EWR 11 (2012), Nr. 4 (Juli/August)

Jonas Kleindienst
Die Wilden Cliquen Berlins
„Wild und frei“ trotz Krieg und Krise. Geschichte einer Jugendkultur
Frankfurt am Main: Peter Lang 2011
(128 S.; ISBN 978-3-631-61808-0; 22,80 EUR)
Die Wilden Cliquen Berlins Mit der Veröffentlichung seiner Magisterarbeit legt Jonas Kleindienst eine Studie zu den sogenannten Wilden Cliquen Berlins vor, die sich vor allem regional erneut mit diesem jugendkulturellen PhĂ€nomen auseinandersetzt. Anders als frĂŒhere Forschungen, die die Wilden Cliquen ĂŒberwiegend „als ein reines PhĂ€nomen der sozialen und politischen Krise der Weimarer Gesellschaft in den Depressionsjahren wahrgenommen“ (13) hĂ€tten, wird hier dem kaum untersuchten Ursprung und der Entwicklung dieser jugendlichen Gruppenkultur nachgegangen, wobei ĂŒberprĂŒft werden soll, ob das bisher von der Forschungsliteratur skizzierte Bild der Wilden Cliquen als deviante, delinquente oder gar kriminelle Erscheinungsform fĂŒr das GesamtphĂ€nomen des Cliquenwesens zutrifft. Um dem gerecht zu werden wird der Untersuchungszeitraum zwischen 1915 – mit dem Auftreten der ersten zeitgenössischen Berichte ĂŒber Wilde Cliquen – und 1933 – dem Ende der jedenfalls freien Entfaltung dieser Jugendkultur – gewĂ€hlt.

Den Zugang zum Untersuchungsgegenstand bilden neben den schon aus der bisherigen Forschung bekannten jugendfĂŒrsorgerischen, jugendsoziologischen, journalistischen und belletristischen Quellenarten sowie Zeitzeugeninterviews ehemaliger Cliquenmitglieder, die jedoch nahezu allesamt aus den letzten Jahren der Weimarer Republik stammen, weitere, bislang von der Forschung nicht genutzte Quellen, vor allem zeitgenössische schriftliche Überlieferungen der vom Autor so bezeichneten Wanderbewegung und politischen Jugendbewegung zu den Wilden Cliquen sowie Polizei-, Justiz- und FĂŒrsorgeakten und Zeitungs- und Zeitschriftenartikel. DarĂŒber hinaus konnten auch erstmals einige Selbstzeugnisse der Wilden Cliquen aus den Jahren 1923 und 1924 erschlossen werden, die nach Meinung des Verfassers neben den Zeitzeugeninterviews ein wichtiges Korrektiv darstellen zu dem Übergewicht der zeitgenössischen Sichtweisen ihrer „Gegenspieler“ (13).

Der Aufbau der Arbeit ist chronologisch und unterteilt die Entwicklung des Cliquenwesens in drei Phasen. In der ersten Phase von den ersten Sommern des Ersten Weltkrieges bis etwa 1922/23, handelte es sich Kleindienst zufolge ausschließlich um Wandercliquen, die eine Art „Anti-Wandervogelbewegung“ (15) darstellten. Die zweite Phase, die durch Politisierung und Organisierung der Wilden Cliquen gekennzeichnet ist, endet nach dem Scheitern der Wanderringorganisationen bereits 1924/25 und lenkt die Konzentration der Cliquen wieder auf die Ausgestaltung ihrer Freizeit; bis ab 1925/26 durch soziale, gesellschaftliche und jugendkulturelle Entwicklungen die dritte Phase einsetzt und zu einer Wandlung des Cliquenwesens fĂŒhrt, das jetzt erst seine Erscheinungsform erhielt, die die bisherige Forschungsdiskussion prĂ€gte.

Interessant ist die Darstellung der historischen Entwicklung dieser Jugendkultur im ersten Teil des Buches in mehrfacher Hinsicht: Durch eine sehr differenzierte Betrachtung des proletarischen Jugendmilieus zur Zeit des Ersten Weltkriegs gelingt es dem Autor verschiedene jugendliche Gemeinschaftsformen voneinander abzugrenzen und somit aufzuzeigen, aus und in welchem Milieu das Cliquenwesen entstand. Entgegen der landlĂ€ufigen Sicht entstammten die Mitglieder dieser neuen Jugendgruppen keineswegs dem Milieu der „Halbstarken“ oder können mit dem PhĂ€nomen der Jugendverwahrlosung in Zusammenhang gebracht werden, sondern es handelte sich vielmehr um Arbeiterjugendliche, die u.a. durch die Kriegswirtschaft bedingt relativ gut verdienten und sich den im Krieg beschlossenen FreizeitbeschrĂ€nkungen zu entziehen versuchten. So seien inoffizielle Wandergruppen entstanden, „die in einer bestimmten jugendkulturellen und teilweise devianten Art und Weise ihre Freizeit verbrachten und damit sowohl bei der vorherrschenden Jugend- und Wanderbewegung, wie auch bei einem durch die FreizeitausĂŒbung betroffenen Teil der Bevölkerung und Obrigkeit Anstoß erregten“ (35). Die durch die „Wanderunsitten“ hervorgerufenen Auseinandersetzungen der „wilden Wandervögel“ mit der bĂŒrgerlichen Jugend- und Wanderbewegung, die ihren eigenen guten Ruf gefĂ€hrdet sah, hĂ€tten zu einer Zunahme der Anfeindungen in der Öffentlichkeit bzw. der öffentlichen Berichterstattung gefĂŒhrt und so wesentlich zu ihrer Stigmatisierung beigetragen.

Im zweiten Teil der Arbeit setzt sich der Autor mit den Institutionalisierungsbestrebungen der verschiedenen informellen Cliquen als „Freie Zunft“ (44) auseinander. Durch Einbezug der neuen Quellen kann Kleindienst sehr detailliert die Geschichte der ersten Wanderringe nachzeichnen, die zwar einen Ă€hnlichen jugendkulturellen Stil pflegten, jedoch keine Einheit darstellten, so dass man innerhalb der Cliquenbewegung drei Hauptströmungen ausmachen kann: Eine, die sich als aktiver Teil der kommunistischen Bewegung verstanden wissen wollte, eine zweite, der es um die Erhaltung und Verbesserung der Freizeitmöglichkeiten ging – weshalb diese auch eine Anerkennung durch die Öffentlichkeit und die Kooperation mit Jugendamt und Jugendbewegung anstrebte – sowie eine dritte, die ihre Autonomie und den „wilden“ Ursprungscharakter beibehielt. Vor allem durch die Beteiligung eines Teils der Wandercliquen an den gewaltsamen politischen RichtungskĂ€mpfen der jungen Republik hĂ€tten die Wilden Cliquen ein zweites Mal, und hier wiederum vor allem bei der Polizei, breite Beachtung gefunden, so dass „das negative Bild von den Wandercliquen um 1924 bereits zementiert (war)“ (58).

Besonders erwĂ€hnenswert in diesem zweiten Abschnitt ist ein Exkurs, der sich im Sinne eines Korrektivs zu den Fremdzeugnissen ausfĂŒhrlich mit zwei frĂŒhen Selbstzeugnissen der Cliquen auseinandersetzt. Dabei handelt es sich um einige Ausgaben der Zeitschriften „Der Rote Wanderer“ und „Die Freie Zunft“, die die Wilden Cliquen bzw. deren Wanderringe 1923 und 1924 herausgaben, in denen die Auseinandersetzung der Cliquen ĂŒber ihr SelbstverstĂ€ndnis und die eigene Rolle in der Gesellschaft einigen Raum fand. Insgesamt resĂŒmiert Kleindienst, dass die Wilden Cliquen „sich in ihrer Ringzeitschrift weit vielfĂ€ltiger interessiert und reflektierender, als sie in der Öffentlichkeit wahrgenommen wurden“ (65), zeigten.

Im letzten Teil der Arbeit beschreibt Kleindienst die Entwicklungen in den letzten Jahren der Weimarer Republik, die zu VerĂ€nderungen innerhalb der Wilden Cliquen und zu einer geĂ€nderten Cliquenwahrnehmung fĂŒhrten. Dabei geht er insbesondere auf kulturelle Prozesse innerhalb des Berliner Jugendmilieus sowie auf einige wenige von den Medien hervorgehobene Einzelereignisse ein, durch die die Wilden Cliquen mehr als jemals zuvor die öffentliche Aufmerksamkeit erregt hĂ€tten und zum Symbol der sozialen und gesellschaftlichen Krise und der Jugendverwahrlosung geworden seien. Neben die klassischen Wandercliquen seien Anfang der 1930er Jahre Cliquen unterschiedlichster AusprĂ€gungen getreten – mitbedingt durch die Medienberichterstattung, die dazu beigetragen habe, „dass diese Jugendkultur fĂŒr weite Teile des Jugendmilieus stilprĂ€gend wurde“ (110) – und dieses „sich ausbreitende ,wilde‘ Cliquenwesen, sowie das Problem der Öffentlichkeit, verschiedene Gruppenbildungen wie Wilde Cliquen, Banden, Geselligkeitsvereine, Ringvereine, Ringorganisationen, Sparvereine etc. auseinanderzuhalten“ hĂ€tten dazu gefĂŒhrt, „dass die ,Wilden Cliquen‘ in den öffentlichen Debatten fast omniprĂ€sent wurden“ (83). In diesen vielen Ausformungen der Cliquen und in den von KrisenĂ€ngsten verursachten undifferenzierten öffentlichen Debatten sieht Kleindienst die Ursache fĂŒr das inkonsistente zeitgenössische Bild dieser Jugendkultur, das auch die bisherige Forschungsdiskussion prĂ€gte. Auch wenn Kleindienst frĂŒhere Forschungsergebnisse bestĂ€tigend herausarbeitet, dass die Transformation der Cliquen zu solidarischen Notgemeinschaften fĂŒhrte, bei denen einige durch ausgesprochen deviantes bis kriminelles Verhalten auffielen, betont er, dass viele Entwicklungen innerhalb der Wilden Cliquen nur gesamtgesellschaftliche Prozesse widergespiegelt hĂ€tten und dass die Wilden Cliquen der letzten Jahre der Weimarer Republik nicht reprĂ€sentativ seien fĂŒr das GesamtphĂ€nomen.

In der bisherigen Forschung sind wiederholt Vermutungen und erste EinschĂ€tzungen ĂŒber den Ursprung der Wilden Cliquen geĂ€ußert worden. Kleindienst arbeitet erstmals sehr fundiert dieses Desiderat auf. Unter Einbezug bislang nicht rezipierter Quellen gelingt es ihm, die Entwicklungsgeschichte dieser Jugendkultur bis zum Ende der Weimarer Republik aufzuzeigen und neue Perspektiven auf dieses PhĂ€nomen zu erschließen, die nun eine adĂ€quatere Beurteilung der Wilden Cliquen ermöglichen. Weitgehend ausgeblendet bleibt leider auch in dieser Studie die Rolle der weiblichen Cliquenmitglieder, auch wenn dieser Umstand grĂ¶ĂŸtenteils der unbefriedigenden Quellenlage zur Last gelegt werden kann. Die wenigen aufgefĂŒhrten Zeugnisse lassen diesbezĂŒglich zumindest fĂŒr die Anfangsphasen der Wilden Cliquen kaum gesicherte Aussagen zu. Und Kleindiensts Behauptungen, dass „um 1924 MĂ€dchen und junge Frauen eine gewisse Rolle innerhalb der Cliquen spielten“ (66) bzw. dass „zumindest bei jenen Gruppen, die 1923/24 bei den Wanderringen mitwirkten“ (113), die gleichberechtigte Mitwirkung weiblicher Mitglieder eindeutig belegt sei, mĂŒssen in dieser Eindeutigkeit aufgrund der dĂŒnnen und nicht unbedingt reprĂ€sentativen Quellenlage kritisch betrachtet werden. Hier ist weitere Forschung nötig.
Martin Woda (Göttingen)
Zur Zitierweise der Rezension:
Martin Woda: Rezension von: Kleindienst, Jonas: Die Wilden Cliquen Berlins, „Wild und frei“ trotz Krieg und Krise. Geschichte einer Jugendkultur. Frankfurt am Main: Peter Lang 2011. In: EWR 11 (2012), Nr. 4 (Veröffentlicht am 02.08.2012), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978363161808.html