsteilung und verschiedene WissenschaftsverstĂ€ndnisse insbesondere in der Erforschung und Entwicklung von Theorie(n) inzwischen so weit ausdifferenziert, dass SchĂ€fers Buch in seiner Doppelfunktion ein StĂŒck weit unzeitgemĂ€ĂŸ erscheint.

Das Werk gliedert sich in fĂŒnf Teile: I. „Grundlegungen“, II. „Dokumentationen, Beschreibungen, Reflexionen“, III. „Didaktik in der frĂŒhen Kindheit“, IV. „Aus Erfahrung lernen“, V. „Bildung zwischen Natur und Gesellschaft“. In Teil I werden nicht nur SchĂ€fers VerstĂ€ndnisse der Begriffe Erziehung, Bildung, Lernen und sein Bild vom Kind geklĂ€rt. Vielmehr werden auch in der FrĂŒhpĂ€dagogik insgesamt bisweilen eher seltener genutzte Begriffe bzw. Grundformeln vorgestellt, darunter: Beteiligung, gemeinsam geteilte Erfahrung, Resonanz, Anregung und Herausforderung und Kultur des Lernens. Zudem enthĂ€lt dieser Teil des Buches eine spannende biografische Skizze, die verstĂ€ndlich macht, dass, warum und wie SchĂ€fer v.a. empirische, phĂ€nomenologische, psychoanalytische, aber auch im weiteren Sinne kognitions- und sozialwissenschaftliche ZugĂ€nge fĂŒr die Entwicklung seiner Bildungstheorie nutzt. Teil II des Buches umfasst drei zum Teil mit Bildern dokumentierte, phĂ€nomennahe Beschreibungen frĂŒhkindlichen Lernens und liefert zugleich pĂ€dagogisch-didaktische Analysen dieser Beschreibungen („Jarne und die Linsen“, „Wasserprojekt“, „Melvin sĂ€gt“, S. 92-122). SchĂ€fer zeigt dabei u.a., wie Erfahrungen zur Sprache gebracht werden und welches Fundament sie fĂŒr die weitere Bildungsentwicklung von Kindern darstellen. Da schon im frĂŒhen Erfahrungslernen die Beteiligung der Kinder an der sie umgebenden Kultur notwendig ist, wendet sich SchĂ€fer in Teil III der Didaktik zu. ZunĂ€chst skizziert er dabei Elemente einer „Partizipatorischen Didaktik“, die im weiteren Verlauf des Buches wiederholt aufgegriffen wird, und stellt anschließend mit dem Hamburger Raumgestaltungskonzept und einem erweiterten Blick auf Werkstattarbeit dar, wie eine solche Didaktik gestaltet werden kann. Teil IV des Buches vertieft die zuvor bereits eingefĂŒhrten begrifflichen Unterscheidungen zwischen Bildung und Lernen, indem beide Begriffe weiter systematisch voneinander abgegrenzt und in ihren praktisch dennoch vorfindbaren Überschneidungen differenziert werden. SchĂ€fer macht dabei u.a. unter Bezugnahme auf phĂ€nomenologische, aber auch naturwissenschaftliche Erkenntnisse das Konzept des Erfahrungslernens stark, das im Ergebnis eine „Kultur des Lernens“ erfordere, in der Kinder und Erwachsene bestenfalls „in einem gemeinsamen Explorationsprozess“ (S. 274) miteinander umgehen. In Teil V wechselt SchĂ€fer die Perspektive noch einmal von der Didaktik hin zur interdisziplinĂ€ren Rezeption von Erkenntnissen zur Entwicklung kindlichen Denkens, die er zwischen verschiedenen anthropologischen Disziplinen weit aufspannt, und durch die er v.a. pĂ€dagogisch relevante Fragen zur Ontogenese des Kindes neu stellt. Eine zentrale Bedeutung kommt dabei der Kritik des Dualismus‘ von Körper und Geist zu, der SchĂ€fer die zu jedem Zeitpunkt im Leben eines Kindes bereits bestehende und sich stĂ€ndig verĂ€ndernde „kulturelle Natur“ (S. 278) des Menschen gegenĂŒberstellt. Das kindliche Lernen sei demnach nicht körperlich oder geistig, sondern in verschiedenen Facetten immer schon beides bzw. schlichtweg ein integriertes. Zudem skizziert SchĂ€fer mögliche ZugĂ€nge zu einer Sozioanalyse der frĂŒhen Kindheit. Eine Zusammenfassung schließt das Buch ab.

Die Monografie reiht sich ein [2] in die jĂŒngsten, wenngleich noch recht vereinzelten Bestrebungen, die (Grund-)Begriffe, mit denen in der PĂ€dagogik der frĂŒhen Kindheit nicht selten weitgehend ungeprĂŒft operiert wird, zu klĂ€ren und zu systematisieren. SchĂ€fer legt mit seiner Theorie frĂŒher Bildung ein klares Werk von starker integrativer Kraft mit Blick auf interdisziplinĂ€re, pĂ€dagogisch relevante Erkenntnisse vor. Etwas schade ist aus Sicht des Rezensenten, dass SchĂ€fer die theoretischen und pragmatischen ArbeitsansĂ€tze vermengt, denn an manchen Stellen lassen sich so nur etwas mĂŒhsam deskriptiv-analytische und normativ-praxisoptimierende Argumente auseinanderhalten. Es mag sein, dass sein Buch so recht unmittelbar in die Profession hineinwirken kann. FĂŒr die die wissenschaftliche Disziplin der PĂ€dagogik der frĂŒhen Kindheit könnte dies die Weiterverarbeitung der Ideen jedoch erschweren, da die Theorie von einer gewissen NormativitĂ€t der Praxisoptimierung begleitet wird, wenngleich SchĂ€fer gerade diese an einigen Stellen des Buches mit Blick auf andere Theorien kritisch diskutiert (so etwa mit Blick auf Ludwig Liegles Erziehungsbegriff: S. 63). Insbesondere in der von SchĂ€fer skizzierten Partizipatorischen Didaktik zeigt sich deutlich der auf eine VerĂ€nderung der Praxis abzielende Charakter des Werkes, wobei die AusfĂŒhrungen dann doch zum Teil recht vage bleiben. So erfahren insbesondere die pĂ€dagogischen FachkrĂ€fte ihre Arbeit als „Inszenierung und Gestaltung einer Kultur des Lernens“ (S. 171) oder im Spiel mit dem Kind als „gemeinsamen Explorationsprozess“ (S. 274). Welche konkreten pĂ€dagogischen Handlungsformen eine solche ‚Inszenierung‘ ausmachen könnten, bleibt jedoch weitgehend den Leser*innen ĂŒberlassen. Ob es sich hier also tatsĂ€chlich um eine Didaktik handelt – von der man relativ klare Aussagen ĂŒber das ‚Was‘ und das ‚Wie‘ der erzieherischen Vermittlung erwarten wĂŒrde, wĂ€re weiter zu diskutieren. In jedem Fall ist sie stark konstruktivistisch angelegt und fokussiert vorrangig auf das Kind als lernendes Subjekt. DarĂŒber hinaus hĂ€tte eine Einbindung der frĂŒhen Stufen des Lernens, die Klaus Prange – ebenfalls phĂ€nomenologisch – in seinem Werk zur „Zeigestruktur der Erziehung“ [3] herausgearbeitet hat, SchĂ€fers Theorie eine argumentative StĂŒtze auch aus dem Kontext der Allgemeinen PĂ€dagogik geben können – hier zeigen sich jedenfalls deutliche Parallelen.

Bei aller Kritik, die man dem Rezensenten auch als in der Gesamtschau kleinliche Bemerkungen vorwerfen kann: Es bleibt auf eine umfangreiche Rezeption des Buches von SchĂ€fer zu hoffen, denn die grundlagentheoretischen Gedanken, allen voran die Darstellung der Entwicklung frĂŒher Kognition und des anfĂ€nglichen Lernens kleiner Kinder erscheinen Ă€ußerst gewinnbringend mit Blick auf AufklĂ€rung ĂŒber die frĂŒhesten kindlichen Bildungsprozesse. Da die fĂŒnf Teile des Buches in insgesamt 14 Kapitel gegliedert sind, die einen recht Ă€hnlichen Umfang haben und systematisch aufeinander aufbauen, eignet sich das Werk zudem auch fĂŒr LektĂŒreseminare zur Vertiefung und Diskussion der SchĂ€fer’schen Bildungstheorie in kindheitspĂ€dagogischen bzw. erziehungswissenschaftlichen StudiengĂ€ngen. Schlussendlich ist neben der gelieferten Systematik von Bildung und Lernen auch die Klarheit herauszuheben, mit der SchĂ€fer insbesondere seine phĂ€nomenologischen und zugleich interdisziplinĂ€r abgesicherten Beschreibungen frĂŒhkindlicher Bildungsprozesse hervorbringt. Die kĂŒnftige Auseinandersetzung mit Theorie(n) in der PĂ€dagogik der frĂŒhen Kindheit kommt an SchĂ€fers Monografie jedenfalls nicht vorbei.

[1] Vgl. insbesondere: SchĂ€fer, G.E.: Bildungsprozesse im Kindesalter. Weinheim u.a.: Juventa 1995; SchĂ€fer, G.E.: Bildung beginnt mit der Geburt. Berlin: Cornelsen 2011; SchĂ€fer, G.E.: Was ist frĂŒhkindliche Bildung. Weinheim u.a.: Beltz Juventa 2014.
[2] Wehner, U.: FrĂŒhkindliche Erziehung. In: Dietrich, C. / Stenger, U. / Stieve, C. (Hg.): Theoretische ZugĂ€nge zur PĂ€dagogik der frĂŒhen Kindheit. Eine kritische Vergewisserung. Weinheim u.a.: Beltz Juventa 2019, S. 435-450; Sauerbrey, U.: Öffentliche Kleinkindererziehung. Eine Theorie. Weinheim u.a.: Beltz Juventa 2018; Piper, S.: KindheitspĂ€dagogik auf dem PrĂŒfstand. Umrisse einer allgemeinen Theorie frĂŒhkindlicher Erziehung und Bildung. Wiesbaden: Springer VS 2018; Drieschner, E.: Bildung als Selbstgestaltung des Lebenslaufs. Zur Funktion von Erziehung und Bildung. Berlin: Logos 2017; Liegle, L.: BeziehungspĂ€dagogik. Erziehung, Lehren und Lernen als Beziehungspraxis. Stuttgart: Kohlhammer 2017.
[3] Prange, K.: Die Zeigestruktur der Erziehung. Grundriss der Operativen PÀdagogik. Paderborn: Schöningh 2012, S. 81ff.
Ulf Sauerbrey (Erfurt)
Zur Zitierweise der Rezension:
Ulf Sauerbrey: Rezension von: SchĂ€fer, Gerd E.: Bildung durch Beteiligung, Zur Praxis und Theorie frĂŒhkindlicher Bildung. Weinheim u.a.: Beltz Juventa 2019. In: EWR 18 (2019), Nr. 5 (Veröffentlicht am 18.12.2019), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978377993976.html