EWR 10 (2011), Nr. 2 (März/April)

Sebastian Lerch
Lebenskunst lernen?
Lebenslanges Lernen aus subjektwissenschaftlicher Sicht
Bielefeld: Bertelsmann Verlag 2010
(227 S.; ISBN 978-3-7639-3346-4; 29,90 EUR)
Lebenskunst lernen? Sebastian Lerch, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Erwachsenenbildung an der Universität Bamberg, legt die leicht überarbeitete Fassung seiner Dissertationsschrift „Lebenskunst lernen? Lebenslanges Lernen aus subjektwissenschaftlicher Sicht“ in der Reihe „Erwachsenenbildung und lebensbegleitendes Lernen“ unter der Herausgeberschaft von Prof. Dr. Rainer Brödel und Prof. Dr. Dieter Nittel vor.

Nach einem Vorwort von Prof. Dr. Rainer Brödel formuliert Lerch den Anlass und die Ausgangslage seiner Untersuchung und eröffnet eine kritische Perspektive auf das umfangreiche und komplexe Phänomen „Lebenslanges Lernen“.
Ansatzpunkt seines Forschungsinteresses bildet die fehlende Schärfe und gleichzeitig zunehmende Bedeutung der Begrifflichkeit „Lebenslanges Lernen“ im aktuellen Diskurs.

Dabei setzt der Autor folgende thematische Schwerpunkte:

• Welche Spannungsfelder liegen im Diskurs um Lebenslanges Lernen aufgrund der unterschiedlichen Bedeutungszuschreibungen an die Kategorie vor?
• Welchen Stellenwert hat das „Subjekt“ im Diskurs?
• Welche Konsequenzen ergeben sich für die Erwachsenenbildung als wissenschaftliche Disziplin und Handlungsfeld? (18ff)

Im ersten Kapitel erläutert Lerch detailliert sein Forschungsinteresse und hermeneutisches Vorgehen zur Erschließung der Kategorie „Lebenslanges Lernen“ aus subjektwissenschaftlicher Sicht. Dabei eröffnet der Autor die Vielfalt von Blickwinkeln auf den Untersuchungsgegenstand „Lebenslanges Lernen“ und legt somit das spannungsgeladene Verhältnis von erziehungswissenschaftlichen und bildungspolitischen Ansprüchen offen. Dieser Einstieg bietet einen grundlegenden Einblick in die Komplexität und thematische Verschränktheit des Forschungskontextes.

Das zweite Kapitel dient der Anfertigung einer begriffsgeschichtlichen Skizze „Lebenslangen Lernens“: „Diese Freilegung von historisch-semantischen Wurzeln Lebenslangen Lernens versteht sich als Beitrag, den Terminus zeitgeschichtlich zu verorten und dadurch zeitgleich seine Bedeutungsdimension auszuloten.“ (37)
Der Autor strebt somit nach einer sozialgeschichtlichen Einordnung Lebenslangen Lernens und zeigt semantische Potentiale zeitlich vor- und nebengelagerter Vorstellungen vom Lernen Erwachsener (51) anhand ausgewählter historischer Stationen in der Erwachsenenbildung auf. Erkennbare begriffliche Veränderungen wie Volksbildung, Erwachsenenbildung und Weiterbildung nimmt Lerch zum Ausgang um diese auf ihre anthropologischen und bildungstheoretischen Grundsätze hin zu befragen um somit „Aufschlüsse auf ihr Verhältnis zur heutigen Vorstellung Lebenslangen Lernens zu gewinnen.“ (ebd.)

Anhand der begriffsgeschichtlichen Skizze konnte Lerch Bedeutungsverschiebungen des Phänomens Lebenslangen Lernens darlegen. Dabei fokussiert er im dritten Kapitel die „Konjunkturen und Bedeutungsverschiebungen innerhalb der Theoriedebatte um Lebenslanges Lernen“ (73). Lerch analysiert Tagungsdokumentationen als auch Periodika, wie die Hessischen Blätter für Volksbildung und die Literatur- und Forschungsreports Weiterbildung, im Längsschnitt sowie im Querschnitt mit Blick auf Veränderungen im Verständnis der Begrifflichkeit Lebenslanges Lernen (74). Um dominierende Sichtweisen der Erwachsenenbildung auf ihr Lernfeld herauszustellen, nutzt der Autor die Typisierung nach Wolfgang Seitter und dessen Unterscheidungen gegenwärtiger erwachsenenpädagogischer Historiographien (74). Die Untersuchung bundesdeutscher bildungspolitischer und erziehungswissenschaftlicher Dokumente ermöglicht dem Autor, unterschiedliche Facetten des Lebenslangen Lernens und ihre Bedeutung für das Subjekt herauszustellen (76).

In einem Zwischenfazit hebt er vor allem die Lesart „Lebenslangen Lernens“ unter der Maßgabe „ökonomischer Verwertbarkeit als Zielkategorie“ (113) für das Subjekt hervor und diagnostiziert eine Dominanz dieser Lesart im Diskurs. Lerch weist in diesem Zuge auf konkrete Herausforderungen an den Einzelnen hin - im Sinne einer wachsenden Notwendigkeit von eigenverantwortlicher und selbstbestimmter Kompetenzentwicklung im Lebenslauf.

Das vierte Kapitel dient dem Aufspüren einer subjektwissenschaftlichen Lesart im erwachsenenbildnerischen Diskurs. Lerch rekonstruiert die Bedeutung Lebenslangen Lernens für das „reflexive Subjekt“ im Spannungsfeld von Alltagsleben, Erwerbsarbeit und Gesellschaft. Dabei rückt der Autor „das Moment eines lebenstiefen Lernens in den Mittelpunkt“ (121). Im Anschluss an Böhme und eigenen Arbeiten wird Subjekt-Sein „dabei als Lebenskunst verstanden. Im Modus reflexiver Lebensführung ist Bildung zur Lebenskunst eine ‚Erweiterung Lebenslangen Lernens’ hin zu einem lebenstiefen Lernen, dem es um einen Weg des Menschen jenseits ‚bewusstloser Anpassung an gesellschaftliche und berufliche Erfordernisse geht’“ (ebd.).

Im fünften Kapitel erläutert der Autor sein Verständnis einer subjektorientierten Erwachsenenbildung, welche durch „Lebenskunst“ als zentrales Merkmal des Subjektseins in der Diskussion um aktuelle gesellschaftliche Ansprüche bzw. Anforderungen charakterisiert wird. Er bezieht sich dabei auf die Gebiete der allgemeinen/kulturellen, sozialen, politischen, beruflichen sowie betrieblichen Erwachsenenbildung und erörtert „Übergänge und Erträge aus einer subjektwissenschaftlichen Rekonstruktion Lebenslangen Lernens für die jeweiligen Bereiche erwachsenenpädagogischen Handelns“ (149).

Im Bereich der beruflichen Bildung thematisiert Lerch die Herausforderung einer (Neu-)Bewertung von Arbeit und fragt: „Was passiert, wenn sich (Erwerbs-)Arbeit entgrenzt oder wenn sie sich als wesentlich sinnstiftende Instanz der Lebensgestaltung auflöst?“ (170) Gründe dafür sind u.a. die zunehmend drohende Arbeitslosigkeit und prekäre Beschäftigungsverhältnisse für einen immer größer werdenden Teil der Bevölkerung.

Diese Situation bildet für Lerch die Ausgangslage für die Notwendigkeit einer subjektorientierten Bildungsarbeit mit „Lebenskunst“ als Kern (172). Dabei sind wichtige Eckpfeiler: „jenseits der Vermittlung von Wissensbeständen und intellektueller Kompetenzen auch praktische ‚Lebens(kunst)kompetenzen’ für alltägliche Lebensführung und biographisches Handeln der Individuen zu ermöglichen und sie vor einer Totalvereinnahmung durch arbeitsmarktrelevante Charakteristika zu schützen.“ (ebd.)

Das sechste Kapitel dient dem Autor als Bilanz und dem daraus abzuleitenden Bestreben, ein Konzept von Lebenskunst für die Praxis von Erwachsenenbildung zu diskutieren (192). Dieser Schritt stellt eine Annäherung an die Frage von Unterstützungsmöglichkeiten für die individuelle und persönliche Entfaltung des Menschen im Zuge des Lebenslangen Lernens dar und leistet somit einen wichtigen Beitrag in der Erschließung des Stellenwerts des Subjekts in der Erwachsenenbildung, als Wissenschaft sowie Handlungsfeld. Sebastian Lerch leistet mit seiner Forschungsarbeit eine nachvollziehbare Verschiebungsskizze des Phänomens „Lebenslanges Lernen“ auf begrifflicher Ebene und in historischer Dimension im erwachsenenbildnerischen Diskurs.

Lerch erhebt eine kritische Stimme in der bisherigen erziehungswissenschaftlichen und erwachsenpädagogischen Forschung und fordert neben den Fragen über Inhalte und Methodik von Lernen, das „Warum“ näher in den Blick zu nehmen, d.h. nach der Sinnhaftigkeit ständigen Lernens zu fragen (16). Seine Arbeit ist als wertvolle Ergänzung für die bisherige Forschungslandschaft im erwachsenenbildnerischen Diskurs um lebenslanges Lernen zu sehen.

Unter Berücksichtigung des Trends der subjektwissenschaftlichen Forschung erfüllt Sebastian Lerch die Aufgabe einer Kritik an der bisherigen Lesart Lebenslangen Lernens (76) in differenzierter Weise und eröffnet durch die Einführung des Lebenskunstbegriffs eine neue Interpretation bzw. Lesart von Lebenslangen Lernen, welche für einen komplexen Blick für Forschung und Anwendung in der Erwachsenenbildung hilfreich ist.
Kathrin Hendrischk (Koblenz)
Zur Zitierweise der Rezension:
Kathrin Hendrischk: Rezension von: Lerch, Sebastian: Lebenskunst lernen?, Lebenslanges Lernen aus subjektwissenschaftlicher Sicht. Bielefeld: Bertelsmann Verlag 2010. In: EWR 10 (2011), Nr. 2 (Veröffentlicht am 27.04.2011), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978376393346.html