EWR 16 (2017), Nr. 5 (September/Oktober)

Maria Richter
Berufsorientierung von Hauptschülern
Zur Bedeutung von Eltern, Peers und ethnischer Herkunft
Wiesbaden: Springer VS 2016
(285 Seiten; ISBN 978-3-658-12825-8; 39,99 EUR)
Berufsorientierung von Hauptschülern Jedes Individuum hat in seiner (Bildungs-)Biographie mehrere Übergänge zu bewältigen. Für manche Personen stellen diese Phasen keine besondere Herausforderung dar, andere wiederum benötigen eine mehr oder weniger starke Unterstützung und Vorbereitung, damit die Begegnung mit beispielsweise neuen Institutionen, Aufgaben und Personen und somit der Übergang möglichst problemlos verlaufen kann. Der Übergang von der Schule in den Beruf entspricht einer der komplexeren dieser Phasen. Die Jugendlichen haben in diesem Alter neben ihrer Selbstfindung auch die Entscheidung bezüglich ihrer beruflichen Zukunft zu treffen, die Folgen für den weiteren Werdegang hat. Neben den Fähigkeiten, Interessen und Wünschen des Individuums beeinflussen schulische Voraussetzungen, Arbeitsmarktlage, Familie, Freunde und weitere Faktoren die Entscheidungen in dieser Phase erheblich.

Das vorliegende Buch von Maria Richter, das zugleich als Dissertation an der Freien Universität Berlin im Jahre 2014 angenommen und während ihrer Tätigkeit als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Soziologischen Forschungsinstitut Göttingen entstand, greift die Thematik der Berufsorientierung und insbesondere die Berufsorientierung von Hauptschülerinnen und Hauptschülern auf. Die Aktualität ist unumstritten, stimmen Schlagworte wie unbesetzte Ausbildungsplätze und Fachkräftemangel doch bezüglich der Berufswahlentscheidungen von Jugendlichen nachdenklich. Maria Richter fokussiert in ihrer Arbeit die Bedingungsfaktoren der Berufsorientierung von Hauptschülerinnen und Hauptschülern unter besonderer Berücksichtigung von Eltern, Peers und ethnischer Herkunft. Die von ihr untersuchten Aspekte der Bedeutung von Peers und der Bedeutung ethnischer Herkunft wurden in bisherigen Forschungen wenig beachtet bzw. nicht ausreichend differenziert betrachtet.

Die Datengrundlage für ihre Forschung stammt von niedersächsischen Hauptschülerinnen und Hauptschülern der 8. bzw. 9. Klasse und wurde vom Soziologischen Forschungsinstitut Göttingen für die Evaluation der Projekte „Abschlussquoten erhöhen – Berufsfähigkeit steigern 1 und 2“ und „Vertiefte Berufsorientierung und Praxisbegleitung“ quantitativ erhoben.

In der Einleitung werden neben dem Aufbau der Arbeit auch die Gründe für die Auswahl der untersuchten Aspekte benannt. Im zweiten Kapitel findet die Vorstellung des Berufsorientierungsprozesses im Allgemeinen statt. Hierbei erfolgt die Betrachtung der beruflichen Orientierung als sozialer Prozess und bleibt somit nicht lediglich auf die subjektive Perspektive des Individuums beschränkt, sondern bezieht das familiäre (Eltern) und schulische Umfeld (Peers) sowie die ethnische Herkunft mit ein. Die Begründung der Fokussierung institutioneller Kompositionseffekte erfolgt im Kapitel drei. In diesem Fall erforscht dieser Ansatz mögliche Einflüsse der Zusammensetzung (bspw. ethnische, sozioökonomische, leistungsbezogene) der Schülerschaft innerhalb einer Klasse auf deren Berufsorientierung. Anschließend folgt die Darstellung der Einflüsse von Eltern und Peers mit der Aufstellung von insgesamt vier Hypothesen, die in diverse Unterpunkte aufgegliedert werden. Die Zuordnung der Hypothesen in Individual-, Schulklassen- und Gruppenebene ermöglicht zudem eine ausführliche Betrachtung der Thematik.

Die Besprechung der Datengrundlage und des methodischen Vorgehens erfolgt in Kapitel 5. Vor der Zusammenfassung und den Schlussfolgerungen werden in den vorletzten drei Kapiteln die Ergebnisse der empirischen Analyse vorgestellt. Der sechste Abschnitt arbeitet somit den Stand der Berufsorientierung der Untersuchungsgruppe heraus und fokussiert auf Gemeinsamkeiten und Differenzen diesbezüglich unter Berücksichtigung von vorhandenem oder nicht vorhandenem Migrationshintergrund. Bei der Gruppe der Jugendlichen mit Migrationshintergrund wird weiter nach der eigentlichen ethnischen Herkunft differenziert. Kapitel 7 verdeutlicht den Einfluss der Eltern auf die berufliche Orientierung und die Individualebene. Hierbei werden die Berufsorientierung prägende Faktoren herausgefiltert und erneut auf die ethnische Herkunft bezogen überprüft. Das letzte Ergebniskapitel zeigt unter Bezugnahme auf institutionelle Kompositionseffekte auf, wie sich Mitschülerinnen und Mitschüler innerhalb einer Klasse gegenseitig beeinflussen und welche Rolle der ethnischen Herkunft zukommt.

Maria Richter fasst in ihrer Arbeit Peers insbesondere als Mitschülerinnen und Mitschüler der Klassengemeinschaft zusammen. Durch diesen Ansatz sollen mögliche institutionelle Kompositionseffekte auf die Berufsorientierung der Schülerinnen und Schüler einbezogen werden. Richter strebt eine ganzheitliche Betrachtung einer möglichen Einflussnahme von bspw. kulturellen Aspekten oder dem Migrationshintergrund (eigene Migration oder bereits 2. Generation) an. Für die Analyse werden Jugendliche mit türkischem Migrationshintergrund und solche aus der ehemaligen Sowjetunion, also die zwei größten Migrantengruppen, ausgewählt und Jugendlichen ohne Migrationshintergrund gegenübergestellt. Durch diese Vorgehensweise gelingt es Richter zu überprüfen, inwiefern Schülerinnen und Schüler aufgrund der ethnischen Zugehörigkeit brückenbildendes (bridging) oder bindendes (bonding) Sozialkapital innerhalb der Migrantengruppe entwickeln und welche Einflüsse auf ihre Berufsorientierung damit einhergehen. Hierbei stellt sie auch Unterschiede innerhalb der Migrantengruppen fest. Für Jugendliche türkischer Herkunft erhöht beispielsweise ein bonding, also ein stärkerer Bezug zur eigenen ethnischen Gruppe, die Wahrscheinlichkeit, einen Berufswunsch aufzuweisen. Bei Jugendlichen aus der ehemaligen Sowjetunion ist ein bridging, d.h. der Bezug zu allen Mitschülerinnen und Mitschülern, bezüglich der Informiertheit über Berufe festzustellen und relevant.

In der Abschlusspräsentation sind bei einigen Themenschwerpunkten Unterschiede zwischen den Jugendlichen aus der ehemaligen Sowjetunion und denen mit türkischer Herkunft erkennbar. Dies unterstreicht die Relevanz einer Differenzierung bezüglich der Migrantengruppen, da diese Erkenntnisse bei einer dichotomen Betrachtung nicht evident wären. Die tatsächliche Migration, kulturelle Einstellungen und weitere Aspekte sind Bedingungsfaktoren, die innerhalb der Gruppe variieren und demnach durch spezifische Maßnahmen den Berufsorientierungsprozess unterstützen können.

Richter selbst merkt am Ende des Kapitels 5.2 an, dass bezogen auf die untersuchten Migrantengruppen nur recht geringe Fallzahlen vorliegen (insgesamt N= 779, davon Jugendliche türkischer Herkunft: 69, Jugendliche aus der ehemaligen Sowjetunion: 104). Des Weiteren stammen die Daten aus insgesamt 132 Klassen. Da allerdings die ethnische Herkunft und daraus entstehende mögliche institutionelle Kompositionseffekte zwei der Hauptaugenmerke darstellen, wären größere Fallzahlen für aussagekräftigere Erkenntnisse wünschenswert gewesen. In diesem Zusammenhang wäre die Hinterfragung der tatsächlichen Bildungslaufbahn der Eltern mit Migrationshintergrund und ein Vergleich zu den ausländischen (Aus-)Bildungssystemen sicherlich auch interessant, um einige Ergebnisse besser interpretieren zu können. So äußern bspw. türkische Jugendliche seltener den Wunsch, direkt nach der Schule eine Ausbildung zu beginnen als andere Jugendliche. Diese Anmerkungen sollen jedoch nicht als Kritik betrachtet werden, vielmehr ist anzunehmen, dass aufgrund des Forschungsdesigns der Evaluationsstudie dies nicht vorgesehen war.

Die Zusammenfassungen am Anfang und Ende der einzelnen Kapitel greifen wichtige Aspekte auf und unterstützen die Nachvollziehbarkeit der Ausführungen. Die Erkenntnisse aus der Untersuchung von Maria Richter bieten diverse Anregungen und Anknüpfungspunkte, die ohne größeren Aufwand bei berufsorientierenden Maßnahmen in der Praxis im schulischen Kontext berücksichtigt werden können, beispielsweise die migrantenspezifische Elternarbeit oder die peer-to-peer-learning Maßnahmen.
Sema Toykan (Schwäbisch Gmünd)
Zur Zitierweise der Rezension:
Sema Toykan: Rezension von: Richter, Maria: Berufsorientierung von Hauptschülern, Zur Bedeutung von Eltern, Peers und ethnischer Herkunft. Wiesbaden: Springer VS 2016. In: EWR 16 (2017), Nr. 5 (Veröffentlicht am 26.09.2017), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978365812825.html