EWR 18 (2019), Nr. 1 (Januar/Februar)

Tanja Betz/ Sabine Bollig/ Magdalena Joos/ Sascha Neumann (Hrsg.)
Institutionalisierungen von Kindheit
Childhood Studies zwischen Soziologie und Erziehungswissenschaft
Weinheim / Basel: Beltz Juventa 2018
(232 Seiten; ISBN 978-3-7799-1557-7; 29,95 EUR)
Institutionalisierungen von Kindheit Sowohl die Erziehungswissenschaft als auch die Kultur- und Sozialwissenschaften zeigen großes Interesse an „Kindheit“. Dabei stand kaum im Fokus, was diese Auseinandersetzungen systematisch unterscheidet; ja, inwiefern sich in den jeweiligen Zugängen und Befunden möglicherweise nicht sogar mehr Gemeinsames als Trennendes finden ließe. Genau diese Frage hat Michael-Sebastian Honig unentwegt angestoßen. Wiederholt begründete er, weshalb der Forschungszusammenhang „Childhood Studies“ nicht nur historisch, sondern methodologisch-epistemologisch sich seinen disziplinären Herkünften stellen müsse, um die laufende Gegenstandskonstituierung selbstreflexiv entwickeln zu können. Bemerkenswert ist, dass diese Forderung viel zitiert wurde. Zeitgleich ist die Aufarbeitung nur ansatzweise begonnen. Aus diesem Grund und anlässlich der Emeritierung Honigs luden Tanja Betz, Sabine Bollig, Magdalena Joos und Sascha Neumann namhafte Wegbegleiter*innen dazu ein, sich dieser Reflexion einmal bewusst anzunehmen.

Dieser Sammelband vertieft Diskussionspunkte, die auf der Konferenz „Kindheitsforschung zwischen Soziologie und Erziehungswissenschaft. Verhältnisbestimmungen, Gegenstände, Zugänge“ 2015 in Luxemburg verhandelt wurden (vgl. 10). Dabei wurde interdisziplinär sondiert, „wie sich die Wissensproduktion in der Soziologie der Kindheit und diejenige in der erziehungswissenschaftlichen Kindheitsforschung nicht nur immer wieder wechselseitig vorangetrieben haben, sondern wie sich die beiden (Teil)Disziplinen in Bezug auf Kinder und Kindheit auch heute noch gegenseitig informieren und inspirieren“ (8). Um zu vermeiden, dabei weder disziplinpolitisch scharfgestellte „Demarkationslinien“ (11) zu tradieren, noch sich in empirischen Befunden zu verlieren, führ(t)en die Herausgeber*innen einen ihrerseits theoretisierten „Kreuzungspunkt“ (8) ein. So zeige die Erziehungswissenschaft ebenso wie die Kindheitssoziologie ein großes Erkenntnisinteresse an den „Institutionalisierungen von Kindheit“ (11). Mit dieser Fokussierung in Funktion einer „konzeptionellen Klammer“ (ebd.) beansprucht der Band etwas Doppeltes zu leisten (vgl. 8, 11): Zum einen sollen erziehungswissenschaftliche sowie kindheitssoziologische Perspektiven und Forschungserträge jenseits und/oder im Horizont ihrer disziplinären Herkünfte aufeinander bezogen sein, um eine kritische Bilanzierung der bisherigen Entwicklung der Childhood Studies vorzunehmen (vgl. 11, Klappentext). Zum anderen gehe es darum, „das Aufklärungspotential von aktuellen empirischen Studien, Theorieperspektiven und von Reformulierungen „klassischer“ Schlüsselkonzepte der childhood studies im Hinblick auf einen gemeinsamen Erkenntnisgegenstand „Kindheit“ im Kontext seiner pädagogischen, wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Formierung auszuloten“ (11). Der Band mit seinen 13 Einzelbeiträgen ist in drei Teile gegliedert.

Im Rahmen des ersten Teils reflektieren Doris Bühler-Niederberger sowie Helga Kelle, Cornelie Dietrich und Micha Brumlik, auf was das Erkenntnisinteresse der jeweils von ihnen vertretenen Richtung von Kindheitsforschung konkret ausgerichtet war und in Zukunft sein müsste. Während Bühler-Niederberger den Mehrbedarf an gesellschaftstheoretischen Bezügen begründet, weist Kelle diesen zurück, in dem sie die aktuelle Baustelle nicht in den fehlenden soziologischen Bezügen, sondern in den ungeklärten „anthropologischen Voraussetzungen der Möglichkeit von Gesellschaft“ (42) verortet. Dietrich wiederum relationiert Bildung(stheorie) und Kindheit(sforschung), wobei sie bilanziert, dass sich beide in ihren neueren Entwicklungen kaum wahrnähmen (vgl. 54). Sie diagnostiziert eine „ubiquitäre[] Verwendung des Bildungsbegriffs“ (ebd.). Brumlik wiederum bilanziert ähnlich wie Kelle. Die seinerseits ausgemachte Baustelle kristallisiere sich darin, inwiefern Kindheit als „Konstrukt“, „ontologische Universalie“ und/oder „transzendentale Voraussetzung“ zu fassen sei (vgl. 66). Er plädiert für eine dialektische, d.h. eine „zwar allemal kulturtheoretische, aber eben nicht radikal konstruktivistische Fassung“ (69) des Kindheitsbegriffs. Durch die Lektüre dieser ersten – auf den Untertitel des Bandes eng verweisenden – Beiträge wird nachvollziehbar, wo die Herausforderungen eines inter- sowie intradisziplinär vorgehenden (Er)Fassens von „Kindheit“ derzeit liegen.

Die im zweiten und dritten Teil des Bandes versammelten Beiträge verhandeln diese Frage impliziter. Dafür leisten sie Theoretisierungen, Beschreibungen und – in der Mehrzahl auch – gesellschaftsanalytische Kontextualisierungen der jeweils erforschten Institutionalisierungsprozesse bzw. Institutionalisierung von Kindheit. Obwohl alle Beiträge damit auf die nachgefragte gesellschaftlich-pädagogische Formierung von Kindheit direkt eingehen (vgl. 11), sind sie – in nicht durchweg nachvollziehbar Weise – voneinander unterschieden. Unterteilt sind sie danach, ob sie eher „Forschungszugänge“ zu Konturierungen des Aufwachsens in und quer zu pädagogischen Feldern präsentieren, oder ob sie Gewicht auf die „empirische Erkundung“ von pädagogischen Feldern legen (vgl. 13). Damit ist ein unlängst problematisiertes (Selbst-)Kategorisierungsschema [1] aktualisiert, das von den komplexen Argumentationsgängen und inhaltlichen Bezügen dieser Beiträge eigentlich desavouiert wird.

So pointierten die Autor*innen des zweitens Teils das Aufklärungspotential ihrer, zum Teil langjährig verfolgten, Forschungszugänge durchweg mittels empirischer Einsichten. Im Einzelnen plädiert Meike Sophia Baader für historische Analysen, während Heinz Hengst, Sabine Bollig und Johanna Mierendorff für eine medien-/kulturwissenschaftliche Forschung, eine institutionalisierungstheoretische Raumforschung und eine, von der Analyse wohlfahrtsstaatlicher Transformationen ausgehende Forschung einstehen, welche vornehmlich, aber nicht ausschließlich, „Kindheit“ berücksichtigt. Genauso binden die Autor*innen des dritten Teils ihre Forschung konsequent an aktuelle Turns oder Zugänge an. Auf diese Weise werden sehr profunde Einblicke gegeben in aktuelle Diskussionen und Erkenntnisse, die sich augenfällig weder eindeutig der Kindheitssoziologie noch der Erziehungswissenschaft zurechnen lassen. D.h. diesen neun Beiträgen des zweiten und dritten Teils ist gemeinsam, dass sie für ihre kindheitssoziologisch/-theoretisch informiert erscheinenden Fragen an jeweilige Untersuchungsfelder wie selbstverständlich auch erziehungswissenschaftliche Relevanz behaupten (können). Beispielsweise kann ein Forschungsprogramm zu frühpädagogischen Konstruktionen von Kindern und Kindheiten (Peter Cloos) genauso disziplinübergreifende Relevanz beanspruchen, wie eine feldtheoretisch begründete Exploration von Krippenkindheiten (Sascha Neumann), eine Studie zum Verhältnis von privater und öffentlicher Erziehung in der Grundschulpädagogik (Heike Deckert-Peaceman), eine Untersuchung zum digital divide zwischen Bildungsinstitutionen und dem außerschulischen Kinderalltag (Jutta Wiesemann/Inka Fürtig) oder eine, dem body-turn verpflichtete Ethnographie zu Kleidungs- und Essenspraktiken in Heimkontexten (Florian Eßer).

Was alle diese – stilistisch jeweils einwandfreien und für neue Forschungsvorhaben ohne Frage inspirierenden – Aufsätze allerdings vermissen lassen, sind (Selbst)Reflexionen zu Reichweiten und zu eigens produzierten (Neben)Effekten auf die Gegenstandskonstitution. Daher gerinnt der Eindruck, dass dieser – von Honig erkämpfte – disziplinäre Schulterschluss dann äußerst produktiv ist, sofern nach der gesellschaftlich-pädagogischen Formierungen von Kindheit gefragt wird. Honig hat sich stets jedoch auch für deren wissenschaftsseitige Formierung interessiert; obwohl explizit danach fragend bleibt dieser lesenswerte Band diesbezüglich auffallend zurückhaltend.

[1] Herbert Kalthoff/ Stefan Hirschauer, Stefan/ Gesa Lindemann (Hrsg.)(2015): Theoretische Empirie. Zur Relevanz qualitativer Forschung. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Anna Fangmeyer (Halle)
Zur Zitierweise der Rezension:
Anna Fangmeyer: Rezension von: Betz, Tanja / Bollig, Sabine / Joos, Magdalena / Neumann, Sascha (Hg.): Institutionalisierungen von Kindheit, Childhood Studies zwischen Soziologie und Erziehungswissenschaft. Weinheim / Basel: Beltz Juventa 2018. In: EWR 18 (2019), Nr. 1 (Veröffentlicht am 22.03.2019), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978377991557.html