EWR 15 (2016), Nr. 3 (Mai/Juni)

Frieder Vogelmann
Im Bann der Verantwortung
Reihe: Frankfurter BeitrÀge zur Soziologie und Sozialphilosophie, Band 20
Frankfurt am Main: Campus 2014
(486 S.; ISBN 978-3-593-50125-3; 34,90 EUR)
Im Bann der Verantwortung „Verantwortung“ nimmt in den Beschreibungen gegenwĂ€rtiger Selbst- und SozialverhĂ€ltnisse eine ebenso selbstverstĂ€ndliche wie wirkmĂ€chtige Stellung ein. Kaum eine politische, wissenschaftliche oder wirtschaftliche Äußerung kommt ohne die Referenz auf „Verantwortung“ aus. Frieder Vogelmanns Studie zum „Bann der Verantwortung“ ist in dieser Situation von großer Wichtigkeit, unternimmt sie doch nichts Geringeres, als der Politik der Verantwortung eine Politisierung der Verantwortung einzuschreiben. Insbesondere fĂŒr die im pĂ€dagogischen Denken und Handeln zentrale Frage der Verantwortungszuweisungen und -ĂŒbernahmen ist daher die gleichermaßen informativ wie prĂ€gnant geschriebene Studie von großem Erkenntniswert.

Im ersten Teil erarbeitet Vogelmann nach einer einleitenden Sichtung dreier ĂŒblicher Diagnosen – dies sind: Diffusion, Individualisierung, Sozialisierung von Verantwortung (33f) – einen analytischen Zugang, der es ihm erlaubt, die SelbstverstĂ€ndlichkeit der Rede von Verantwortung problematisierend zugĂ€nglich zu machen. In einer konzisen wie pointierten Darstellung seines praxistheoretischen Zugangs entwickelt Vogelmann hierfĂŒr eine an Foucaults genealogischem Vorgehen orientierte Analytik (49ff), die „Praktikenregimes“ (116ff) in den Achsen der Macht, des Wissens und des Subjekts auszuarbeiten vermag. Gegen einen zu stark SubjektivitĂ€t bereits implizierenden Praxisbegriff, wie er in der gegenwĂ€rtigen Praxeologie im Anschluss an Schatzki und Reckwitz nahezu selbstverstĂ€ndlich genutzt wird, arbeitet Vogelmann die fĂŒr sein Themenfeld entscheidende Differenz im VerhĂ€ltnis von Subjekt, Handlung und Verantwortung heraus – die erst eine kritische Problematisierung des Bias von Subjekt und Verantwortung ermöglicht. Seine Analytik setzt sich zugleich auch von einer ideen- und einer begriffsgeschichtlichen Zugangsweise ab, vielmehr nimmt Vogelmann die praktischen Gebrauchsweisen und Referenzen auf „Verantwortung“ in den Blick, was ihm auch erlaubt, die Felder der Arbeit, KriminalitĂ€t und Philosophie als je eigenstĂ€ndige und durch ihre jeweilige Bezugnahme auf „Verantwortung“ Kontur gewinnende Bereiche zu betrachten. Damit ist auch gesagt, dass Vogelmanns Untersuchung nicht auf eine Philosophie der Verantwortung abzielt, sondern stattdessen vom kritisch-problematisierenden Gestus eines erkenntnispolitischen Einsatzes geleitet wird. Ganz in diesem Sinne enthĂ€lt sich die gesamte Arbeit einer definitorischen Zugangsweise, die spezifische Verantwortungskonzepte mit Wahrheitswerten zu belegen hĂ€tte. Stattdessen erschließt die Studie, wie in verschiedenen sozialen Feldern „Verantwortung“ neue „Umschreibungen“ ermöglicht. Mit der Kennzeichnung als „Umschreibung“ (116), so Vogelmanns dekonstruktiver Einsatz, ist der Fokus auf die jeweiligen Verbindungspunkte gelegt, in denen „Verantwortung“ sich in ein Feld einsetzt und zu einem Einsatz wird – Vogelmann bringt damit gleichermaßen den Wandel des recht jungen Konzepts Verantwortung wie den Wandel der von ihm beschriebenen Felder in den Blick.

Im zweiten bis vierten Teil zeigt Vogelmann auf, wie diese Umschreibungen in den Feldern der Arbeit, der KriminalitĂ€t sowie der Philosophie vor sich gehen, indem die Karrieren, Wandlungen und Einsatzstellen des von ihm als „diskursiven Operator Verantwortung“ (124) gekennzeichneten Topos‘ analysiert werden: FĂŒr das Feld der Arbeit (Teil 2) analysiert Vogelmann wie sowohl Lohnarbeit als auch Arbeitslosigkeit mit einer „Intensivierung des SelbstverhĂ€ltnisses der TrĂ€ger_innen von Verantwortung“ (129) und einer „asymmetrischen Entkoppelung“ (ebd.) der Positionen von Verantwortungszuschreibung und VerantwortungsĂŒbernahme einhergehen und darin einen grundlegenden Wandel erfahren. Dies zeigt Vogelmann luzide an den Transformationen von LohnarbeitsverhĂ€ltnissen und damit zusammenhĂ€ngend Arbeitslosigkeit auf. Im Ergebnis dieses Teils wird deutlich, wie die VerĂ€nderung der LohnarbeitsverhĂ€ltnisse mit verĂ€nderten Verantwortungsmechanismen zusammengeht, diese Prozesse sich wechselseitig verstĂ€rken, etwa indem Arbeitnehmer_innen mit Verantwortung fĂŒr das Ergebnis ihrer Arbeitskraft ausgestattet werden. Die Flexibilisierung von Arbeit und die parallele Erweiterung und Begrenzung subjektiver HandlungsspielrĂ€ume verschrĂ€nken sich mit der Verlagerung von Verantwortung. Vogelmann verfolgt diese Entwicklungen sowohl in den sozialwissenschaftlichen Reflexionen auf modernisierte Arbeits- und SozialverhĂ€ltnisse als auch in sozial- und arbeitsmarktpolitischen Änderungen der LohnarbeitsverhĂ€ltnisse, insbesondere des sozialstaatlichen Umbaus im Zuge der bundesdeutschen „Agenda 2010“-Politik.

Das Feld der KriminalitĂ€t (Teil 3) erschließt Vogelmann in gleicher Weise sowohl durch Materialien der rechts- und sozialwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit verĂ€nderten Formen der Kriminalisierung, hier vor allem der Umstellung auf PrĂ€vention, als auch in der Betrachtung gerichtlicher Praktiken und Praktiken der Sicherheit. Im Ergebnis zeigt sich eine Ă€hnliche Figur der von Vogelmann als „Intensivierung“ herausgestellten Verschiebung auf ein durch den aktiven Umgang mit Grenzen der SelbstverfĂŒgbarkeit gekennzeichnetes verantwortliches SelbstverhĂ€ltnis. Diese Figur wird parallel gestĂŒtzt durch eine „Dissoziierung“ (262) von VerantwortungsĂŒbernahme und -zuweisung. Indem auch im Feld der KriminalitĂ€t Handlungsmacht nicht gleichbedeutend mit Verantwortung ist, können rechtliche und sozialpolitische Praxen der VerantwortungsĂŒbernahme etwa durch vorbeugendes Handeln einer Vermeidung möglicher Opferschaft greifen – wĂ€hrend diese der „neosozialen“ (Lessenich) Gestalt in lokalen Zugriffen dienlich sind.

Im umfangreichsten vierten Teil analysiert Vogelmann das Feld der Philosophie – hier allerdings ohne ein analoges Praktikenfeld wie etwa die akademische Praxis der Alleinautor_innenschaft wissenschaftlicher ProduktionsverhĂ€ltnisse einzubeziehen. In gleichermaßen informativ wie prĂ€zise gezeichneten Darstellungen der HerkĂŒnfte und Dispersionen von Verantwortung zeigt Vogelmann im Ergebnis, wie eine Steigerung von dessen Valenz zu beobachten ist, an der sich gegenwĂ€rtig auch die Bedeutsamkeit der Disziplin nach innen und nach außen kristallisiere. Besonders herauszustellen ist fĂŒr die gesamte Studie, dass Vogelmann stets eine kritische Distanz gegenĂŒber den Narrativen im Zeichen von „Verantwortung“ einziehen kann. Dies zeigt sich insbesondere da, wo er im Analysefeld der Philosophie seine eigene Disziplin als „Praktikenregime“ der Etablierung einer diskursiven und praktischen WirkmĂ€chtigkeit von Verantwortung untersucht. Hier stellt sich die TragfĂ€higkeit seiner entwickelten Analytik heraus, da auf diese Weise nahezu alle philosophischen Positionen zu Wort kommen, ohne in einer vereinheitlichenden Disziplingeschichte eingeebnet zu werden. Im Ergebnis der Analyse des Feldes Philosophie zeigt Vogelmann, wie – anders als in den Feldern der Arbeit und der KriminalitĂ€t – hier Verantwortung und Handlungsmacht in einen so engen Zusammenhang gebracht werden, dass sie nahezu wechselseitig fĂŒreinander stehen. Die Analyse zeichnet detailliert nach, wie diese Zusammenschaltung von Verantwortung und HandlungsfĂ€higkeit als Kennzeichen des modernen Subjekts entstanden ist und welche Wandlungen durchlaufen wurden, ehe die Zurechenbarkeit von HandlungsvollzĂŒgen auf individuelle Akteurschaft und souverĂ€ne IntentionalitĂ€t im Zeichen von Verantwortung selbstverstĂ€ndlich wurde.

In seiner abschließenden Betrachtung (Teil 5) bĂŒndelt Vogelmann die Feldanalysen auf ihr Zusammenspiel hin, um zu zeigen, wie der von ihm als „Bann“ gekennzeichnete Diskurs- und Adressierungszusammenhang im Zeichen von Verantwortung gegenwĂ€rtige Subjektivierungen als handlungsmĂ€chtige Akteure der Selbst- und Eigenverantwortlichkeit hervorbringt. Besonders deutlich wird hierbei die wechselseitige VerstĂ€rkung der je feldspezifischen Verantwortungskonzepte, welche soziale und strukturelle Grenzen von FreiheitsspielrĂ€umen der Thematisierung entziehen, indem die individualisierte Aufgabe der Überwindung und des je privatisierten Umgangs mit diesen Grenzen als Kennzeichen verantwortlicher SubjektivitĂ€t gelten. Hier klĂ€rt sich Vogelmanns etwas jargonhaft anmutende Rede von einem „Bann“ der Verantwortung: Das fĂŒr die Felder Arbeit und KriminalitĂ€t herausgearbeitete Auseinandertreten von Handlungsmacht und Verantwortung – das als Erfahrung, sich selbst da noch verantwortlich zeigen zu mĂŒssen, wo dem Handeln strukturelle und soziale Grenzen gesetzt sind, gekennzeichnet werden kann – stehe nicht im Widerspruch zur philosophischen Ausformulierung von Handlungsmacht als Verantwortung und vice versa. Vielmehr stĂŒtze die Sakralisierung verantwortlicher SubjektivitĂ€t im Feld der Philosophie die Praktiken der Verantwortungszuweisung in anderen Feldern und arbeite der LegitimitĂ€t des Regierens und Regiertwerdens im Namen von Verantwortung zu (423).

FĂŒr erziehungswissenschaftliche Theoriebildung besitzt die Untersuchung Frieder Vogelmanns weit reichende Anschlussstellen, obwohl Vogelmann das Feld der Bildung und Erziehung kaum berĂŒhrt: Problemstellungen und Fragen der stellvertretenden VerantwortungsĂŒbernahme und -zuweisung, Fragen advokatorischer Autorisierungen im Namen eines zu ĂŒbermittelnden Wertzusammenhangs bzw. einer kindlichen Angewiesenheit ebenso wie Fragen der PĂ€dagogisierung von Verantwortung im Zeichen eines zu bildenden Subjekts (z.B. im Anspruch der MĂŒndigkeit, Emanzipation und Autonomie) finden in der von Vogelmann vorgelegten Studie prĂ€gnante begriffliche Vorarbeiten und analytische ZugĂ€nge, die es erlauben, die Alternative zwischen paternalistischen SouverĂ€nitĂ€tsansprĂŒchen und der Sakralisierung kindlicher SelbsttĂ€tigkeit zu verlassen.

Die Studie ist nicht allein formal durch einen stringenten Aufbau, prĂ€zise durchgefĂŒhrte Begriffs- und Analysearbeit und kontinuierlich eingeflochtene Zusammenfassungen sehr gut lesbar. Sie ist vor allem sehr gut lesbar als ein inhaltlich fundierter Beitrag einer erkenntnispolitischen Betrachtung der Evidenz von Selbstbeschreibungen der (Post-)Moderne im Zeichen von Verantwortung, die zwei Dinge leistet: eine genuin analytisch getragene Darstellung der Genese von „Verantwortung“ zu einem Kernbegriff moderner Selbstbeschreibung sowie eine problematisierend-kritische Erschließung der WirkmĂ€chtigkeit von Zurechnungen, Handlungsmacht und SubjektivitĂ€t im Namen von Verantwortung. Auf diese Weise erfĂŒllt sie den mit Verweis auf Foucaults Anliegen einer „kritischen Ontologie der Gegenwart“ angefĂŒhrten Anspruch (87f), der Frage Raum zu geben, wie es möglich werden kann, nicht dermaßen im Namen von Verantwortung regiert zu werden.
Kerstin Jergus (UniversitÀt Bremen)
Zur Zitierweise der Rezension:
Kerstin Jergus: Rezension von: Vogelmann, Frieder: Im Bann der Verantwortung, Reihe: Frankfurter BeitrĂ€ge zur Soziologie und Sozialphilosophie, Band 20. Frankfurt am Main: Campus 2014. In: EWR 15 (2016), Nr. 3 (Veröffentlicht am 25.05.2016), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978359350125.html