EWR 17 (2018), Nr. 1 (Januar/Februar)

Malte Brinkmann / Marc Fabian Buck / Severin Sales Rödel
Pädagogik – Phänomenologie
Verhältnisbestimmungen und Herausforderungen
Wiesbaden: Springer VS 2017
(482 Seiten; ISBN 978-3-658-15742-5; 59,99 EUR)
Pädagogik – Phänomenologie Der Sammelband Pädagogik – Phänomenologie. Verhältnisbestimmungen und Herausforderungen setzt sich, wie die Herausgeber Malte Brinkmann, Marc Fabian Buck und Severin Sales Rödel im Vorwort bemerken, zum Ziel, die produktiven Wechselwirkungen zwischen theoretisch und empirisch arbeitender Erziehungswissenschaft einerseits und Phänomenologie andererseits auszuloten. Der Band geht hervor aus dem dritten Symposion zur Phänomenologischen Erziehungswissenschaft, das im September 2015 an der Humboldt-Universität Berlin stattfand. Die zunehmende Institutionalisierung und Internationalisierung einer dezidiert Phänomenologischen Erziehungswissenschaft legen nahe, dass es derzeit zahlreiche und vielfältige Wechselwirkungen zwischen Pädagogik und Phänomenologie gibt. Zu zeigen, wie diese sich historisch herleiten bzw. aus rezenten Problemlagen und Diskurskonstellationen heraus erklären lassen, ist ein Kernanliegen dieses Bandes.
Die Phänomenologie behandelt seit ihrer Grundlegung Anfang des 20. Jahrhunderts nicht nur pädagogisch relevante Themen – wie die Genese des Subjekts in seiner Lebenswelt, seine Wahrnehmung und Interaktion mit Mitmenschen und Umwelt –, sie bietet auch eine Methodologie an, die es erlaubt, subjektive Erfahrungen zu beschreiben und zu analysieren. Die bekannte phänomenologische Losung „Zu den Sachen selbst“ mit ihrer Konzentration auf die beobachtende Auseinandersetzung mit der Welt, bietet nicht nur für die Philosophie, sondern auch für die Erziehungswissenschaft die Möglichkeit, objektivierende Zugriffe zu problematisieren und den Blick auf das, was sich von sich her zeigt, zu richten. Die Beiträge des Sammelbandes widmen sich zum einen phänomenologisch einschlägig thematisierten Spannungsfeldern wie Individuum und Gesellschaft, Subjektivierung und Sozialisierung, Freiheit und Determiniertheit. Zum anderen ziehen sie phänomenologische Untersuchungsweisen zur Beschreibung von pädagogischen Erfahrungsräumen heran. Insbesondere Begriffe wie Erfahrung, Lernen, Praxis und Leiblichkeit finden sich in den Texten an zentralen Stellen.

Die Einleitung des Bandes zeigt, wie groß die Anschlussmöglichkeiten phänomenologischer Theorien, Methoden und Denkstile für die erziehungswissenschaftliche Reflexion und Forschung sind. Die 20 Beiträge internationaler Autor_innen aus den Bereichen der Allgemeinen Erziehungswissenschaft, der Frühpädagogik, der Schulpädagogik, der Philosophie und der Psychologie umfassen neben an klassisch phänomenologischen Theorien orientierte Auseinandersetzungen freiere Adaptionen phänomenologischer Zugangsweisen. Die Lektüre des Buches bietet sich durch diese Breite und einen Mix aus voraussetzungsreicheren und weniger voraussetzungsreichen Beiträge daher für Bildungstheoretiker_innen und Theoriehistoriker_innen ebenso an wie für qualitative Empiriker_innen, Wissenschaftler_innen aus angrenzenden Disziplinen wie der Philosophie oder der Psychologie wie auch praktisch arbeitende Pädagog_innen.
Trotz der unterschiedlichen Ansätze geben die Autor_innen des Bandes ähnliche Antworten auf die Frage, was der genuine Beitrag phänomenologischen Denkens für die Erziehungswissenschaft sein kann: Phänomenologie liefert als „Erfahrungswissenschaft“ (Husserl) nicht nur ein theoretisches, sondern auch ein methodisches Inventar, um Erfahrungen, Praktiken, lebensweltliche Situationen deskriptiv zu erfassen und zu analysieren. Sie kann so nicht nur zur Deskription pädagogischer Erfahrungen anhalten, sondern auch die Erziehungswissenschaft herausfordernde epistemologische und methodische Fragen aufwerfen. Durch ihre kritische Haltung ruft sie dazu auf, hinter bestehende Normen und Selbstverständlichkeiten zurückzufragen. Sie zeigt hier einen erfahrungsorientierten Zug, der sich auch darin manifestiert, dass der Mensch als leibliches, in eine konkrete Lebenswelt eingelassenes Wesen gilt und nicht als abgehobenes Subjekt. Schließlich liefert die Phänomenologie neben theoretischen und methodischen auch praktische Impulse für erziehungswissenschaftliches Denken, Forschen und Handeln. Sie erlaubt es, den Blick weg von einer objektivierten Zuschreibung hin zum subjektiven Erfahren zu machen, das Lernen als Erfahrung beschreibbar macht. Daneben kann sie pädagogisch dabei unterstützen, den Blick zu öffnen sowie sensibler und empfindsamer zu machen.

Unter den Beiträger_innen herrscht eine relativ einhellige Meinung darüber, was die Phänomenologie für eine Erziehungswissenschaft leisten kann. Dabei konzentrieren sich die in vier Teile (I. Pädagogik – Phänomenologie: Systematische und historische Studien, II. Pädagogische Phänomene, III. Pädagogik und Phänomenologie in der Schule, IV. Phänomenologie als Praxis pädagogischer Forschung) gruppierten Texte auf unterschiedliche Facetten des phänomenologischen Denkens und Forschens. In einer historischen und systematischen Zusammenschau präsentieren die Autor_innen des ersten Teils unterschiedliche Gründungsmotive und -momente einer phänomenologischen Erziehungswissenschaft. Diese kann etwa von einer historischen Besinnung ihren Ausgang nehmen und sich die phänomenologische Tradition in ihren differenzierten Möglichkeiten zu Bewusstsein führen, deren Wert für die Erziehungswissenschaft sie dann abwägt (Brinkmann, Tarozzi), oder sie kann direkter über ein Entdecken neuer Forschungsperspektiven anheben, die sich durch einen phänomenologischen Blick eröffnen (Schwarz).

Der zweite Teil des Bandes fokussiert auf die Exploration konkreter Phänomenbereiche. Hier widmen sich die Autor_innen in erster Linie erziehungswissenschaftlich relevanten Problemen, deren Lösung mit Rückgriff auf die Phänomenologie vorgeschlagen wird. Vom Problem der Negativität (Rödel) über das pädagogische Verhältnis (Friesen, Waldmann und Preußentanz), Verletzlichkeit und Leiblichkeit (Orlikowski) bis zu Freiheit (Yun) und Krise (Antoniou und Karavakou) werden dabei unterschiedliche Themenfelder angesprochen. Das Verhältnis zwischen Pädagogik und Phänomenologie wird dabei großteils über das Verhältnis von phänomenologischer Theorie und erziehungswissenschaftlicher Reflexion aufgerollt. Eine (Selbst-)Problematisierung der Voraussetzungen phänomenologischen Denkens kommt dabei bisweilen zu kurz.

Im dritten Teil, der sich einer Erprobung des erziehungswissenschaftlichen Nutzens phänomenologischer Stile und Methoden im Kontext der Schule widmet, zeigt sich, dass ein produktiver, aber daher keinesfalls unkritischer Umgang mit der Phänomenologie gerade dort fruchtet, wo sich das methodische Inventar phänomenologischen Forschens beweisen muss. Nicht allein die erziehungswissenschaftliche Reflexion kann von der Phänomenologie, auch die phänomenologische Theoriebildung kann ihrerseits von einem Blick profitieren, der die Möglichkeiten der Phänomenologie kritisch abwägt (Vlieghe, Bors, Verbeek und Stevens). Die Schwierigkeiten, die sich auftun, wenn eine Phänomenologie der Praxis etwa in eine Praxis der Phänomenologie überführt werden soll, sind hier besonders aufschlussreich. Sie können die Gefahr einer Idealisierung der phänomenologischen Haltung zu Bewusstsein führen, wie sie sich bei der Anwendung der Theorie für die beobachtende Praxis beispielhaft zeigt.

Der abschließende Teil des Bandes gibt Zeugnis davon, wie viel auch die Phänomenologie von der Reichhaltigkeit des pädagogischen Feldes und seiner Untersuchungsweisen lernen kann, sei es in Bezug auf eine Analyse von Räumen (Simms), eine Auseinandersetzung mit kindlichen Erfahrungen (Pfrang und Rauh) oder eine Beschreibung von Lernsituationen (Eckart und Schratz, Agostini, Peterlini). Dieser Teil bietet fruchtbare Impulse, um das Potential der Phänomenologie in einer Zeit, in der eine rein theoretisch und argumentativ arbeitende Philosophie mehr und mehr unter Verdacht gerät, gerade durch ihre vielfältigen Fortschreibungen in der qualitativ arbeitenden Erziehungswissenschaft zu nutzen und weiter zu entwickeln. Er unterstreicht mit seinen neuen Perspektiven für qualitative Untersuchungen zudem eine Alternative zur quantitativ evidenzbasierten Forschung.

Auch wenn die Grundüberzeugungen den pädagogischen Nutzen der Phänomenologie betreffend über den Band hinweg großteils geteilt werden, wird die Beziehung zwischen Pädagogik und Phänomenologie so insgesamt doch sehr unterschiedlich aufgerollt. Jene Zugänge, die sich v.a. am Ende des ersten Teils und im zweiten Teil des Bandes finden (Stenger, Stieve, Rödel, Friesen, Waldmann und Preußentanz, Orlikowski, Yun, Antoniou und Karavakou) und welche sich einer Affirmation phänomenologischer Konzepte verschreiben, können erklären, warum der Phänomenologie ein Platz in der Erziehungswissenschaft zugesprochen werden sollte. Sie sind insbesondere für philosophisch interessierte Erziehungswissenschaftler_innen interessant. Soll verständlich werden, wie eine Beziehung zwischen Pädagogik und Phänomenologie aussieht, die sich aus einem interdisziplinären Verhältnis heraus versteht, dann gilt es zu zeigen, wo nicht nur die Erziehungswissenschaft, sondern auch die Phänomenologie auf die jeweils andere Disziplin angewiesen ist, um ihre eigenen Voraussetzungen zu prüfen. Solchen Herausforderungen zu begegnen, gelingt in den hier versammelten Texten vor allem dort, wo Forschungsdesiderate oder (Praxis-)Felder beschrieben werden, die die Grenzen einer rein phänomenologischen Betrachtung sprengen, wenn Phänomenologie für die pädagogische Praxis angewandt (Vlieghe, Bors, Verbeek und Stevens) bzw. ihre Methoden für qualitative erziehungswissenschaftliche Untersuchungen adaptiert werden (Simms, Pfrang und Rauh, Eckart und Schratz, Agostini, Peterlini). Diese Abhandlungen sind sowohl für qualitativ arbeitende, für theoretisch forschende als auch für praktisch tätige Pädagog_innen lesenswert, die ein Interesse an der kritischen Überprüfung und Fortschreibung ihres eigenen Standpunktes haben. Sie können aber gerade auch Philosoph_innen neue Ideen davon geben, wie vielfältig phänomenologisches Denken und Forschen sich ausgestalten kann.
Iris Laner (Wien)
Zur Zitierweise der Rezension:
Iris Laner: Rezension von: Brinkmann, Malte / Buck, Marc Fabian / Rödel, Severin Sales: Pädagogik – Phänomenologie, Verhältnisbestimmungen und Herausforderungen. Wiesbaden: Springer VS 2017. In: EWR 17 (2018), Nr. 1 (Veröffentlicht am 26.02.2018), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978365815742.html