EWR 15 (2016), Nr. 3 (Mai/Juni)

Monika Palowski
Der Diskurs des Versagens
Nichtversetzung und Klassenwiederholung in Wissenschaft und Medien
Wiesbaden: Springer VS 2016
(285 S.; ISBN 978-3-658-10999-8; 39,99 EUR)
Der Diskurs des Versagens Die Studie von Monika Palowski befasst sich mit einem klassischen schulpädagogischen Forschungsgegenstand: der Klassenwiederholung. Im Gegensatz zu anderen Autoren, die die Voraussetzungen, Bedingungen und Effekte von Klassenwiederholung in der Regel quantitativ und auf der Ebene von Schulleistung und psychosozialen Faktoren untersuchen, ist der Zugang Palowskis methodisch und erkenntnistheoretisch anders akzentuiert. Die Autorin rekonstruiert mit Hilfe der Wissenssoziologischen Diskursanalyse den „Diskurs des Versagens“, indem sie Mechanismen der Verhandlung und Repräsentation des Gegenstands Klassenwiederholung in Wissenschaft und Medien untersucht und hierbei mehrere dominante Diskursstränge herausarbeitet.

Ausgehend von einer umfassenden begrifflichen, schulrechtlichen und empirischen Auseinandersetzung mit den bisherigen qualitativen und quantitativen Untersuchungen zur Klassenwiederholung (Kapitel 1-3) wird diese als Instrument der Selektion in die bildungspolitische und schulpädagogische Debatte um soziale Disparitäten im deutschen Schulsystem eingebettet (Kapitel 4). Eine Stärke dieses Teils besteht in der theorieübergreifenden Betrachtung des Problems der schulischen Selektion, indem diskursanalytische (Foucault), subjektivierungstheoretische (Bröckling), anerkennungstheoretische (Stojanov) und systemtheoretische (Luhmann) Perspektiven integriert werden. Überraschenderweise wird an dieser Stelle jedoch nur am Rande auf Fends strukturfunktionalistisches Verständnis von Schule eingegangen, impliziert es doch die Allokationsfunktion von Schule als zentrales Strukturelement in einem meritokratischen System, das Klassenwiederholung als Instrument zur leistungsmäßigen Homogenisierung von Lerngruppen erst legitimiert. Ausgehend von dieser mehrperspektivischen und insgesamt erkenntnisreichen Auseinandersetzung wird im folgenden Kapitel 5 der theoretische Bezugsrahmen der eigenen Untersuchung konkretisiert. Unter Rückgriff auf Foucaults begrifflich-theoretisches Instrumentarium – Diskurs, Macht, Subjektivierungsformen – entwickelt die Autorin eine gegenstandsnahe Theorie, mit der drei Komplexe von Fragestellungen bearbeitet werden: A) Welches Wissen über Nichtversetzung und Klassenwiederholung wird im erziehungswissenschaftlichen und medialen Diskursfeld konstruiert und verbreitet? B) Welche Bilder von nicht versetzten bzw. wiederholenden Lernenden werden dabei konstruiert, und welche Zuschreibungen an sie werden vorgenommen? C) Wie werden erziehungswissenschaftliche Aussagen zu Nichtversetzung und Wiederholung im medialen Diskursfeld aufgenommen und ggf. modifiziert?

Im methodischen Teil (Kapitel 6) werden Forschungsdesign und Durchführung der Wissenssoziologischen Diskursanalyse differenziert und nachvollziehbar dargelegt. Die Stichprobe basiert auf einem Materialkorpus von zunächst 789 Dokumenten aus der Nach-PISA-Ära, aus denen sukzessive 18 erziehungswissenschaftliche Texte und 23 Presseartikel zum Themenfeld Klassenwiederholung zur vertiefenden Analyse ausgewählt wurden. Maßgebliches Auswahlkriterium war neben einer Veröffentlichung innerhalb des angegebenen Zeitraumes der inhaltliche Fokus auf Nichtversetzung und Klassenwiederholung. Beim Pressesample wurden die zehn auflagenstärksten deutschen Tages- bzw. Wochenzeitungen sowie zwei schulspezifische Magazine herangezogen. Zusätzlich wurde als ergänzende Erkenntnisquelle eine als heuristisch anzusehende Gruppendiskussion mit drei Lehrkräften einer Gesamtschule zum Themenkomplex Klassenwiederholung/ Nichtversetzung geführt, um auch Subjektivierungsformen in Praxisdiskursen explorativ beleuchten zu können. Die Wissenssoziologische Diskursanalyse wurde in diesem Sinne als eine Kombination aus Daten-, Theorien- und Methodentriangulation konzipiert und kann hinsichtlich ihres Erkenntniswerts für theoretisch-methodische Reflexionen, die Rekonstruktion von Prozessen in Schulpolitik und Schulpraxis sowie für die Erziehungswissenschaft und ihre Kommunikation mit Medien und Praxis herangezogen werden.

In den folgenden drei Ergebniskapiteln (Kapitel 7-9) werden die aufgeworfenen Fragen sehr systematisch abgearbeitet und zu drei dominierenden Diskurssträngen verdichtet: dem strukturkonservativen, dem innovativen und dem ökonomischen Diskursstrang. Diese Stränge zeichnen sich jeweils durch unterschiedliche Akzentuierungen des Klassenwiederholungsdiskurses aus. Im strukturkonservativen Diskursstrang wird Nichtversetzung als notwendiges Instrument zum innerschulischen Umgang mit Heterogenität verteidigt, während Klassenwiederholung als Fördermaßnahme dargestellt und pädagogisch legitimiert wird. Fragmente des strukturkonservativen Stranges finden sich insbesondere im medialen Diskursfeld. Demgegenüber werden Nichtversetzung und Wiederholung im innovativen Diskursstrang aus pädagogischer Perspektive abgelehnt, aber auch als Komponenten einer bildungspolitischen Steuerung einzelschulischer Handlungsmöglichkeiten begriffen, die als stark einschränkend wahrgenommen zu werden scheint. Hierbei handelt es sich um einen Diskursstrang, der ausschließlich in Formaten an der Schnittstelle zwischen schulischer Praxis, Bildungspolitik, Verwaltung und Erziehungswissenschaft rekonstruiert werden konnte. Im Kontrast dazu ist der ökonomische Diskursstrang nicht nur in der Erziehungswissenschaft, sondern auch und vor allem in den Printmedien fundiert. Hier werden Nichtversetzung und Klassenwiederholung aus Gründen ihrer volkswirtschaftlichen Ineffizienz abgelehnt. Aus den übergreifenden Gemeinsamkeiten dieser drei Diskursstränge kann die Verwendung von Begriffen hervorgehoben werden, die zur Bezeichnung von Nichtversetzung und Wiederholung verwendet werden. Sowohl in erziehungswissenschaftlichen als auch in medialen Texten verschleiert der fast durchgehend verwendete Begriff des „Sitzenbleibens“ die Differenz zwischen Nichtversetzung als Ereignis und Wiederholung als dessen Konsequenz, wodurch – neben anderen Effekten – deren Entkopplung als Alternative zum bisherigen Selektionsformat ausgeblendet bleibt.

Die im Fazit verdichteten Befunde sind erhellend und aufschlussreich, denn sie lassen die Klassenwiederholung sowohl in ihrer historischen und (schul-)strukturellen Genese als auch als Maßnahme zur Disziplinierung von Subjekten deutlich werden. Zudem offenbart die Analyse, wie tief verankert und verbreitet der pädagogische und öffentliche Glaube an die Sinnhaftigkeit, Legitimität und Alternativlosigkeit der Klassenwiederholung ist und wie dies zu erklären ist.

Das Buch von Monika Palowski eignet sich aufgrund der Verknüpfung verschiedener theoretischer Perspektiven und methodischer Zugänge hervorragend als Lektüre für alle, die sich mit den Themen Klassenwiederholung und Selektivität sowie mit Diskursanalyse in Forschung, Lehre, Medien oder Politik beschäftigen. Es ergänzt den schulpädagogischen Diskurs zu Klassenwiederholung um einen methodisch innovativen und inhaltlich aufschlussreichen Blickwinkel und erlaubt auch neue pädagogische Sichtweisen auf die Thematik, denn Klassenwiederholung wird als historisch bedingt und damit veränderbar und nicht alternativlos markiert. Zu würdigen sind in diesem Zusammenhang zudem die emanzipatorischen Implikationen der Studie, denn Palowski verweist zu Recht immer wieder darauf, dass den Subjekten, d.h. den betroffenen Schülerinnen und Schülern, eine Stimme im Diskurs gegeben werden sollte. Die Pathologisierung von Schülerverhalten ist ein Aspekt, den auch die schulpädagogische Forschung viel zu lange vernachlässigt hat und der mit dieser Studie reflektierbar und diskutierbar wird.
Sebastian Boller (Bochum)
Zur Zitierweise der Rezension:
Sebastian Boller: Rezension von: Palowski, Monika: Der Diskurs des Versagens, Nichtversetzung und Klassenwiederholung in Wissenschaft und Medien. Wiesbaden: Springer VS 2016. In: EWR 15 (2016), Nr. 3 (Veröffentlicht am 25.05.2016), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978365810999.html