EWR 16 (2017), Nr. 6 (November/Dezember)

Udo Rauin / Matthias Herrle / Tim Engartner (Hrsg.)
Videoanalysen in der Unterrichtsforschung
Methodische Vorgehensweisen und Anwendungsbeispiele
Weinheim / Basel: Beltz Juventa 2016
(344 Seiten; ISBN 978-3-7799-3300-7; 26,95 EUR)
Videoanalysen in der Unterrichtsforschung Der Einsatz von Unterrichtsvideos in der Bildungsforschung wurde bereits in den 1960er- und 1970er-Jahren im englischsprachigen Raum erprobt. Videos ermöglichen eine detaillierte Analyse des hochkomplexen Unterrichtsgeschehens. Die simultan stattfindenden Interaktionen im Klassenraum, die in einer realen Beobachtung nur schwer zu erfassen sind, können durch Unterrichtsvideos sinnvoll abgebildet, wiederholt angeschaut und analysiert werden. Neue und günstigere technische Möglichkeiten machen die Videoanalyse seit den 2000er-Jahren zu einer etablierten Methode in empirischen Studien zur Unterrichtsforschung. Die Herausgeber unterstützen diese Entwicklung mit einem Band, der methodische Vorgehensweisen in diesem Feld beleuchtet und diese anhand von Praxisbeispielen ausführt. Dabei beziehen sie sich sowohl auf quantitative als auch auf qualitative Ansätze und versuchen Gemeinsamkeiten sowie produktive Nutzungsmöglichkeiten beider Ansätze herauszustellen.

Die Herausgeber wählen einen sinnvollen Aufbau für den Methodenteil ihres Buchs. Statt direkt auf unterschiedliche Ansätze der qualitativen und quantitativen Forschung einzugehen, schalten sie einen Beitrag zu technischen Problemen, die sich während der Planungs-, Durchführungs- und Nachbereitungsphase stellen können, vor. Die Autoren dieses ersten Kapitels bieten dabei einen sehr praxisnahen Einstieg, indem sie eine Checkliste zur videogestützten Datenerhebung beifügen. Gerade diese Liste ermöglicht es Einsteigern sich schnell einen Überblick über die komplizierte Datengenerierung zu verschaffen und mögliche Fehler zu umgehen. Unterstützt wird dieses Kapitel durch einen reinen Support-Teil am Ende des Buches, der detailliert Video- und Audioequipment, Post-Produktion und Videoanalyseprodukte behandelt.

An das Technikkapitel schließen Ausführungen dazu an, wie sich quantitative und qualitative Verfahren ergänzen können. Zunächst wird dargelegt, dass komplexe Unterrichtssituationen erst in standardisierte bzw. rekonstruierende Daten verwandelt werden müssen. Um standardisierte, numerische Daten erfassen zu können, werden zunächst Beobachtungssysteme entwickelt. Im Zuge dessen, setzen sich Forscherinnen und Forscher mit den rekonstruierenden, verbalen und visuellen Daten auseinander, indem sie aus diesen ihre theoretischen Kategorien ableiten. Umgekehrt besteht die Güte von quantitativen Verfahren darin, dass intuitiv gewonnene Kategorien systematisch Anwendung finden. Beide Forschungsdisziplinen unterstützen sich demnach beim Einsatz von Videodaten.

Im Anschluss werden in den nächsten beiden Kapiteln jeweils dezidiert qualitative bzw. quantitative Strategien und Methoden der videobasierten Unterrichtsforschung skizziert. Herrle und Dinkelaker definieren die dominierenden Richtungen der qualitativen Analyse (dokumentarische Methode / ethnographische Analyse / interaktionsanalytische Ansätze) und legen diese beispielhaft anhand aktueller Studien dar. Gekonnt nutzen sie die Interaktionsanalyse, um an dieser die Segmentierungs- und Sequenzanalysen detailliert darzustellen. Durch die ausführliche Beschreibung ist dieser Abschnitt auch für Vertreter der quantitativen Forschung anschaulich nachvollziehbar. Appel und Rauin stellen in ihrem Kapitel zur quantitativen Unterrichtsanalyse eine sinnvolle Verbindung zu den Beispielen der qualitativen Methode her. Ihre Kodierbeispiele zur sequenziellen Abfolge von Sprachäußerungen im Unterricht oder der zeitlichen Segmentierung von Sozialformen lassen erahnen, wie beide Forschungsrichtungen voneinander profitieren können. Neben Ausführungen zu hochinferenten Ratingsystemen und deren Reliabilität gelingt es ihnen anhand eines Beispiels zu verdeutlichen, welche Vielzahl an Auswertungsmöglichkeiten ein einzelner Datensatz bietet. Insgesamt ist besonders hervorzuheben, dass die Autoren auf Vorteile der Verfahren eingehen, gleichzeitig aber auch Nachteile aufzeigen.

Der erste Teil des Buchs wird schlüssig abgerundet, indem verschiedene Softwarepakete zur Auswertung von Videodaten diskutiert werden. Wie bereits im Kapitel zur Erstellung von standardisierten bzw. rekonstruierenden Daten dargestellt wurde, muss die videographierte Unterrichtsrealität zunächst in verbale oder numerische Daten umgewandelt werden. Durch die Nutzung spezieller Videoanalysesoftware kann dieser Schritt Hand in Hand mit der Auswertung gehen. Breitenbach und Appel legen für vier Programme (Interact / Videograph / ANVIL / ELAN) die Funktionen bezüglich Programmlogik, Dateiverwaltung, Auswertungsfunktionen, Zusatzmodulen und Videoanbindung offen. Sie heben hervor, dass eine sorgfältige Kosten-Nutzen-Analyse bei der Auswahl der Software zu erheblichen Ressourceneinsparungen führen kann. So kann allein der Zeitbedarf für die Einrichtung, Einarbeitung und Analyse mit einem Programm, eine softwarelose Auswertung übersteigen. Daher ergänzen die Autoren ihr Kapitel mit hilfreichen Faktoren, die bei der Entscheidungsfindung für ein bestimmtes Programm helfen sollen.

Im zweiten Teil des Buchs werden die theoretischen und methodischen Ansätze durch aktuelle Studien expliziert. Alle Beiträge untersuchen Prozesse in Lehr-Lern-Settings, die sich hinsichtlich ihrer Phänomenbereiche, Forschungsrichtung , Erhebung und Auswertung der Videodaten unterscheiden.
Studien von Korneck und Kollegen sowie von Ophardt und Thiel beschäftigen sich mit dem Agieren von Lehrpersonen im Unterricht. Die Lernenden werden in den Projekten von Bündgens-Kosten und Kollegen, Rabenstein und Steinwand sowie Krisanthan und Kollegen fokussiert. Von Minnameier und Kollegen und Hecht werden die Interaktionen zwischen Lehrpersonen und Lernenden beleuchtet. Interessant ist, dass die Studien ihre Videodaten unterschiedlich erheben. Minnameier und Kollegen, Krisanthan und Kollegen und Bündgens-Kosten und Kollegen kreieren Settings, damit der von ihnen untersuchte Aspekt möglichst standardisiert gemessen werden kann. Ophardt und Thiel, Rabenstein und Steinwand und auch Hecht hingegen treffen keine besonderen Vorkehrungen um ein spezifisches Setting zu gewährleisten; sie analysieren dadurch Alltagssituationen im Unterricht. Korneck und Kollegen wählen für ihr Projekt einen besonderen Zugang, indem sie Unterrichtssituationen mit Studierenden und einer begrenzten Anzahl an Schüler und Schülerinnen filmen. Die einzelnen Studien lassen sich individuell auf einem Kontinuum zwischen qualitativer und quantitativer Forschung verorten. Minnameier und Kollegen, Korneck und Kollegen und Krisanthan und Kollegen gehen quantitativ vor, während Rabenstein und Steinwand sowie Hecht qualitative Forschung betreiben. Die Studien von Bündgens-Kosten und Kollegen und Ophardt und Thiel sind zwar primär quantitativ bzw. qualitativ, bedienen sich aber in einzelnen Schritten Verfahren der jeweils anderen Forschungsrichtung.

Insgesamt zeigen die Autoren die im ersten Teil des Buchs aufgeführten methodischen Zugänge sowie Auswertungsverfahren anhand ihrer Studien in der Praxis auf. Besonders hervorzuheben ist, dass der Dialog von qualitativer und quantitativer Forschung durch den Beitrag von Bündgens-Kosten und Kollegen sowie dem Beitrag von Ophardt und Thiel greifbar wird. Erstere nutzen zur Entwicklung eines hoch-inferenten Beobachtungsinstruments qualitative Analysen von Videodaten und Verbaltranskripten, während letztere in ihrer qualitativen Studie standardisierte Klassenführungsmerkmale nutzen, statt induktiv vorzugehen.

Rauin, Herrle und Engartner gelingt es mit ihrem Bandl die Dialogmöglichkeit zwischen qualitativer und quantitativer Forschung aufzuzeigen. Einerseits hilft dieses Werk, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern zu verstehen, wie eine Zusammenarbeit zwischen Vertreterinnen und Vertretern der unterschiedlichen Forschungsrichtungen stattfinden kann. Es zeigt auf, wie aufwendig produzierte Videostudien umfassend genutzt werden können, indem vorhandenes Videomaterial in verschiedene Datenarten verwandelt wird. Andererseits eröffnet es den Leserinnen und Lesern einen Zugang zu dem jeweils unbekannten Forschungsfeld.

Besonders hoch ist den Herausgebern zudem anzurechnen, dass sie es geschafft haben ein sehr forschungspraxisnahes Buch zu veröffentlichen. Es bietet Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, die Interesse daran haben in der Unterrichtsforschung mit Videoanalysen zu arbeiten, einen konzisen, aber dennoch theoretisch fundierten Zugang zu diesem Forschungsfeld.
Christopher Neil Prilop (Hamburg)
Zur Zitierweise der Rezension:
Christopher Neil Prilop: Rezension von: Rauin, Udo / Herrle, Matthias / Engartner, Tim: Videoanalysen in der Unterrichtsforschung, Methodische Vorgehensweisen und Anwendungsbeispiele. Weinheim / Basel: Beltz Juventa 2016. In: EWR 16 (2017), Nr. 6 (Veröffentlicht am 07.12.2017), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978377993300.html