EWR 10 (2011), Nr. 1 (Januar/Februar)

Gerd E. SchÀfer / Roswitha Staege (Hrsg.)
FrĂŒhkindliche Lernprozesse verstehen
PhÀnomenologische und ethnographische BeitrÀge zur Bildungsforschung
Weinheim/MĂŒnchen: Juventa 2010
(280 S.; ISBN 978-3-7799-0715-2; 24,00 EUR)
FrĂŒhkindliche Lernprozesse verstehen Im Kontext der gegenwĂ€rtigen Debatten um die Professionalisierung der FrĂŒhpĂ€dagogik spielt die methodisch fundierte Beschreibung und Dokumentation des kindlichen Handelns eine zentrale Rolle. Erst auf dieser empirischen Grundlage können die kindlichen Sinnstrukturen und insbesondere die kindlichen Lern- bzw. Bildungsprozesse aus der Perspektive der Kinder angemessen erfasst werden – so jedenfalls der breit getragene frĂŒhpĂ€dagogische Konsens. Daran anschließend wollen sich die Artikel des vorliegenden Herausgeberbands als BeitrĂ€ge zu einer qualitativen, am kindlichen Bildungssinn ausgerichteten frĂŒhpĂ€dagogischen Bildungsforschung verstanden wissen. Diese sind den drei Teilen des Bandes zugeordnet: „Theoretische Rahmungen“ (Claus Stieve, Gerold Scholz, Gerd E. SchĂ€fer und Michael-Sebastian Honig), „PĂ€dagogische Felder“ (Ursula Stenger, Christina Huf, Wilfried Datler/Kathrin Trunkenpolz/Katharina Ereky-Stevens, Marjan Alemzadeh) und „Mediale ZugĂ€nge“ (Bina Elisabeth Mohn, Roswitha Staege, Marcus Rauterberg und Claus Stieve).

Mit ihren ethnographischen und phĂ€nomenologischen Forschungsstrategien rekurrieren die Autorinnen und Autoren auf die derzeit in der Erziehungswissenschaft zunehmend Anerkennung findenden qualitativen VerstehenszugĂ€nge, die einerseits als Chance zur Lösung des Theorie-Praxis-Dilemmas und andererseits zur Optimierung einer an den Adressatinnen und Adressaten orientierten pĂ€dagogischen Arbeit verbreitet diskutiert werden. Gerade den ethnografischen Forschungsstrategien wird dabei allgemeinhin der Vorteil zugesprochen, Interpretationen einer sozialen Praxis durch die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Feldes nah am Geschehen erfassen zu können. PhĂ€nomenologische AnsĂ€tze indessen könnten wiederum theoretisch fundierte BeitrĂ€ge zum Verstehen der kindlichen Erfahrungswelt beisteuern. So verweist auch Staege in ihrer Einleitung auf die spezifischen Potentiale dieser ZugĂ€nge, die sie in der AnnĂ€herung an die kindliche Subjektperspektive, der Kultivierung des „fremden Blicks“ (15) und den Chancen in der empirisch dichten Beschreibung von Bedeutungsherstellung und Erfahrungsweisen verortet. Sie schließt damit, dass der Band „mit der ZusammenfĂŒhrung ethnographischer und phĂ€nomenologischer ZugĂ€nge zu frĂŒhkindlichen Lernprozessen [
] einer bedeutungserschließenden beschreibenden AnnĂ€herung an die Erfahrungswelt(en) und Erfahrungsweisen der Kinder einen besonderen theoretischen und empirischen Stellenwert“ (17) beimisst. Folglich begegnen die BeitrĂ€ge der hohen Herausforderung, sich der damit unterstellten SpezifitĂ€t kindlicher Erfahrungs-, Lern- und Bildungsprozesse deskriptiv anzunĂ€hern, diese drei Grundbegriffe sowohl empirisch gehaltvoll als auch theoretisch zu fundieren und alternative, an der kindlichen Erfahrungswelt orientierte Klassifikationen zu entwickeln.

In den „Theoretischen Rahmungen“ zeigen die Autoren auf, wie erstens aus einer phĂ€nomenologischen Perspektive sich ethnographisch kindlichen Erfahrungswelten angenĂ€hert werden kann (Stieve), zweitens wie Lernen erziehungswissenschaftlich als kommunikative Handlung (Scholz) und drittens kindliche Bildungsprozesse ethnographisch sichtbar gemacht werden können (SchĂ€fer). Das von SchĂ€fer entworfene Forschungsmodell spiegelt zugleich die derzeitig favorisierten Analogien einer ‚forschenden Fachpraxis‘ in den frĂŒhpĂ€dagogischen Handlungsfeldern und der ‚forschenden Wissenschaft‘ der FrĂŒhpĂ€dagogik wider. Trotz der Ähnlichkeiten der jeweils Beobachtenden in der disziplinĂ€ren Verortung, muss diese implizite Gleichsetzung kritisch betrachtet werden, da beobachtungstheoretisch betrachtet die Professionellen des Feldes dieses nicht, so wie Ethnographinnen und Ethnographen, zur Darstellung bringen wollen, sondern – wie Honig in seinem Beitrag als Replik auf SchĂ€fers Konzept verweist – Kinder beobachten, um zu handeln. Damit wirft Honig die Problematik des VerhĂ€ltnisses „von Beobachtung und Beobachtbarkeit pĂ€dagogischer PhĂ€nomene“ (91) auf und plĂ€diert letztlich fĂŒr einen „nicht-pĂ€dagogischen Blick auf das PĂ€dagogische“ (100).

Die folgenden BeitrĂ€ge bearbeiten dieses von Honig aufgeworfene SpannungsverhĂ€ltnis höchst unterschiedlich: Unter der Perspektive „PĂ€dagogische Felder“ entfaltet etwa Stenger, anhand ihrer Analyse einer videographierten Beobachtungssituation aus einer Krippe, das Potential einer kulturwissenschaftlich-phĂ€nomenologisch fundierten Perspektive, in deren Mittelpunkt die „PhĂ€nomenologie als Methode“ steht, um die „Konstitution von Erfahrung zu erschließen“ (108). Zentral dabei ist der „Leib [des Forschenden] als Erkenntnisorgan“ (110), die sie von einer „von außen“ (ebd.) registrierenden Beobachtung abgrenzt und ersteres als konstitutiver Teil des Verstehens markiert, welches die tĂ€tige Erfahrung als „leibhaftiges, soziales, performatives Ereignis“ (109) begreift. Huf sowie das Team um Datler und Alemzadeh nĂ€hern sich ihren jeweiligen frĂŒhpĂ€dagogischen Handlungsfeldern explizit ethnographisch an, indem sie forschungsmethodisch auf den Terminus der Beobachtung von Feldteilnehmenden rekurrieren und diese fĂŒr ihren jeweiligen Untersuchungsgegenstand ausdifferenzieren. Dabei werden den erhobenen Beobachtungen im weiteren Forschungsprozess unterschiedliche Funktionen zugewiesen: Huf nĂ€hert sich den Perspektiven von angehenden SchĂŒlerinnen und SchĂŒlern hinsichtlich ihrer Erfahrungen von vorschulischen zum schulischen Lernen behutsam und zunĂ€chst deskriptiv an, indem sie diese anhand von Ausschnitten ihrer Protokolle schrittweise entfaltet. Datler indessen wĂ€hlt einen eher pragmatischen Umgang mit den PrĂ€missen ethnographischer Forschung, insofern sie die teilnehmende Beobachtung zur Datenbeschaffung in Familien einsetzt. Alemzadeh hingegen nutzt ihre Feldprotokolle nicht nur zur Deskription und Interpretation kindlichen Tuns, sondern ebenso zur reflexiven Grundlage fĂŒr ihr eigenes pĂ€dagogisches Handeln. Somit fallen auch die BegrĂŒndungen, weshalb es sich bei den Daten um AnnĂ€herung an kindliche Bildungs- und Lernprozesse handelt, höchst unterschiedlich aus.

Auch unter der Perspektive „Mediale ZugĂ€nge“ setzt sich diese HeterogenitĂ€t in der Verwendung von empirischem Material fort: Mohn beschreibt ihre filmische AnnĂ€herung an das Stumme des Sozialen und stellt anhand ihrer eigenen kamera-ethnographischen Arbeiten methodisch fundiert vor, wie das Wechselspiel zwischen Bild und Wort produktiv fĂŒr fremdverstehende VerstehenszugĂ€nge genutzt werden kann. Staege entfaltet das Potential der dokumentarischen Videointerpretation bei der AnnĂ€herung an Ă€sthetische Erfahrungsprozesse und Rauterberg verweist mit seiner Bildinterpretation einer kindlichen TĂ€tigkeit höchst plausibel auf die Differenz zwischen kindlichen und erwachsenen Klassifikation. Stieve schließlich geht anhand von Alltagsimpressionen dem Aufforderungscharakter von Dingen nach und beschließt damit den Band mit einem anregenden Beitrag zu einem phĂ€nomenologisch fundierten Lernbegriff.

Mit seinen BeitrĂ€gen reagiert der Band auf eine bislang kaum systematisch diskutierte Perspektive der gegenstandsangemessenen Beschreibung und Deutung kindlicher Lern- und Bildungsprozesse. Es ist daher prinzipiell begrĂŒĂŸenswert, wenn jenseits der aktuellen programmatischen Positionierungen gezeigt wird, wie kindliche Lern- und Bildungsprozesse methodisch und theoretisch fundiert konturiert werden können. Irritierend ist jedoch, dass der Teil „Theoretische Rahmungen“ nicht gleichermaßen die angekĂŒndigte EinfĂŒhrung in die Begriffe Erfahrung, Lernen und Bildung liefert und weiter entfaltet, wie diese ethnographisch und/oder phĂ€nomenologisch zu verankern sind. WĂ€hrend Stieve aus seiner fundierten EinfĂŒhrung in ethnographische und phĂ€nomenologische Perspektiven heraus einen höchst produktiven Zugang auf die forscherische Reflexion ĂŒber das Beobachtungssubjekt ‚Kind‘ entwickelt und somit einen wichtigen Beitrag zur Bearbeitung des Problems des ethnographischen Lokalismus liefert, verbleiben Scholz‘ lerntheoretische und SchĂ€fers‘ bildungstheoretische AusfĂŒhrungen in Bezug auf eine ethnographische Verankerung skizzenhaft. So setzt etwa SchĂ€fer unter Bezugnahme auf Geertz‘ ‚dichte Beschreibungen‘ sein Konzept des „wahrnehmenden Beobachtens“ unter „weiter Aufmerksamkeit“ (83) mit einer ethnographischen Forschungsstrategie gleich. Diese UnschĂ€rfen fĂŒhren dazu, dass beim Lesen der weiteren BeitrĂ€ge Irritationen auftreten, da nicht immer geklĂ€rt ist, ob trotz der begrifflichen Überschneidungen tatsĂ€chlich dieselben PhĂ€nomene als Lernen bzw. Bildung verhandelt werden. Diese HeterogenitĂ€t der Blickschneisen ist einerseits fĂŒr HerausgeberbĂ€nde nicht unĂŒblich, andererseits zeigt sie jedoch auch die nach wie vor bestehenden Forschungsdesiderate einer PĂ€dagogik der (frĂŒhen) Kindheit auf. Diese Verweise sind von den Herausgebenden offenkundig beabsichtigt – die begrĂŒĂŸenswerte Aufnahme des kritischen Beitrages von Honig belegt dies. Damit trĂ€gt das Buch dazu bei, einerseits die erhebliche LĂŒcke an qualitativer Bildungsforschung im Bereich der frĂŒhen Kindheit zu schließen und andererseits die frĂŒhpĂ€dagogische Bildungsdebatte stĂ€rker erziehungswissenschaftlich zu fundieren. Das Buch ist fĂŒr die erziehungswissenschaftlich orientierte Leserschaft empfehlenswert.
Marc Schulz (Hildesheim)
Zur Zitierweise der Rezension:
Marc Schulz: Rezension von: SchĂ€fer, Gerd E. / Staege, Roswitha (Hg.): FrĂŒhkindliche Lernprozesse verstehen, PhĂ€nomenologische und ethnographische BeitrĂ€ge zur Bildungsforschung. Weinheim/MĂŒnchen: Juventa . In: EWR 10 (2011), Nr. 1 (Veröffentlicht am 16.02.2011), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978377990715.html