EWR 17 (2018), Nr. 1 (Januar/Februar)

Ulrike Graff / Katja Kolodzig / Johann Nikolas (Hrsg.)
Ethnographie – Pädagogik – Geschlecht
Projekte und Perspektiven aus der Kindheits- und Jugendforschung
Wiesbaden: Springer VS 2016
(203 Seiten; ISBN 978-3-658-07279-7; 29,99 EUR)
Ethnographie – Pädagogik – Geschlecht Der vorliegende Sammelband von Ulrike Graff, Katja Kolodzig und Niklas Johann lässt sich im Diskurs um ethnographische Untersuchungen zur Erforschung von geschlechtsspezifischen Differenzkonstruktionen verorten. Er geht zurück auf die Arbeitstagung „Ethnographische Forschung zu Pädagogik und Geschlecht in außerschulischen und schulischen Feldern“, die 2013 von der Fakultät der Erziehungswissenschaft der Universität Bielefeld und dem Mädchentreff Bielefeld e.V. durchgeführt wurde.

Gemäß der im Titel benannten Schlagwörter Ethnographie, Pädagogik und Geschlecht hat der Band zum Ziel, an der Schnittstelle von ethnographischer Kindheits- und Jugendforschung und pädagogischer Geschlechterforschung ein „Tableau aktueller Perspektiven“ (VIII) zu entfalten. Er umfasst elf Artikel von 17 Autorinnen und Autoren. Diesen geht ein Grußwort zur Tagung seitens des ministerialen Vertreters Jürgen Schattmann und das Vorwort der Herausgebenden zur Entstehung, diskursiven Verortung, Zielsetzung und zum systematischen Überblick über die zusammengestellten Beiträge voran.

Die Strukturierung der Beiträge erfolgt dabei in zwei Kapiteln. Während im ersten Kapitel „Methodologien“ grundlegende forschungspraktische Fragen ethnographischer (Geschlechter-)Forschung im Zentrum der Betrachtung stehen, fokussieren die Beiträge des zweiten Kapitels „Feld“ aktuelle „Perspektiven genderpädagogischer Praxis und konkrete Ergebnisse ethnographischer Forschung“ (VIII). Dabei umfasst die thematische Spannbreite neben schulischen und außerschulischen Angeboten auch frühkindliche Bildungskontexte sowie internationale Unterrichtsuntersuchungen.

Das erste Kapitel „Methodologien“ wird durch einen Beitrag von Helga Kelle eröffnet. In diesem erfolgen mit Blick auf Geschlechterforschung grundlegende Ausführungen zu Methodologie und Gegenstandstheorie ethnographischer Untersuchungen. Unter Bezugnahme auf das Konzept des „doing gender“ sowie intersektionale und interdependente Ansätze werden darüber hinaus sechs methodologische Strategien vorgestellt, um der Reifizierungsproblematik von Differenzkategorien – im Sinne von „doing difference while doing ethnography“ (13) – entgegenzuwirken. Ausgehend von ihrem Forschungsprojekt „Selbstbestimmung und Geschlecht. Bildungsqualitäten genderpädagogischer Angebote in der Jugendarbeit und im Kontext der Ganztagsschule“ knüpfen Ulrike Graff, Katja Kolodzig und Nikolas Johann mit methodologischen Überlegungen zu einer vergleichenden Ethnographie an. Dabei werden koedukative und monoedukative genderpädagogische Angebote zur Kooperation von Jugendarbeit und Schule hinsichtlich der Frage verglichen, wie die Herstellung von Geschlecht in den jeweiligen Organisationsformen geschieht. Exemplarisch werden im Modus eines „dichten Vergleichs“ (23) drei Materialauschnitte zum Phänomen des „Weinens“ (26) ausgeführt und einer Reflexion unterzogen. Jan Wolter löst sich in seinem Beitrag von der Genderperspektive und eröffnet unter Bezugnahme auf die Konzepte Anerkennung und Differenz in der Kombination von Ethnographie und Diskursanalyse im Sinne einer „integrativen Strategie“ (54) einen Zugang zur Verwobenheit von schulischer Disziplinierung und (Re)Produktion sozialer Differenzen im Kontext der Grundschule. Der Beitrag von Katharina Gosse und Friederike Lorenz stellt beforschte Kooperationsprojekte zwischen Schule und offener Kinder- und Jugendarbeit in den Fokus der Betrachtung. Es wird dargelegt, dass mit der Ganztagsschulreform Erscheinungen von „Verunsicherungen und Orientierungslosigkeiten“ (61) beispielsweise mit Blick auf „gängige Raum- und Artefakte-Nutzungen bzw. ihre Umdeutungen im kooperativen Setting“ (73) einhergehen. Die Autorinnen stellen heraus, inwieweit hier insbesondere die Präsenz der Forscherin im Feld innerhalb eines ethnographischen Forschungszugangs zum Erkenntnisgewinn bei der Erforschung derartiger Kooperationsmodelle beitragen kann. Bianca Baßler widmet sich auf selbstreflexive Weise dem Dilemma der Be- und Festschreibung von Differenzkonstruktionen, dem sich sowohl die Soziale Arbeit als auch die ethnographische Forschung ausgesetzt sieht. Anhand eines ethnografischen Praxisprotokolls aus dem Bereich der feministischen Mädchenarbeit stellt sie hierzu in Form von „Kontextualisierung“ (88), „Intersubjektivität“ (90) sowie „Kritik und Dekonstruktion“ (91) drei Vorschläge zum Umgang mit dem besagten Spannungsfeld zur Diskussion.

Das zweite Kapitel „Feld“ wird durch einen Beitrag von Renato Liermann eingeleitet, der aus der Sicht eines Jugendbildungsreferenten Heraus- und Anforderungen beschreibt sowie Forschungsdesiderata an der Schnittstelle von Praxis und Forschung innerhalb genderpädagogischer Arbeitsfelder und Praktiken in außerschulischen und schulischen Kontexten ausweist. An dieser Schnittstelle setzt auch der sich anschließende Artikel von Sarah Meyer und Melanie Kubandt an, die unter dem Titel „Und was heißt das jetzt für die Praxis?“ die Praxisrelevanz der Erziehungswissenschaft fokussieren. Die Autorinnen begeben sich mit Blick auf ethnographische Forschung im Bereich der frühkindlichen Bildung auf die Suche nach Möglichkeiten der Integration und des gegenseitigen Austauschs. Thomas Viola Rieske wendet sich der Jungenarbeit zu. Ausgehend von einem ethnographischen Beobachtungsprotokoll zeigt er, dass geschlechtstheoretische Interpretationsmöglichkeiten nicht in vermeintlich einander ausschließenden Positionen der Jungenarbeit aufgehen, sondern vielmehr koexistieren (können). Auf die Praxis des „doing gender“ an einer japanischen Mittelschule richtet K.-Ulrike Nennstiel in dem darauffolgenden Beitrag ihren Blick. Anhand dreier Szenen aus ethnographischen Unterrichtsbeobachtungen werden sowohl die Interaktion der im Herstellungsprozess von Geschlechtskonstruktionen beteiligten Akteurinnen und Akteure (d.h. Lehrerinnen und Lehrer sowie Schülerinnen und Schüler) fokussiert als auch Zusammenhänge zwischen „Geschlechtshierachie und den institutionalisierten Machtstrukturen“ (155) beleuchtet. Einem speziell unter Genderperspektive bislang wenig erforschtem Bereich wenden sich Lotte Rose und Rhea Seehaus in ihrem Beitrag zu, in dem sie sich mit einem ethnographischen Feldzugang den Geschlechtsinszenierungspraktiken beim Schulessen widmen. Dabei wird u.a. herausgestellt, dass zwar „geschlechterdistinktive Praktiken der Mädchen und Jungen“ (173) im Sinne eines Doing Masculinity und Doing Femininity beispielsweise im „Spiel mit Tabuverletzungen“ (179) oder „Essensmengen“ (181) beobachtbar sind, diese allerdings insbesondere bei betreuten Esssituationen durch generationsbezogene Praktiken (Doing Generation) beispielsweise in Form von „reglementierender Macht“ (176) in den Hintergrund treten. Der Sammelband wird geschlossen mit einem Beitrag von Miriam Mai und Lara Pötzschke zu „geschlechtlichen Unterscheidungspraktiken in Kindertageseinrichtungen“ (187). Entlang ethnographischer Feldbeobachtungen und transkribierten Elterngesprächen werden das Zuordnen zu „geschlechtlichen Kategorien“ (197), das Zuschreiben von Attributen zu den jeweiligen Kategorien und das Begründen von Zusammenhängen zwischen „individuellen Attributen der Kinder [...] und ‚ihrem Geschlecht’“ (197) drei geschlechtsrelevante Unterscheidungspraktiken dargelegt.

Der Sammelband zeichnet sich durchgängig durch ein hohes Maß an (Forschungs- und) Praxisorientierung aus. Er bietet somit sowohl thematisch als auch method(olog)isch auch für weniger vertraute Leserinnen und Leser einen gelungenen Einblick in das fokussierte Forschungsfeld und seine damit einhergehenden Herausforderungen. Damit wird er der adressierten Zielgruppe, die sowohl die entsprechenden Praxisfelder als auch erziehungswissenschaftliche (Forschungs-) Kontexte umschließt, mehr als gerecht. Darüber hinaus bietet er gerade durch die Vielfalt an theoretischen, methodologischen und praxisorientierten Reflexionen interessante Impulse zur Weiterentwicklung des Diskurses.
Simone Kosica (Koblenz-Landau)
Zur Zitierweise der Rezension:
Simone Kosica: Rezension von: Graff, Ulrike / Kolodzig, Katja / Nikolas, Johann (Hg.): Ethnographie – Pädagogik – Geschlecht, Projekte und Perspektiven aus der Kindheits- und Jugendforschung. Wiesbaden: Springer VS 2016. In: EWR 17 (2018), Nr. 1 (Veröffentlicht am 26.02.2018), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978365807279.html