EWR 20 (2021), Nr. 1 (Januar/Februar)

Friederike Lorenz
Der Vollzug des Schweigens
Konzeptionell legitimierte Gewalt in den stationären Hilfen
Wiesbaden: Springer VS 2020
(404 S.; ISBN 978-3-658-30298-6; 54,99 EUR)
Der Vollzug des Schweigens Es gibt immer noch zu wenig Studien, die differenzierte Erklärungen für die Kontinuität gewalttätiger Übergriffe in der stationären Erziehungs- und Behindertenhilfe geben können. Trotz der Aufarbeitung der gewalttätigen Geschichte dieser Institutionen wurden auch in der jüngeren Vergangenheit Vorfälle bekannt, bei denen über einen längeren Zeitraum Kinder misshandelt und die Taten lange verschwiegen wurden. Einer dieser Vorfälle wird in der Dissertation von Friederike Lorenz genauer analysiert. Diese ist aus einem Forschungsprojekt hervorgegangen, das im Auftrag der Graf-Recke-Stiftung und der Diakonie unter Leitung von Fabian Kessl seit 2013 durchgeführt wurde. In ihrer Studie untersucht Lorenz Übergriffe in der zur Stiftung zugehörigen Wohngruppe „Lernfenster“ – eine Wohngruppe für Kinder und Jugendliche mit geistigen bzw. seelischen Behinderungen wie bspw. ADHS, Autismus und vergleichbaren Wahrnehmens- und Verhaltensbeeinträchtigungen. Die Gewalttaten waren so massiv, dass drei der Beteiligten 2016 strafrechtlich wegen Körperverletzung zu mehrmonatigen Haftstrafen verurteilt wurden. Zu den für das Zeitfenster von 2006 bis zur Aufdeckung 2008 dokumentierten Taten gehörten u.a. stundenlanges Festhalten ebenso wie Essensentzug, Isolation und verbale Demütigungen. Die Täter*innen hatten die Misshandlungen auf Video festgehalten, waren also offenbar überzeugt davon, dass ihre Handlungen richtig waren. Legitimiert hatten die Leiterin und die Mitarbeiter*innen ihre Gewalttaten mit dem „IntraActPlus-Ansatz“ – einem verhaltenstherapeutischen Konzept, das in der Wahrnehmung der Beteiligten als besonders erfolgreich bei der „Behandlung“ abweichenden Verhaltens galt und das auch heute noch in manchen Fortbildungen verwendet wird.

Das Datenmaterial des Projektes – Expert*inneninterviews mit Fach- und Haushaltskräften sowie Mitarbeiter*innen verschiedener Leitungsebenen der Einrichtung, der Qualitätssicherung und der Heimaufsicht sowie das Übergabebuch als eine „interaktive Selbsterzählung des Teams“ – nutzte Lorenz zur Bearbeitung ihrer eigenen Fragestellung. Sie stellt einleitend die „Fallvignette“ vor, die sie mit der Einstellung der späteren Leiterin des „Lernfensters“ 2003 und ihrer Fortbildung im „IntraActPlus-Ansatz“ beginnen lässt. Lorenz sieht in diesem Ansatz nicht die Ursache für die Gewalt, aber doch eine Möglichkeit der Legitimierung (S. 160). Sie interessiert sich insbesondere für die „organisationalen Praktiken“ des Verschweigens und der jahrelangen De-Thematisierung.

Nach einem Blick auf den Forschungsstand widmet sich Lorenz im zweiten Kapitel der genaueren Bestimmung der Begriffe „Macht“, „Machtmissbrauch“ und „Gewalt“ in der stationären Erziehungshilfe. Dabei orientiert sie sich vor allem am Machtbegriff Hannah Arendts und den Analysen von Klaus Wolf (Machtasymmetrien in der Heimerziehung). Machtausübung – so argumentiert sie mit Arendt – sei an den Konsens derer gebunden, über die Macht ausgeübt wird. Anderenfalls handele es sich um Machtmissbrauch, insbesondere, wenn Worte nicht die tatsächlichen Handlungen beschreiben. Im dritten Kapitel hebt Lorenz die Relevanz des Schweigebegriffes in den Prozessen der Aufarbeitung von (sexueller) Gewalt hervor. Schweigen meint hier auch nicht nur ein Nicht-Sagen, sondern auch ein Wechselverhältnis von Thematisierung und De-Thematisierung.

Im vierten Kapitel geht Lorenz auf die Traditionen des Schweigens ein: von altägyptischen Schweigeidealen, über die Schweigelehren von Pythagoras zu den Schweigegeboten der christlichen Klöster bis zur Auseinandersetzung zwischen Heidegger und Arendt und zur Gedenkstättenpädagogik. In diesem Kapitel wird nicht immer deutlich, worin die Relevanz für die konkrete Fallanalyse oder für die Thematik besteht. Vieles wird angerissen, was der Autorin sicher dazu diente, ihre Thematik zu verorten. Für die Publikation hätte eine deutlichere Gewichtung der relevanteren Themen (etwa eine tiefere Auseinandersetzung mit dem Tabu) vorgenommen werden können. Schließlich findet Lorenz bei Arendt einen für sie tauglichen Begriff des Schweigens: Als Gegensatz zum Reden über menschliche Handlungen, das zum Verständnis unabdingbar ist, ist die Gewalt stumm. D. h., dass das Reden über gewalttätige Handlungen diese in der Regel nicht als solche benennt, sondern verschleiert – wie es auch im untersuchten Fall geschah. Schließlich beleuchtet Lorenz, dass es unterschiedliche Arten und Motive das Schweigens gibt: Schweigen aus Scham, Schuld und Selbstschutz oder um (Mit-)Täter*innen zu schützen. Es gibt hilfloses oder unbeholfenes, feiges oder strategisches Schweigen oder eines, weil die Worte fehlen. Schweigen meint auch, wegsehen und nicht-wissen-wollen (S. 123).

Nach der Skizzierung der method(olog)ischen Zugangsweise in Kapitel fünf wird im Kapitel sechs zunächst noch einmal das Feld der Eingliederungshilfe für behinderte Kinder und Jugendliche dargestellt. Deutlich wird, dass die Kinder und Jugendlichen wegen ihrer geistigen Beeinträchtigung einerseits und wegen der Begrenztheit von Beschwerdestrukturen andererseits gehindert waren, sich zu wehren (S. 187). Das Gruppenkonzept liest Lorenz durch die analytische Brille von Erving Goffman (totale Institution) und Lewis A. Coser. Letzterer unterscheidet zwischen der totalen und der gierigen Institution, welche auf Freiwilligkeit und Attraktivität für die potenziellen Mitglieder fußt. Gierige Institutionen haben einen sektenähnlichen Charakter, üben Druck aus und isolieren ihre Mitglieder von der Außenwelt. Im Gruppenkonzept war bereits zu lesen, dass es zu „wertfreien“ Belohnungen und Bestrafungen kommen sollte. Insbesondere Bestrafungen sollten „sekundenschnell“ und konsequent erfolgen, weil sie sonst nicht wirkten – dies sei eine evolutionsbiologische Tatsache. Im Konzept wird weiter beschrieben, dass man Körperblockaden überwinden wolle durch eine „körperorientierte Interaktionstherapie (KIT)“ (S. 197). Damit sollten die Bewohner*innen gezwungen werden, Beziehungen aufzunehmen. Beim Festhalten sei darauf zu achten, dass das Kind der Nähe nicht ausweichen kann (für autistische Kinder kann dies im Übrigen eine besondere Qual sein). Schließlich nimmt Lorenz in diesem Kapitel die Organisation in den Blick: die Heimaufsicht und die „Leistungsträger“. Deutlich wird hier (wenn auch nicht weiter ausgeführt), welchen Anteil die zu diesem Zeitpunkt dominanter werdende betriebswirtschaftliche Perspektive bei der Durchsetzung des IntraActPlus-Konzeptes hatte. Es ging um Behandlungserfolge, um die Vermeidung der Überweisung in die Psychiatrie und das Versprechen, in einer neuen Gruppe die „besonders Schwierigen“ in der Institution zu halten, damit die „Zahlen stimmen“ (S. 220). Nachfragen und fachliche Diskussionen über einzelne Fälle habe das Einrichtungsklima nicht ermöglicht.

Ab Kapitel sieben (S. 237ff.) gelingt der Autorin eine dichte Beschreibung des viel zu langsamen Prozesses der Aufdeckung der Gewalttaten. Sie zeichnet nach, wie er an verschiedenen Zeitpunkten immer wieder unterbrochen wurde: durch direkte Schweigegebote, durch Verschleiern, durch ein Schweigen nach dem Schweigebruch. Erschütternd ist, dass es mehrerer Zufälle bedurfte, bis die Gewalt zur Sprache kam: drei Mitarbeiter*innen der Wohngruppe unterhielten sich erstmals auf einer Fortbildung über ihr Unbehagen, was ihre „Behandlungsmethoden“ betraf. Die Bereichsleitung, die zunächst ein Redeverbot verhängt hatte und lediglich die Leitungskraft „freistellte“, wechselte. Der einzige Jugendliche des „Lernfensters“, der sich verbal äußern konnte, wurde von seinem neuen Bezugsbetreuer ernstgenommen. Die neue Bereichsleitung war an der Aufdeckung interessiert. Und auch im Vorstand hatte ein Wechsel stattgefunden. Der neue Vorstand verlangte eine Aufklärung. Erst da erstattete der Träger eine Selbstanzeige.

Lorenz fasst ihre Befunde wie folgt zusammen: Es habe gegenüber den Eltern der betroffenen Kinder ein Schweigen im Reden gegeben, d.h. häufige Telefonkontakte, in denen den Eltern verheißen wurde, ihre Kinder würden durch das Konzept wieder „normal“ werden. Die anderen Mitarbeitenden des Trägers hätten ein Schweigen durch Wegschauen praktiziert, welches wie Zustimmung wirkte. Zwar habe es einzelne Versuche gegeben, das Beobachtete zu thematisieren, es sei aber nicht weiterverfolgt worden, um den “Burgfrieden“ zu wahren (S. 354). Nur so sei zu erklären, warum es Jahre dauerte, bis es zum Prozess kam.

Die vorliegende Studie ist ein wichtiges Buch. Sie stellt die Struktur- und Prozessebenen dar, auf denen Gewalt in Institutionen verhindert bzw. aufgedeckt werden kann. Im empirischen Teil der Studie ist die Dynamik eines Teams zu erkennen, das sich sektenähnlich entwickelt mit dem Heilsversprechen, behinderte Kinder und Jugendliche durch konsequente negative Verstärkung in der Einrichtung zu halten. Das Schweigen spielt hier eine Rolle in Bezug auf die euphemistische Beschreibung der gewalttätigen Sanktionen. Bei der Bewertung des Falles hätte der zeitgeschichtliche Kontext erwähnt werden können. Nach der Jahrtausendwende gab es viele Stimmen, die ein Ende der angeblichen (antiautoritären) „Kuschelpädagogik“ forderten [1]. Erziehung nach Verstärkerplänen mit der „stillen Treppe“ (Supernanny) war damals auch in den Medien sehr populär. Und im Gesamtbereich der Sozialen Arbeit setzte sich die Idee durch, dass es vor allem um „Erfolge“, d.h. um schnelle Problemlösungen gehen sollte. Das „Lernfenster“ war in diesem Sinne „erfolgreich“: eingeschüchtert durch die Gewalt verhielten sich die Bewohner*innen – zumindest für kurze Zeit – weniger aggressiv und „abweichend“.

Die in dem vorliegenden Buch dokumentierte Gewalt war ein Extremfall. Aber den Graubereich – einen nicht-wertschätzenden Umgang mit vulnerablen Gruppen – gibt es vermutlich weit häufiger.

[1] Bueb, Bernhard (2006): Lob der Disziplin. Eine Streitschrift. 4. Aufl. Berlin: Ullstein.
Carola Kuhlmann (Bochum)
Zur Zitierweise der Rezension:
Carola Kuhlmann: Rezension von: Lorenz, Friederike: Der Vollzug des Schweigens, Konzeptionell legitimierte Gewalt in den stationären Hilfen. Wiesbaden: Springer VS 2020. In: EWR 20 (2021), Nr. 1 (Veröffentlicht am 23.02.2021), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978365830298.html