EWR 17 (2018), Nr. 4 (Juli/August)

Roland Reichenbach/Patrick BĂŒhler (Hrsg.)
Fragmente zu einer pÀdagogischen Theorie der Schule
Erziehungswissenschaftliche Perspektiven auf eine Leerstelle
Weinheim, Basel: Beltz Juventa 2017
(224 S.; ISBN 978-3-7799-3746-3; 24,95 EUR)
Fragmente zu einer pĂ€dagogischen Theorie der Schule Klassische, soziologische Schultheorien, die vor allem die gesellschaftlichen Funktionen von Schule zu bestimmen versuchen, werden hĂ€ufig dafĂŒr kritisiert, dass sie die SchĂŒlerinnen und SchĂŒler als Individuen, ihre Bildung, Entfaltung oder Autonomie ignorieren. Der Sammelband von Roland Reichenbach und Patrick BĂŒhler, der auf ein Kolloquium an der UniversitĂ€t ZĂŒrich mit dem Titel „Elemente zu einer pĂ€dagogischen Theorie der Schule“ zurĂŒckgeht, stellt dementsprechend fest, dass es eine spezifisch pĂ€dagogische Theorie der Schule nicht gebe, und möchte diese „Leerstelle“ schließen. Dazu dienen ihm vor allem BeitrĂ€ge mit theoretischen und theoretisch-historischen, weniger mit gesellschaftlich-sozialwissenschaftlichen Perspektiven.

Der Sammelband setzt sich mit diesem Anliegen zunĂ€chst die Aufgabe zu definieren, was eigentlich eine pĂ€dagogische Schultheorie im Unterschied zu anderen Schultheorien ist. Hierauf liefert er in den verschiedenen BeitrĂ€gen verschiedene Antworten: So lautet bspw. Terharts Antwort mit Verweis auf Bohl, Harant und Wacker (2015), dass eine pĂ€dagogische Schultheorie die Autonomie der SchĂŒlerinnen und SchĂŒler in den Vordergrund stelle. Er spitzt dies zu der These zu, dass unter dem Gesichtspunkt einer pĂ€dagogischen Schultheorie Schule dann erfolgreich sei, „wenn sich SchĂŒler im Durchlauf durch die Schule von der Schule frei machen können“ (49, H. i. O.). Grunder rĂŒckt in seinem Beitrag hingegen den Bildungsbegriff ins Zentrum einer pĂ€dagogischen Schultheorie. Im Zuge seiner Erörterungen zum Begriff der Bildung konzentriert er sich vor allem auf Holzkamps Lerntheorie. Dessen expansives Lernen – also selbstzweckhaftes Lernen mit dem Ziel, den Gegenstand zu erfassen – will Grunder als Bildung verstanden wissen. FĂŒr eine pĂ€dagogische Schultheorie sei dann entscheidend, Schule als Ort zu verstehen, an dem eben jenes expansive Lernen ermöglicht wird.

Das Unternehmen, Perspektiven fĂŒr eine pĂ€dagogische Schultheorie zu entwickeln, wird im Sammelband, und das ist als positiv hervorzuheben, nicht unreflektiert verfolgt. Stattdessen finden sich mehrere kritische EinwĂ€nde, die infrage stellen, ob es ĂŒberhaupt eine pĂ€dagogische Schultheorie geben kann. So weist Terhart in seinem Beitrag darauf hin, dass bei pĂ€dagogischen Schultheorien die Gefahr bestehe, die Möglichkeiten von Schule zu ĂŒberschĂ€tzen und den pĂ€dagogischen Anspruch so absolut zu setzen, dass er nie erreicht werden kann. Criblez positioniert sich ebenfalls kritisch und hĂ€lt eine pĂ€dagogische Schultheorie fĂŒr einen „Widerspruch in sich selbst“ (77). Eine pĂ€dagogische Schultheorie, die er im Zusammenhang mit Schulkritik und Schulreform betrachtet, vergesse, dass Schule eine öffentlich-rechtliche und demokratisch fundierte Einrichtung sei. Es sei daher zu kurz gegriffen, Schule ausschließlich unter pĂ€dagogischen Gesichtspunkten zu betrachten. Letztlich werde es immer einen Widerspruch geben zwischen einerseits der an Rechtsgleichheit orientierten Institution, die „gar nie allen Individuen gleich gerecht werden“ (84) kann, und andererseits dem Streben nach bestmöglichen institutionellen Bedingungen, die eine Individualisierung ermöglichen.

Eine noch einmal etwas anders gelagerte, weiterfĂŒhrende Perspektive dazu entwickelt Reichenbach: In seinem Beitrag zum Lernen im Kollektiv vertritt er die Auffassung, die Entwicklung des Gemeinsinns sei Teil des pĂ€dagogischen Wesens der Schule. Dies liegt eher quer zu einem VerstĂ€ndnis, das das Individuum ins Zentrum des PĂ€dagogischen rĂŒckt. Reichenbach argumentiert, dass die ĂŒblicherweise positiv angesehene Entwicklung einer eigenen Meinung oder einer eigenen Welt, also „die Idee des starken Subjekts“ (199), eher in „Erfahrungen des Weltverlustes“ (199) mĂŒnde. Vor allem mit Arendt vertritt er die Auffassung, erst das Vorhandensein Anderer konstruiere unsere Welt und RealitĂ€t. Pointiert formuliert: Schule fĂŒhrt „den Menschen aus den Katakomben der psychischen Einsamkeit“ (200). Daher liege das pĂ€dagogische Wesen der Schule „in der Herstellung des gemeinsamen Bezugs auf eine Sache“ (204, H. i. O.). Reichenbach fĂŒhrt in seiner Argumentation auch den Begriff des Gemeinsinns ins Feld, den er mit Kant vor allem als die FĂ€higkeit versteht, eigenstĂ€ndig zu denken und die Perspektiven anderer einzunehmen. Damit kommt Reichenbach zu der These, dass Schule durch ein Lernen im Kollektiv genau diesen Gemeinsinn, also UrteilsfĂ€higkeit, bei den SchĂŒlerinnen und SchĂŒlern anbahne.

Wie bis hierhin deutlich geworden sein sollte, zeichnet sich der Sammelband durch vielfĂ€ltige, kritische und klug argumentierte Positionierungen aus. Als rahmende Grundlegung fĂŒr diese unterschiedlichen Perspektiven dient der Beitrag von Terhart. Er gibt eine kompakte, gut verstĂ€ndliche und klar gegliederte Orientierung im Feld der Schultheorie, indem er den Nutzen einer Schultheorie, die Begriffe Theorie und Schultheorie und die Relationierung der Schultheorie zu anderen erziehungswissenschaftlichen Theorien skizziert. Auch bietet er nicht nur einen Überblick ĂŒber bestehende TheorieansĂ€tze, sondern systematisiert Systematisierungen, wenn er darlegt, wie LehrbĂŒcher das Feld der Schultheorie ordnen.

Eine zweite Rahmung der BeitrĂ€ge bietet der Beitrag von Reichenbach, der die Notwendigkeit einer pĂ€dagogischen Schultheorie begrĂŒndet. Hierzu wirft er „Schlaglichter auf einige Problemfelder um Schule und Schul- und Bildungsforschung [...], welche dazu inspirieren mögen, das Interesse fĂŒr eine pĂ€dagogische Deutung der Schule zu stĂ€rken“ (11, H. i. O.). Bei den dann entfalteten acht Problemfeldern – wie zum Beispiel Schulkritik oder Theorielosigkeit der Bildungsforschung – wird jedoch nicht immer deutlich, wie eine pĂ€dagogische Schultheorie damit konkret zusammenhĂ€ngt.

Wie sehen die weiteren Angebote des Sammelbandes aus, die im Untertitel ausgemachte Leerstelle zu schließen? Gonon vertritt die These, Globalisierung beeinflusse die Schule, und propagiert eine „‚Schultheorie‘ neueren Typs“ auf Basis „einer akteursbezogenen Rechtfertigungsperspektive“ (208). BĂŒhler schildert die Entstehung und Entwicklung der Psychiatrie sowie ihre Ausdehnung auf Schule. Seine AusfĂŒhrungen mĂŒnden in dem Befund, dass die Schule um 1900 eine neue Funktion in Gestalt einer diagnostisch-therapeutischen Funktion erhalte.

In den weiteren BeitrĂ€gen (Oelkers zur Sprachgeschichte der Schule, Brinkmann zur Bestimmung von Aufgaben der Schule durch den „Versuch einer PhĂ€nomenologie“ (88), Kade zu Subjektivierungsformen und -praktiken, Reh zur Geschichte des Fachunterrichts, die zu einer „Theorie der in schulischen Wissenspraktiken ausgebildeten Subjektformen“ (169) fĂŒhrt) wird die grundsĂ€tzliche Schwierigkeit, die der Sammelband ausgesetzt ist, deutlich: Um die Leerstelle einer pĂ€dagogischen Schultheorie zu fĂŒllen, reicht es nicht, allein ‚neue‘ Perspektiven zu entwickeln. Gewinnbringend ist dies nur dann, wenn zugleich eine ausreichend intensive VerknĂŒpfung mit den ‚alten‘ Perspektiven vorgenommen wird, da erst dadurch der Mehrwert deutlich wird. Das gelingt diesen BeitrĂ€gen nur partiell. Die Relationierung alter und neuer Perspektiven ist auch notwendig, um auszuloten, inwiefern die Leerstelle, die man zu fĂŒllen gedenkt, wirklich leer ist. Mit anderen Worten: Nicht alle Perspektiven, die die Autorinnen und Autoren im Sammelband entfalten, sind wirklich neu. So kommt Brinkmann in seinen AusfĂŒhrungen z. B. auf das meritokratische Prinzip, die Positionierung von Schule zwischen Familie und Gesellschaft oder die Eigenlogik von Schule zu sprechen. Bei diesen im schultheoretischen Diskurs nicht unbekannten Aspekten könnte man detaillierter herausarbeiten, was genau daran neu ist oder sich als weniger neu in das bestehende SchultheoriegebĂ€ude einfĂŒgt.

Zusammenfassend bietet der Sammelband durchaus neue Gedanken zu einer (pĂ€dagogischen) Schultheorie, es gelingt ihm aber nicht immer, seine Perspektiven verstĂ€ndlich und nachvollziehbar an bestehende schultheoretische Überlegungen anzuschließen. Dass dies schwierig ist und vielleicht auch nicht im Vordergrund stand, deutet sich schon im Titel mit dem Begriff „Fragmente“ an. Wie die Herausgeber im Vorwort betonen, trat dieser Begriff an die Stelle der ursprĂŒnglichen „Elemente“ im Titel des zugrunde liegenden Kolloquiums, wodurch deutlich gemacht werden sollte, dass es nicht um „den möglichen oder sogar notwendigen Bestandteil eines Ganzen“ (7) geht. Insofern ist es verstĂ€ndlich, dass die BeitrĂ€ge als Fragmente (noch) wenig untereinander und mit dem „Ganzen“, also mit (pĂ€dagogischer) Schultheorie, verknĂŒpft sind.
Richard Schmidt (Halle)
Zur Zitierweise der Rezension:
Richard Schmidt: Rezension von: Reichenbach, Roland / BĂŒhler, Patrick (Hg.): Fragmente zu einer pĂ€dagogischen Theorie der Schule, Erziehungswissenschaftliche Perspektiven auf eine Leerstelle. Weinheim, Basel: Beltz Juventa 2017. In: EWR 17 (2018), Nr. 4 (Veröffentlicht am 30.08.2018), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978377993746.html