EWR 10 (2011), Nr. 1 (Januar/Februar)

Barbara Thies
Kognitive Repräsentationen in der Grundschule
Befunde zur Interaktionsregulation im Unterrichtsalltag
Frankfurt am Main: Peter Lang Verlag 2010
(216 S.; ISBN 978-3-631-59832-0; 39,80 EUR)
Kognitive Repräsentationen in der Grundschule Spätestens seit PISA ist eine neue Debatte um die Leistungsfähigkeit unseres Schulsystems und die Leistungsfähigkeit der Schülerinnen und Schüler entstanden. Von zentraler Bedeutung ist dabei die Frage: Wer hat bei welchen Voraussetzungen welche Möglichkeiten schulisch (und später auch beruflich) erfolgreich zu sein und durch welche Faktoren wird dieser Prozess beeinflusst und gesteuert?

In ihrem Buch „Kognitive Repräsentationen in der Grundschule“ sieht Barbara Thies einen zentralen Punkt zur Beantwortung dieser Frage in der Interaktionsregulation im Unterrichtsalltag. Während in der Forschung bisher vor allem personale Variablen als Prädiktoren für erfolgreiche Regulation von Interaktionen im Unterrichtsalltag in den Vordergrund gestellt wurden, so sind für Thies vor allem der Aufbau, der Erhalt und die Wirkweise der interaktionsrelevanten (interaktionalen und relationalen) kognitiven Schemata interessant. Dabei versteht Thies in Anlehnung an Baldwin [1] unter dem Begriff der kognitiven Repräsentation eine Abbildung konkreter Interaktionserfahrungen und Beziehungen zu wichtigen Bezugspersonen (44).

Da bisher noch keine methodisch etablierten Vorgehensweisen zur Erfassung interaktionaler Schemata und deren kognitiver Repräsentation existieren, zielt Thies in ihrer Studie darauf, ein methodisches Register zur Erfassung und Evaluation kognitiver Repräsentationen zu entwickeln. Besonderes Augenmerk wird dabei auf die Lehrer-Schüler-Beziehung gelegt, was vor allem im Untersuchungsdesign erkennbar ist.

Die Arbeit von Thies gliedert sich in einen theoretischen und einen empirischen Teil. Im theoretischen Part wird nach einer kurzen Beschreibung des Lebensraums „Schule“ besonders auf die Determinanten der Lehrer-Schüler-Beziehung wie auch auf die wechselseitige Interaktionsregulation eingegangen. Auf Grundlage der beschriebenen Erkenntnisse, die Thies anhand internationaler Studien belegt, formuliert sie einen umfangreichen Fragenkomplex. Im Zentrum der Analyse stehen, wie bei einer wahrnehmungspsychologischen Studie zu erwarten, die kognitive Repräsentation der Lehrer-Schüler-Beziehung. Darauf aufbauend folgen interaktionale und prozessuale Fragestellungen. Das Forschungsdesign gliedert sich in drei Teilstudien bzw. Stichproben, wobei zwei (angehende Lehrkräfte und Grundschulklassen) querschnittlich und eine (Grundschulklasse) längsschnittlich untersucht wurden.

Für die Untersuchung der ersten Stichprobe verwendet Thies eine Reihe z.T. selbst entwickelter Instrumente. Zur Befragung der angehenden Lehrkräfte (N = 112) wurde ein Fragebogen zur (antizipierten) Steuerung von Erziehung und Unterricht eingesetzt. Für die zweite Teilstudie zu den Grundschulklassen wurden ein Screening schulrelevanter Merkmale (SSM) und ein Fragebogen zur Kognitiven Repräsentation von Schule und Lehrkraft (KRSL) entwickelt. Beide Instrumente sind dem Anhang des Buches beigefügt. Die Stichprobe besteht aus 24 Grundschulklassen, N = 454 Lehrerurteilen über Schülerinnen und Schüler und N = 469 Urteilen von Schülerinnen und Schülern. Die dritte, eigentliche Fokusstichprobe stellt eine Grundschulklasse dar, welche von der Einschulung (Oktober 2005) bis zum Ende der zweiten Klasse (Juli 2007) begleitet wurde. Außer der regelmäßigen teilnehmenden Beobachtung setzte Thies nach drei Monaten den Fragebogen zur Steuerung von Erziehung und Unterricht und eine modifizierte Kurzform des SSM ein. Zum Ende des ersten Schuljahres nutzte die Autorin zudem einen Fragebogen zur Erfassung emotionaler und sozialer Schulerfahrungen (FEESS) zum Thema Schul- und Lernklima von Rauer und Schuck [2] sowie den TRF (Teacher's Report Form) der Arbeitsgruppe Deutsche Child Behavior Checklist [3] und erhob darüber hinaus die Deutsch- und Mathematiknoten. Zum Ende des zweiten Schuljahres wurden erneut Daten des FEESS (diesmal die Gesamtversion) und zusätzlich der Lehrereinschätzliste für Sozial- und Lernverhalten (LSL) von Petermann und Petermann [4], des SSM incl. Zusatz des KRSL und der Deutsch- und Mathematiknoten erhoben. Bereits hier wird deutlich, welchen Umfang die von Thies durchgeführte Studie hat. Die Vielfalt unterschiedlicher Instrumente gibt ihr die Möglichkeit in der späteren Evaluation Schlussfolgerungen zur effektiven Erfassung interaktionaler Schemata zu ziehen.

Der zweite Teil der Studie stellt die zentralen Befunde der drei Untersuchungsreihen dar. Die querschnittlich angelegten Untersuchungen werden gebündelt und kompakt behandelt. Die erzielten Ergebnisse weisen eine hohe innere Konsistenz auf. Durch die semantische Orientierung der Auswertung ist die Interraterreliabilität hoch. Die erste Untersuchungsreihe zeigt, dass von Lehrkräften vor allem Lob bzw. Tadel als Einflussmöglichkeit auf Schülerinnen und Schüler gesehen wird. Für die Gestaltung der Lehrer-Schüler-Beziehung fokussieren die Lehrkräfte die Unterrichtsplanung und -gestaltung sowie die Modulation der Stimme (64). Die größte Möglichkeit der Einflussnahme von Schülerinnen und Schülern wird in der Provokation der Lehrkraft gesehen (66). Die zweite Untersuchungsreihe zeigt ein positives Selbstkonzept der Schülerinnen und Schüler. Ca. 95,0 % halten sich für gute Schüler und ca. 85,0 % gehen gerne zur Schule (73). Den Unterrichtsalltag hingegen erleben die Kinder sehr verschieden, vor allem die Häufigkeit von Freiarbeit variiert in der Wahrnehmung der Schülerinnen und Schüler (32,0 % selten, 51,3 % manchmal und 7,9 % meistens) (74). Die Beziehungsqualität zu den Lehrkräften wird als insgesamt positiv beschrieben. Knapp 80% der Schülerinnen und Schüler vertrauen ihrer Lehrkraft. Interessant ist hierbei, dass das reziproke Vertrauen nur von 60 % der Kinder angenommen wird. Im Bereich der Geschlechterzugehörigkeit fallen die Beurteilungen durch die Lehrkraft systematisch zu Ungunsten der Jungen aus. Ihnen wird von Lehrerseite ein geringeres Leistungsverhalten, ein schwächeres sozio-emotionales Verhalten und ein ausgeprägteres Problemverhalten unterstellt (83).

Die Darstellung der Fokusklasse ist wesentlich umfangreicher und macht mit 62 Seiten den Hauptteil der Publikation aus. Es werden die erhobenen Daten der Lehrkräfte präsentiert und beschreibend miteinander verglichen. Darauf folgend, werden die Videoaufnahmen aus der Fokusklasse beschrieben. Das Hauptaugenmerk liegt bei der Interaktion von Lehrerin und Schülerinnen und Schülern. Sie ist der Peer-Interaktion bei dieser Untersuchung übergeordnet.

Die folgenden Unterkapitel beschreiben teilweise verkürzt, teilweise sehr detailliert den Unterrichtsalltag der Fokusklasse. Gegen Ende eines jeden Unterkapitels werden die Beobachtungen jeweils zusammengefasst. Es kommt während der zweijährigen Beobachtungszeit zu vielen grundschultypischen Situationen, welche durch die klare Sprache und die anschauliche Art der Beschreibung schnell einsichtig werden. Von der Integration einer neuen Schülerin (106) über Konflikte mit der Parallelklasse (114) bis hin zum Abschied von einem Klassenkameraden (143) sind sämtliche Interaktionen von Schülerinnen und Schülern und Lehrerinnen beschrieben. Durch die sehr praxisnahe Darstellung der Beobachtungen lassen sich die Entwicklungen der einzelnen Kinder über den Beobachtungszeitraum von zwei Schuljahren nicht nur objektiv empirisch, sondern auch subjektiv verfolgen. Dieser Fakt ist der Lesefreude äußerst zuträglich.

Auf die Beschreibung der Fokusklasse im Untersuchungszeitraum folgt ein Abgleich der parallelen Items der zwei durchgeführten Befragungen mittels SSM. Signifikante Differenzen gab es lediglich hinsichtlich der Schullust und der Aggressivität. Die Klassenlehrerin sieht ein gesunkenes Aggressionspotenzial bei den Kindern bei gleichzeitig deutlich geringerer Schullust. Insgesamt kam es während des Untersuchungszeitraums zu einer deutlichen Veränderung des zu den Kindern jeweils gebildeten ersten Eindrucks (146).

In der Diskussion wird hauptsächlich auf die inhaltlichen Erkenntnisse eingegangen. Die Methodik rückt in den Hintergrund und wird erst später in den konzeptuellen Überlegungen aufgegriffen. Die Beurteilung der Vorgehensweise bei der Untersuchung von Lehrkräften wertet Thies, in Anlehnung an die sich ergebenen Muster der Interaktionsregulation, als „fruchtbar“ (184). Auch die Untersuchung der Schülerinnen und Schüler kann als erfolgreich eingeschätzt werden, da sie in der Lage ist, ein differenziertes Abbild schulischer Wirklichkeit zu schaffen (185). Dieses differenzierte Bild lässt Rückschlüsse darüber zu, ob die Vorgehensweise erfolgreich war. Leider gerät dieser Punkt bei Thies entgegen der eigentlichen Zielsetzung der Untersuchung eher in den Hintergrund.

Die Studie bietet insgesamt einen sehr differenzierten und zeitweise spannenden Einblick in die Repräsentation interaktionaler Schemata. Sie ist methodisch vielfältig und folgt einem sehr soliden theoretischen Unterbau. Lediglich die eigentlich formulierte Zielsetzung, die Vorgänge der kognitiven Repräsentation beschreibbar zu machen, wird nicht offensichtlich genug verfolgt. Zwar lassen die in der Diskussion der Ergebnisse getroffenen Aussagen darauf schließen, dass die genutzten Verfahren erfolgreich sind, aber die Analyse dieser Verfahren kommt zu kurz.

Thies liefert mit ihrem Buch einen wichtigen Beitrag, um die Untersuchung interaktionaler Schemata zu standardisieren. Besonders der Part der längsschnittlichen Untersuchung der Fokusklasse fesselt durch seinen Detailreichtum und seine lebensnahe Darstellung. Interessenten der Lehr-Lern-Forschung werden an diesem Werk Freude haben, mit der Thematik der kognitiven Repräsentationen unvertraute Leser hingegen wohl eher nicht.

[1] Baldwin, M. W. (1992): Relational schemas and the processing of social information. In: Psychological Bulletin, 112 (3), 461-484.

[2] Rauer, W. & Schuck, K.D. (2004): Fragebogen zur Erfassung emotionaler und sozialer Schulerfahrungen von Grundschulkindern erster und zweiter Klassen (FEESS 1-2). Handanweisung. Göttingen: Beltz Test GmbH.

[3] Arbeitsgruppe Deutsche Child Behavior Checklist (1993): Lehrerfragebogen über das Verhalten von Kindern und Jugendlichen, dt. Bearbeitung der Teacher's Report Form (TRF) der Child Behavior Checklist, bearbeitet von Döpfner, M. & Melches, P., Köln.

[4] Petermann, U./Petermann, F. (2006): LSL. Lehrereinschätzliste für Sozial- und Lernverhalten. Manual. Göttingen.
Sebastian Seitz (Berlin)
Zur Zitierweise der Rezension:
Sebastian Seitz: Rezension von: Thies, Barbara: Kognitive Repräsentationen in der Grundschule, Befunde zur Interaktionsregulation im Unterrichtsalltag. Frankfurt am Main: Peter Lang Verlag 2010. In: EWR 10 (2011), Nr. 1 (Veröffentlicht am 16.02.2011), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978363159832.html