EWR 17 (2018), Nr. 3 (Mai/Juni)

Eckermann, Torsten
Kinder und ihre Peers beim kooperativen Lernen
Differenz bearbeiten – Unterschiede herstellen
Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2017
(371 S.; ISBN 978-3-658-15751-7; 49,99 EUR)
Kinder und ihre Peers beim kooperativen Lernen Fragen eines professionellen Umgangs mit Vielfalt sowie der Umsetzung eines gemeinsamen Lernens im Unterricht werden in der Unterrichtsforschung zunehmend thematisiert. Torsten Eckermann leistet mit seiner Studie aus einer soziologischen Perspektive hierzu einen Beitrag, in dem er den interaktiven Ablauf zwischen den gleichaltrigen Grundschulkindern im kooperativen Unterricht zum Forschungsgegenstand macht. Sein Ansatz ist innovativ, weil Unterschiede hier als die Momentaufnahme einer Interaktions- und Handlungspraxis von gleichaltrigen Schülerinnen und Schüler in den Lernsituationen verstanden werden, innerhalb derer ihnen Bedeutung verliehen wird (15ff).

Er begründet sein Forschungsvorhaben mit dem aus seiner Sicht unzureichenden Blick auf Peer-Interaktionen beim Erwerb des fachlichen Wissens im schulischen Unterricht sowie übertriebener Aufmerksamkeit zu externalisierten Differenzen bei der Schülerschaft. Mit seiner Forschung legt er einen Fokus auf die Peer-Interaktionen, indem er die soziale Wirklichkeit der Grundschulkinder im kooperativen Unterricht und die dabei entstehende Ordnung mittels indirekter Beobachtungen analysiert. Bewusst verzichtet der Autor auf die Fokussierung der extern festgestellten Differenzen von Grundschulkindern wie Geschlecht, Milieu, Alter, Leistung und Migrationsstatus. Unter anderem begründet er dies damit, dass bislang die Leistungen der Schülerinnen und Schüler in Schulleistungsvergleichsstudien wie PISA primär durch die ‚statischen‘ Differenzen wie soziale Herkunft und Migrationshintergrund erklärt werden. Dagegen richtet Eckermann seinen Blick auf die von den Grundschulkindern interaktiv hergestellten Unterschiede beim kooperativen Lernen und macht es sich zur Aufgabe, die Schülerinnen und Schüler als Hauptakteurinnen und -akteure differenzfrei zu beobachten und neues Wissen aus Sicht der Peers zu generieren. In seinem Forschungsanliegen bezieht er sich auf die Konzepte des „doing difference“ (39ff), des „Kindes als Akteur“ (59ff) sowie der „generationalen Ordnung“ (59ff).

Im theoretischen Abschnitt erfolgt eine bilanzierende sowie interdisziplinäre Analyse des Diskurses zu den Stichworten Kultur, (soziale) Differenz, Anerkennung des Differenten und (Un-)Gleichheit / (Chancen-)Gleichheit. Dabei thematisiert er auch aus der Sicht entwicklungspsychologischer, sozialisationstheoretischer, ungleichheitsbezogener, ethnografischer und kulturanalytischer Gleichaltrigenforschung die Rolle der Peer-Beziehungen von Kindern, wobei ein Schwerpunkt auf das gemeinsame Lernen liegt. Zu den allgemeindidaktischen Inhalten der theoretischen Analyse gehören Fragen zum Umgang von Lehrkräften mit Differenzen im Unterricht sowie deren Anpassung zu soziokulturellen Normen. Anregend sind hier Eckermanns kritische Reflexion der Bemühungen der Lehrerschaft um individualisiertes Lernen im Unterricht und die damit verbundene Bewertung von Unterrichtskonzepten, welche, seiner Meinung nach, auch für Ignoranz von Unterschieden und Hervorheben der unerwünschten Differenzen bei der Schülerschaft sorgen.

Für die Untersuchung der sozialen Praktiken von und durch Schülerinnen und Schüler nutzt der Autor die vorhandenen videografierten Daten aus dem DFG-Projekt „KoText - Kooperative Schülerrückmeldungen bei der Textüberarbeitung im Deutschunterricht der Grundschule“. Diese wurden unabhängig von seiner Studie im Kontext einer ethnografischen Interaktionsforschung mit Hilfe einer stationär installierten Videokamera aufgenommen und zeigten Interaktionen von Lerngruppen mit je drei Schülerinnen und Schülern aus unterschiedlichen Schulen. Die Lerngruppen standen vor der Aufgabe, ihre Handlungen wechselseitig aufeinander abzustimmen und in face-to-face Situationen soziale Ordnungen untereinander auszuhandeln. Bei der Analyse der Interaktionen identifiziert der Autor folgende vier spezifische Handlungssequenzen: (1) das Warten (auf die Lehrerinstruktion zum Arbeitsauftrag) und das Anfangen (mit der Aufgabenbearbeitung innerhalb der Gruppe); (2) die Bestimmung der Reihenfolge (bei der Durchführung des Arbeitsauftrages); (3) das Vorlesen (des verfassten Textes vor den Mitschülerinnen und Mitschülern innerhalb der Kleingruppe) und das Zuhören (beim Vorlesen); (4) das Geben mündlicher Rückmeldungen zum vorgelesen Text (167-169ff).

Seine Analyse, die sich aus einer Kombination von mikroethnografischen Verfahren und Dokumentarischer Methode zusammensetzt, weist dabei Abweichungen zur ausschließlich Dokumentarischen Methode auf, und wird vom Autor als praxeologisch-dokumentarische Sequenzanalyse bezeichnet (330ff). Der Autor wandelt die ausgewählten Daten aus der mikroethnografischen Interaktionsforschung des DFG-Projektes in Textprotokolle um und interpretiert diese mit der Dokumentarischen Methode, ohne Kausalzurechnung auf einen individuellen oder gruppenbezogenen Habitus der Schülerinnen und Schüler vorzunehmen. In Analogie zur formulierenden und reflektierenden Interpretation geht Eckermann von der Beschreibung, (1) „was die Schülerinnen und Schüler tun“, über zur Rekonstruktion dessen, (2) „wie sie es tun“, (3) mit wem und in welcher Abfolge (159ff). Der Autor betont, dass seine Interpretationen weniger Protokolle des Originals sind, sondern eher „Schaubilder“ (159) darstellen. Er sieht besonderes Potenzial darin, dass zum Vergleich zum Tonband, welches nur die „O-Töne“ produziert, „...etwas in Sprache überführt wird...“, u.a. ein aufgesetztes Lachen, ironische Gesten, „...das vorher nicht Sprache war...“ (159ff) und benennt seine schriftlichen Fixierungen der Beobachtung als „Artefakte“ (160). Die gewonnenen Ergebnisse fasst Eckermann zusammen, in dem er schlussfolgert, dass im schulischen Alltag unter Kindern und ihren Peers selbstverständlich multiple Differenzen, u.a. Geschlecht, Alter, Milieu, Leistungen behandelt und bearbeitet werden. Den schulischen Umgang mit diesen bezeichnet er als einen „Multi-Differenzismus“, mit dem er die im Jahre 1975 eingeführte These „Teachers make a difference“ um die Perspektive „Peers make a difference“ erweitert (328ff).

Im Fazit der Untersuchung entwickelt Eckermann eine Reihe weiterer methodischer Zugänge zum Thema. Auch die Beantwortung der Frage, „[we]lche Differenzen, wann und wo in der Unterrichtspraxis in Kraft treten und welche Differenzen sich wann und wo wieder verflüchtigen oder unterlaufen werden“ (326), gibt der Autor an zukünftige Forschungsarbeiten weiter.

Bilanzierend lässt sich zusammenfassen, dass die Erkenntnisse seiner Studie über die festgestellten Unterschiede, wie die Temporalisierung und die Herstellung von (Un-) Aufmerksamkeit für schulische Inhalte und die eigene Person, sowie der schulische Umgang mit diesen, die Unterrichtsforschung bereichern. Der gewählte Zugang über die sozialen Selbstinszenierungspraktiken der Schülerinnen und Schüler erweitert bisherige Forschungsansätze und stellt die Bedeutung personenbezogener Differenzen beim gemeinsamen Lernen aus der Sicht der Schülerschaft heraus. Ferner zeigt Eckermann auf, welche Wirkung diese auf das interaktiv entstehende Soziale haben und von den Schülerinnen und Schülern selbst bearbeitet werden.

Seine wissenschaftlichen Erkenntnisse könnten für Grundschullehrkräfte von Bedeutung sein, insbesondere mit Blick auf das kooperative Lernen im Allgemeinen sowie bezüglich der Schülerinnen und Schüler als ‚zweite Pädagogen‘ im Speziellen, um diese mit in die Unterrichtspraxis einzubeziehen.
Julia Koinova-Zöllner (Dresden)
Zur Zitierweise der Rezension:
Julia Koinova-Zöllner: Rezension von: Torsten, Eckermann,: Kinder und ihre Peers beim kooperativen Lernen, Differenz bearbeiten – Unterschiede herstellen. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2017. In: EWR 17 (2018), Nr. 3 (Veröffentlicht am 06.07.2018), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978365815751.html