EWR 16 (2017), Nr. 6 (November/Dezember)

Gertraud Diendorfer / Günther Sandner / Elisabeth Turek (Hrsg.)
Populismus – Gleichheit – Differenz
Herausforderungen für die Politische Bildung
(Reihe Wochenschau Wissenschaft)
Schwalbach / Ts.: Wochenschau Verlag 2017
(112 Seiten; ISBN 978-3-7344-0457-3; 12,90 EUR)
Populismus – Gleichheit – Differenz Der Band vereinigt die Beiträge zweier Jahrestagungen der Interessensgemeinschaft Politische Bildung (IGPB) in Österreich. Thematisch geht es um die Herausforderungen im Umgang mit Populismus, Gleichheit und Differenz für die Politische Bildung.
Der erste Teil enthält drei Beiträge, die sich mit dem erstarkenden Populismus in Europa als Herausforderung für die Politische Bildung auseinandersetzen. Trotz der Schwierigkeit, den Populismusbegriff wissenschaftlich zu definieren, gibt es unstrittige Merkmale: Es gibt einen Rekurs auf den „Volkswillen“, eine Gegenüberstellung von Volk und Elite und ein rückwärtsgewandtes Gesellschaftsbild. In programmatischer Hinsicht fungiert Identität als neues Schlüsselthema des rechten Populismus. Wirtschaftspolitisch lösen seit den 1990er Jahren protektionistische Positionen den neoliberalen Kurs ab.
Auch auf „das widersprüchliche Zusammenspiel von Gleichheit und Differenz“ (5) liefert der Populismus scheinbar einfache Antworten. In Demokratien existiert aber grundsätzlich eine Spannung zwischen Gleichheit und Differenz, gerade weil sich Demokratien durch Vielfalt, Pluralität der Lebensformen, Perspektiven und Meinungen auszeichnen. Zugleich ist Gleichheit eine Grundbedingung von Demokratie, z.B. als Gleichheit vor dem Recht und als Chancengleichheit (vgl. 5).
Die Beiträge des Bandes fragen danach, wie sich diese Problematik in der politischen Bildungsarbeit darstellt und wie sie von der Politischen Bildung aufgegriffen werden kann.

Im Eröffnungsbeitrag beleuchtet Frank Decker die Erfolgsgeschichte populistischer Parteien seit den 1990er Jahren im Kontext der europäischen Wirtschafts- und Finanzkrise und der seit 2013 ansteigenden Flüchtlingszahlen in Europa. Zugleich betont Decker, dass die Ursachen für den Wahlerfolg populistischer Parteien system- und kontextspezifisch für die jeweiligen EU-Länder (Nord-Süd-Achse) zu spezifizieren und zu differenzieren sind. Die Herausforderungen für Politik und Politische Bildung liegen Decker zufolge darin, der rechten „Gegenmodernisierung“ ein eigenes, „nicht-regressives Modell einer guten Gesellschaft“ (28) gegenüberzustellen. Es geht für Decker darum, deutlich zu machen, warum eine Politik, die nationale Zuständigkeiten abgibt, dennoch von nationalem Interesse sein kann.

Kathrin Stainer-Hämmerle geht ebenso der Frage nach, wie Politische Bildung auf die durch populistische Parteien ausgelösten Prozesse reagieren kann. Ihre provokante These lautet, dass Populismus für Politische Bildung eine Chance bietet. Ihre Annahme ist, dass bestimmte Bevölkerungsgruppen durch die Thematisierung und Auseinandersetzung mit populistischer Rhetorik und populistischen Inhalten erreicht werden können. Gerade im Unterricht geht es Jugendlichen dann nicht mehr darum, gegen Desinteresse und Apathie anzukämpfen, sondern darum, ins Gespräch über die für sie als wichtig empfundenen Fragen zu kommen. Davon ausgehend kann Politische Bildung aufklärend wirksam werden. Für die pädagogische Praxis entwirft Stainer-Hämmerle einen „Stufenplan für Populismusresistenz“ (37), der u.a. das Entlarven populistischer Strategien in Form der sprachlichen Analyse von Wahlkampfslogans und rhetorischen Tricks enthält. Auf einer grundlegenden Ebene gehören auch Selbstbewusstsein, Integration, positive Zukunftsaussichten sowie Einfühlungsvermögen und Empathie dazu.
Siegfried Schiele fragt in seinem Beitrag, inwiefern der Beutelsbacher Konsens (1976) mit seinen drei Grundsätzen, dem Überwältigungs- und Indoktrinationsverbot, dem Kontroversitätsgebot und der SchülerInnenzentrierung eine wirksame Prävention gegen die Schwarz-Weiß-Malerei populistischer Ansätze sein kann. Eine Chance des Beutelsbacher Konsenses liegt darin, zu vermitteln, „dass die wesentlichen politischen Fragen strittig sind, dass dieser Streit produktiven und konstruktiven Charakter hat und dass eine eigene qualifizierte Meinungsbildung nur in der Auseinandersetzung mit politischen Kontroversen möglich ist [...]“ (45). Wer das gelernt hat, „der ist ziemlich gefeit vor [...] Simplifizierung und vor unausgegorenen Volks-Gemeinschafts-Gedanken [...]“ (45). Schieles Beitrag ist ein Plädoyer für Politische Bildung, welche ihr Potenzial lediglich unter Voraussetzung guter Rahmenbedingungen und öffentlicher Anerkennung entfalten kann.
Die Beiträge im zweiten Teil des Buches behandeln die Spannung zwischen Gleichheit und Differenz in Demokratien: „Denn Demokratien basieren einerseits auf Vielfalt, der Pluralität von Meinungen, Lebensformen und Perspektiven. Andererseits ist aber Gleichheit geradezu essentiell für die Demokratie – als Gleichheit vor dem Recht etwa, als Chancengleichheit, als (zumindest theoretische) Gleichheit in der politischen Partizipation“ (5). Aus diesem Spannungsverhältnis ergeben sich auch Fragen an die Politische Bildung.
Den Auftakt macht Klaus-Peter Hufer mit seinem ‚Argumentationstraining gegen Stammtischparolen’. Hufer versteht Stammtischparolen als Teil der Alltagskultur, die als „Stellvertreterbegriff für eindeutige weltanschauliche, vorzugsweise politische Botschaften, für platte Sprüche und aggressive Rechthabereien [fungieren]“ (53). Zugleich spiegeln sie die psychischen Tiefenschichten der Gesellschaft wider. Die in ihnen geäußerten Vorurteile enthalten immer auch aggressiv gefärbte Abwehrhandlungen, die mit einem verzerrten Realitätsbezug einhergehen. Das ist es, was es so schwer macht, ihnen offensiv zu widersprechen (vgl. 61). Hufer ist optimistisch: Denn Vorurteile sind erlernt und können dementsprechend auch (wieder) verlernt werden. Es lohnt sich also, mit Argumenten und Informationen gewappnet zu sein, da ein Argument beim Gegenüber wirken kann und weil die öffentlichen Plätze nicht den Stammtischparolen-SchwingerInnen überlassen werden dürfen (vgl. 61 f.). Hufer setzt auf die Kraft des besseren Arguments und schließt damit an die Bildungstradition politischer Bildung an.
Dirk Lange und Malte Kleinschmid stellen in ihrem Beitrag das Forschungskonzept Inclusive Citizenship Education vor. Ausgehend von Konzepten interkulturellen Lernens und qualitativ-empirischen Studien zum Thema Migration plädieren sie für eine erweiterte Perspektive, die grundsätzlicher gesellschaftliche Exklusionsmechanismen, zugleich inklusive Denkweisen und Ansätze von Lernenden untersucht und für politische Bildung fruchtbar macht.
Hakan Gürses leitet seinen Beitrag mit dem (o.g.) Spannungsfeld von Gleichheit und Differenz ein. Mithilfe eines kurzen Überblicks über die dazu diskutierten Ansätze in der politischen Theorie führt der Autor in das Konzept der differenzierten Gleichheit ein: „Die differenzierte Gleichheit ist eine Gleichheit, die Differenzen berücksichtigt. In ihr basiert Gleichheit in gewisser Weise auf Differenz“ (7). Gürses fordert, dass Politische Bildung ihre eigene Gewordenheit und gesellschaftlich-kulturelle Einbettung kritisch reflektieren und sich in einer sich verändernden Gesellschaft immer wieder erneuern muss.
Susann Binder diskutiert anhand von Fallbeispielen syrischer Kinder und ihrer Eltern schulische Herausforderungen im Kontext von Flucht und Migration. Als Good Practice-Beispiel schlägt sie ein Interkulturelles Mentoring für Schulen vor, das helfen kann, konstruktiv mit Differenzen, unterschiedlichen kulturellen Lebenswelten, Mehrsprachigkeit und systembedingten Hürden im Klassenzimmer umzugehen. Interkulturelles Mentoring versteht sich als niederschwelliges Angebot. MentorInnen sind Studierende mit Migrationshintergrund, die als AnsprechpartnerInnen und UnterstützerInnen fungieren.

Es sollte deutlich geworden sein, dass die Beiträge des Bandes plural sind. Sie unterscheiden sich inhaltlich, formal und in ihren Ansprüchen an die Leserin und den Leser. Abhängig von der jeweiligen Intention stehen stärker theoretische, empirische und / oder praxisorientierte Zugänge im Vordergrund. Insgesamt wird deutlich, wie sehr auch die Politische Bildung darum ringt, nicht in die Defensive im Umgang mit gesellschaftlichen Schieflagen – hier im Umgang mit Populismus – zu geraten. Perspektivisch wäre zu überlegen, ob neben politikwissenschaftlichen Analysen nicht stärker sozialpsychologische, erziehungswissenschaftliche und soziologische Konzepte und Studien herangezogen werden müssten, um die Mechanismen, die mit Spaltungen und Pluralisierungen in Gesellschaften einhergehen auch emotional und sozial zu verstehen. Klaus-Peter Hufer ist dies in seinem Beitrag zum Workshop-Konzept „Argumentationstraining gegen Stammtischparolen“ (51ff.) überzeugend gelungen.
Insgesamt liefert der Tagungsband einen guten Überblick über die aktuell diskutierten Ansätze Politischer Bildung im Umgang mit Populismus und dem Spannungsverhältnis von Gleichheit und Differenz. Aufgrund der Kürze und der unterschiedlichen inhaltlichen Ausrichtung dienen die Beiträge aber eher einer Anregung zur weiteren Lektüre denn einer tiefer gehenden Auseinandersetzung.
Dr. Susann Gessner (Gießen)
Zur Zitierweise der Rezension:
Dr. Susann Gessner: Rezension von: Diendorfer, Gertraud / Sandner, Günther / Turek, Elisabeth: Populismus – Gleichheit – Differenz, Herausforderungen für die Politische Bildung (Reihe Wochenschau Wissenschaft). Schwalbach / Ts.: Wochenschau Verlag 2017. In: EWR 16 (2017), Nr. 6 (Veröffentlicht am 07.12.2017), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978373440457.html