EWR 10 (2011), Nr. 6 (November/Dezember)

Peter Cloos / Marc Schulz (Hrsg.)
Kindliches Tun beobachten und dokumentieren
Perspektiven auf die Bildungsbegleitung in Kindertageseinrichtungen
Weinheim: Juventa 2011
(22 S.; ISBN 978-3-7799-2550-7; 23,95 EUR)
Kindliches Tun beobachten und dokumentieren Beobachtungs- und Dokumentationsverfahren können spätestens seit der Einführung von Rahmen-, Orientierungs- und Bildungsplänen für die frühpädagogische Praxis als zentrales Mittel professioneller Begleitung von kindlichen Bildungsprozessen gelten. Die Einführung dieser Pläne sowie die bisher noch geringe erziehungswissenschaftliche Auseinandersetzung mit Konzepten von Beobachtung und Dokumentation nimmt der von Peter Cloos und Marc Schulz herausgegebene Band zum Anlass, um konträre theoretische Positionen und empirische Analysen zu diesem Thema zu versammeln. Im Fokus des Bandes stehen „prozessorientierte Beobachtungs- und Dokumentationsverfahren“, die an den individuellen „Ressourcen, Kompetenzen und Stärken“ des einzelnen Kindes ansetzen und mit denen es der Fachkraft ermöglicht werden soll, die kindlichen Bildungsprozesse zu begleiten als auch „Lern- und somit Förderbedarfe zu lokalisieren und sichtbar zu machen“ (8). Bisher – so die beiden Herausgeber – werden jedoch Beobachtungsverfahren “überwiegend bildungstheoeretisch und weniger beobachtungs- und professionstheoretisch begründet” (9), so dass eine theoretische Fundierung der prozessorientierten Verfahren insgesamt noch weitestgehend lückenhaft sei.

Gemäß dieser Einschätzung versucht der Band drei Perspektiven auf den Gegenstand einzunehmen und gliedert sich entsprechend in drei Teile: 1. Beobachtungstheoretische Perspektiven (Eßer, Bollig, Schulz, Staege / Eden / Durand, Mohn); 2. Bildungstheoretische Perspektiven (Dietrich, Stieve, Brandes, Steudel, Sitter) und 3. Professionstheoretische Perspektiven (Cloos, Brée / Kieselhorst, Viernickel).

Der erste Teil – Beobachtungstheoretische Perspektiven – beginnt mit einem historischen Abriss über die „Anwendung“ (21) von Beobachtungs- und Dokumentationsverfahren in verschiedenen Erziehungsinstitutionen (Familie, Schule Kindergarten) in den vergangenen zwei bis drei Jahrhunderten. Florian Eßer gelingt es hierin in plausibler und einführender Weise, institutionenübergreifend zu zeigen, wie Kinder „zu Gegenständen einer systematischen und kontrollierenden Beforschung“ (23) wurden. Dabei wird dreierlei deutlich: Erstens: Die Beobachtung von Kindern in ihrer jeweiligen Entwicklung ist keine neue Tendenz; zweitens: „Kinder“ werden in einer spezifischen Qualität durch Beobachtung und Dokumentation erzeugt und hervorgebracht und drittens: in den Institutionen sind sowohl die Erwachsenen als auch die Kinder an der Hervorbringung von Kindern als „Objekte(n), Akteure(n) und Produkte(n)“ (30) beteiligt.

Wie sich Beobachtung und Dokumentation in konkreten „Praktiken“ vollzieht und welche Effekte die Anwendung von Beobachtungs- und Dokumentationsverfahren erzeugt, zeigen Sabine Bollig aus praxisanalytischer Perspektive und Marc Schulz aus performativitätstheoretischer Sicht in ihren Analysen auf. Die Beobachtungstätigkeit der pädagogischen Fachkräfte als einen „subjektiven Erkenntnis- und Lernprozess zu konzipieren“ (Bollig: 33) sowie die Beobachtungsverfahren als bloße „Hilfestellung zur Entdeckung kindlicher Bildungsprozesse“ (Schulz: 49) zu verstehen, reiche nicht aus, so die beiden Autoren.

In Abgrenzung zu dieser Perspektive entwickelt Bollig einen methodologischen Zugriff auf die Praktiken des Beobachtens und Dokumentierens. Damit grenzt sie sich von einem Verständnis ab, das Dokumentationen (materialisierte Beobachtungen) als bloße Repräsentationen eines subjektiven Verstehens- und Erkenntnisprozesses der pädagogischen Fachkräfte durch Beobachtung versteht. So wird eine Perspektive auf Beobachtung und Dokumentation als „sozialer Praxis“ (33) gestärkt und die Frage nach der Konstitution von Praktiken der Dokumentation aufgeworfen. Ziel ist es, einen praxisanalytischen Beobachtungsbegriff zu entwickeln, der nicht als erstes die Frage nach dem „Pädagogischen“ der Beobachtungspraxis stelle, sondern in Anknüpfung an Honig [1] einen eher „nicht-pädagogischen Blick“ (35) entwerfe. Erst durch diesen Blickwechsel lasse sich die Frage nach den Wissenspraktiken, den Wissensformen und nach dem spezifischen Beobachtungswissen stellen, in dem dann durchaus Pädagogisches relevant werden kann. Beobachtungen und Dokumentationen kindlichen Tuns in seinen Materialisierungen und Mediatisierungen (Bögen, Protokolle, Notizen) gerieten nur auf diese Weise in ihren Vollzuglogiken in den Blick. Bolligs Beitrag kann so aufzeigen, wie „Bedeutungsrelevanz und -potentialität“ von bildungsrelevanten Aspekten allererst produziert und auch fixiert werden.

Auch für Schulz steht nicht das Gelingen oder Nicht-Gelingen einer Förderung von Bildungsprozessen im Zentrum, sondern der Vollzugscharakter von Beobachtungen. Unter performativitätstheoretischer Perspektive rekonstruiert er Beobachtungen in ihrer „Wirkung als Aufführungen“ (49) und kann so zeigen, wie Beobachtungsdokumente, die in Kindertageseinrichtungen entstehen, kollektiv das herstellen, was als „Bildung“ qualifiziert wird und welche Ereignisse allererst mit Bildungsrelevanz ausgestattet werden – wie also soziale Situationen als pädagogische Situationen entstehen und markiert werden. Wenn als „pädagogische Professionalisierungsbemühung, Kinder bildungsbezogen“ beobachtet werden sollen – so Schulz (62) –, verfehlen diese Instrumente dann nicht ihren eigentlichen Zweck, indem sie selbst erst die Bildungsrelevanz eines bestimmten Tuns markieren und andere Situationen aus dem Blick geraten? Im Anschluss an beide Beiträge lässt sich fragen, inwiefern eine beobachtungstheoretische Perspektive analytisch wirklich von einer bildungstheoretischen Perspektive getrennt betrachtet werden kann, wenn insbesondere Schulz nach „nicht intendierten Bildungsgelegenheiten“ (62) fragt, die sich ergeben, wenn Kinder als Ko-Konstrukteure der Beobachtung auftreten und damit eine „andere“ Qualität von Bildung aufscheint?

In expliziter Abgrenzung von einem verengten, da vornehmlich positiven und individualisierten Blick auf frühkindliche Bildungsprozesse, der die Stärken und die Ressourcen der Kinder in ihrem Tun fokussiere, entwerfen drei Beiträge des zweiten, bildungstheoretischen Teils, eine Erweiterung des frühkindlichen Bildungsbegriffs jenseits der bloßen Positivität und Individualität von Bildung sowie jenseits der normativen „Finalisierung und Funktionalisierung von Bildungsprozessen“ (Schulz / Cloos: 13). So hinterfragt Cornelie Dietrich hierfür die „Linearität der Entwicklung“ (101) von Kindern. Weder seien Kinder nur rein in ihrer Individualität zu betrachten, noch vollziehe sich Bildung in erster Linie am Entwicklungsparadigma. Marginalisierte Aspekte im frühkindlichen Bildungsbegriff seien vor allem jene Erfahrungsprozesse, die Differenzerfahrungen betreffen. Erfahrungen, die von Brüchen, Fehlern oder dauerhaften Irritationen (vgl. ebd.) getragen sind, und „kulturelle Kontextualisierungen“ (ebd.) sind bisher unbeachtet geblieben. Ein komplexer frühkindlicher Bildungsbegriff – zu diesem Schluss kommt Dietrich – muss eine „praktische und symbolische Bearbeitung von erfahrenen Differenzen zwischen den verschiedenen kulturellen Sinnordnungen“ (111) beinhalten.

Ausgehend von der Annahme, dass Bildung in der Frühpädagogik als aktive Konstruktionsleistung von Kindern verstanden wird, richtet Claus Stieve den Blick auf die das Kind umgebende Umwelt, die jenseits der Personen mit Materialien jeglicher Art (Möbel, Spielzeug, Einrichtung etc.) ausgestattet ist. Damit kommt die Umwelt in ihrer „indirekten Didaktik“ (116) und die Dinge in ihrer „appellativen“ Seinsweise in den Blick. Anhand verschiedener Ansätze der Frühpädagogik, die sich der „Inszenierung des Materials“ (125) verschreiben, wird der Versuch unternommen, der gestalteten „Dingwelt“ (ebd.) neben den Selbstbildungsprozessen der Kinder einen eigenen Stellenwert beizumessen. Ebenso erweitert Holger Brandes den Beobachtungsgegenstand und damit das Bildungspotential des Kindes. Aus entwicklungspsychologischer Sicht plädiert er für die Erweiterung des Blicks auf die Peerbeziehungen von Kindern neben einer gruppenzentrierten und individuellen Beobachtungsperspektive auf einzelne Kinder.

Der professionstheoretische dritte Teil reagiert auf die Annahme, dass sich Professionalität von pädagogischen Fachkräften der Frühpädagogik vor allem dann entwickele, wenn eine regelmäßige und systematische Beobachtung zur Anwendung komme, so Cloos und Schulz in der Einleitung (14f.). Ausgehend von dieser Vermutung, werden Beobachtungskonzepte empirisch befragt und drei verschiedene professionsbezogene Positionierungen vorgenommen. So stellen Susanne Viernickel, Stefan Brée/Markus Kieselhorst und Peter Cloos die Frage nach dem Ertrag verschiedener prozessoffener Beobachtungs- und Dokumentationsverfahren für eine Professionalisierung der Fachkräfte. Die Beiträge eint die Frage nach der Binnenlogik des Beobachtungsprozesses: Wie vollzieht sich, ausgehend von der Beobachtung, die Deutung des Beobachteten bis hin zur Generierung von Förderangeboten für die Kinder?

Stefan Brée und Markus Kieselhorst gehen in ihren Analysen der Deutungsfähigkeit und -kompetenz pädagogischer Fachkräfte nach. Inwiefern dialogisch orientierte Beobachtungs- und Dokumentationsverfahren zur Entwicklung und Festigung von diagnostischen, kommunikativen und selbstreflexiven Kompetenzen der pädagogischen Fachkräfte beitragen, fragt Susanne Viernickel in ihrem Beitrag. Die große Chance einer Professionalisierung – so Viernickel – liege vor allem in denjenigen Beobachtungsverfahren, die ressourcenorientiert ansetzen und den offenen Dialog mit Kindern anstreben; denn hier verbinde sich Beobachtungsmethodik sowohl mit „sozialer Beziehungsgestaltung“ als auch mit „sprach- und bildungsanregender Kommunikation“ (217). Peter Cloos stärkt mittels des Konzepts der „Fallarbeit“ (172) den bisher vernachlässigten Anschluss an erziehungswissenschaftliche wie auch soziologische Professionstheorien. Damit wird eine Perspektive eingenommen, die nicht – wie bisher in der Frühpädagogik – per se davon ausgeht, dass sich Professionalität allein darüber herstelle, dass systematisch, individuell und regelmäßig beobachtet werde und ausschließlich auf Grundlage dieser Beobachtungen Förderungsangebote entwickelt würden. Demgegenüber geht Cloos empirisch anhand zweier Rekonstruktionen (von Fallgesprächen, die mit dem Schemata-Ansatz des Konzepts „Early Excellence“ arbeiten) der Frage nach, wann und wie kindliches Tun zum „Fall“ wird? Überzeugend kann er nachzeichnen, wie sich die Relationierung von verfahrensabhängig gewonnenem Wissen (Beobachtungskategorien / Schemata) sowohl mit Alltagswissen als auch verfahrensunabhängigem Wissen (jenseits der systematischen Beobachtung) vollzieht (185).

Fazit: Der von Peter Cloos und Marc Schulz herausgegebene Sammelband umfasst eine – in seiner systematischen Bandbreite – beeindruckende Zusammenstellung von Beiträgen sowohl empirischer, methodologischer, konzeptioneller und theoretischer Art. Der Band zielt auf eine wissenschaftliche bzw. erziehungswissenschaftliche Weiterentwicklung und Reflexion von Beobachtungs- und Dokumentationspraktiken und ist darin fast durchgängig überzeugend. Eingangs überzeugt vor allem die Trennung von beobachtungstheoretischen und bildungstheoretischen Perspektiven, weil damit der Blick auf die Praktiken und Wissensbestände im Vollzug von Beobachtungs- und Dokumentationstätigkeiten freigelegt werden kann. Dies ist vor allem spannend, weil es den ersten systematischen Versuch darstellt, die Frage aufzuwerfen, wie durch Beobachtung und durch verschiedene Beobachtungskonzepte bestimmtes Wissen hervorgebracht wird und welches Wissen damit konkret erzeugt wird. Die Beiträge des bildungstheoretischen Teils können die positive Blickrichtung auf Lernprozesse, wie sie für den frühkindlichen Diskurs dominant sind, hinreichend in Frage stellen. Dennoch entstehen Unschärfen, wenn in der beobachtungstheoretischen Perspektive die Frage nach der Herstellung von „Bildungsrelevanz“ – und sei es als Abgrenzungsfolie zur bildungstheoretischen Perspektive – formuliert wird, weil sich dadurch neue Konzeptionalisierungen von „Bildung“ zu ergeben scheinen, diese jedoch nicht explizit thematisiert werden. Wünschenswert wäre vor diesem Hintergrund eine abschließende, zusammenfassende oder vergleichende Diskussion der drei entworfenen Perspektiven gewesen.

Zudem ließe sich gerade aus erziehungswissenschaftlicher Sicht die Frage aufwerfen, was es für pädagogische Beziehungen letztlich bedeutet, wenn Beobachtung zu einer zentralen pädagogischen Tätigkeit avanciert. Oder auch: Welches Verfügungswissen wird in Bezug auf das Kind und die kindlichen Bildungsprozesse entworfen und konstruiert und wie werden Kinder in ihren Bildungsprozessen dadurch handhabbar für pädagogische Ambitionen gemacht?

Mit dem Buch liegt vor allem mit der beobachtungstheoretischen Herangehensweise an die Praktiken der Bildungsbegleitung in Kindertageseinrichtungen eine Perspektive vor, die dem aktuellen Boom dieser Verfahren nicht nur Rechnung trägt, sondern auch in der Lage ist, die impliziten Annahmen des frühpädagogischen Fachdiskurses über die Bildungsbedeutsamkeit der Verfahren von ihrer Vollzugslogik aus zu hinterfragen. Weitere Studien können an diesem gelungenen Auftakt anknüpfen und diesen Zugang weiterdenken.

[1] Honig, M.-S. (2010): Beobachtung (früh-)pädagogischer Felder. In: Schäfer, G.E. / Staege, R. (Hrsg.): Frühkindliche Lernprozesse verstehen. Ethnographische und phänomenologische Beiträge zur Bildungsforschung. Weinheim und München, Juventa, 91-101.
Sandra Koch (Halle / Saale)
Zur Zitierweise der Rezension:
Sandra Koch: Rezension von: Cloos, Peter / Schulz, Marc (Hg.): Kindliches Tun beobachten und dokumentieren, Perspektiven auf die Bildungsbegleitung in Kindertageseinrichtungen. Weinheim: Juventa 2011. In: EWR 10 (2011), Nr. 6 (Veröffentlicht am 14.12.2011), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978377992550.html