EWR 13 (2014), Nr. 5 (September/Oktober)

Gudrun Wansing / Manuela Westphal (Hrsg.)
Behinderung und Migration
Inklusion, DiversitÀt, IntersektionalitÀt
Wiesbaden: Springer VS 2014
(364 S.; ISBN 978-3-531-19400-4; 49,99 EUR)
Behinderung und Migration Mit dem Buch ‚Behinderung und Migration‘ legen Gudrun Wansing und Manuela Westphal einen Sammelband vor, der sich den VerknĂŒpfungen und Schnittstellen der Differenzkategorien und Fachgebiete ‚Behinderung‘ und ‚Migration‘ widmet. Beide Fachdiskurse, so das Anliegen der Herausgeberinnen, sollen aufeinander bezogen diskutiert und verschiedene Aspekte ihres VerhĂ€ltnisses zueinander in interdisziplinĂ€rer Perspektive beleuchtet werden.

Schon die BeschĂ€ftigung mit ‚Behinderung‘ als relevanter Kategorie im Kontext sozialwissenschaftlicher Auseinandersetzungen, in denen seit einigen Jahren vermehrt ĂŒber das Zusammenwirken verschiedener Differenz- und UngleichheitsverhĂ€ltnisse unter den Schlagworten IntersektionalitĂ€t und Diversity / DiversitĂ€t nachgedacht wird, stellt eine Besonderheit des vorliegenden Sammelbandes dar. Denn obwohl in den Debatten i. d. R. die Offenheit gegenĂŒber verschiedenen Differenzkategorien betont wird, nimmt die Kategorie ‚Behinderung‘ im Vergleich zur klassischen Trias ‚race, class, gender‘ eine marginale Rolle ein. In Anbetracht von Debatten, in denen das Zusammenwirken der DifferenzverhĂ€ltnisse ‚Migration‘ und ‚Behinderung‘ etwa in Bezug auf die ÜberreprĂ€sentation von Kindern und Jugendlichen mit einem sogenannten Migrationshintergrund auf ‚Förder-‘ und ‚Sonderschulen‘ diskutiert wird, erscheint es erstaunlich, dass bislang nur wenige theoretische und empirische Arbeiten zu dieser Schnittstelle vorliegen. Der Sammelband ‚Behinderung und Migration‘ widmet sich dieser Leerstelle.

Das Buch ist in fĂŒnf Abschnitte gegliedert: Im ersten sind BeitrĂ€ge versammelt, die auf unterschiedliche theoretische Überlegungen im Rahmen von IntersektionalitĂ€t, DiversitĂ€t und Inklusion Bezug nehmen und verschiedene theoretische ZugĂ€nge zu den Feldern Migration und Behinderung prĂ€sentieren. Die in den weiteren vier Teilen des Buches folgenden BeitrĂ€ge konzentrieren sich auf empirische Untersuchungen zu unterschiedlichen Themenfeldern des Gegenstandsbereiches ‚Behinderung und Migration‘ (II. Lebenslagen und Sozialraum, III. Schulische Bildung, IV. Berufliche Bildung und Arbeitsleben, V. Antidiskriminierung und Geschlecht).

Die Herausgeberinnen leiten den ersten Teil des Buches mit einem einfĂŒhrenden Überblick ĂŒber die Parallelen, die Unterschiede und die UnschĂ€rfen der (politischen und rechtlichen) Konzepte und Diskurse zu Migration und zu Behinderung ein. Es folgt die Auseinandersetzung Dominik Baldins mit der Verortung und dem Stellenwert der („neuen“) Kategorie ‚Behinderung‘ im aktuellen Diskurs zu IntersektionalitĂ€t sowie mit der Frage nach Möglichkeiten eines stĂ€rkeren Einbezugs dieser in Forschung und eines angemessenen Zugangs zu der bisher weitestgehend vernachlĂ€ssigten Schnittstelle ‚Migration und Behinderung‘. Christine Weinbach plĂ€diert in ihrem Beitrag fĂŒr eine gesellschaftstheoretische RĂŒckbindung intersektionaler Analysen. Sie argumentiert fĂŒr eine stĂ€rkere Konzentration auf Sozialstrukturen als primĂ€r relevant fĂŒr die Etablierung von und das VerhĂ€ltnis zwischen je bedeutungsvollen „Personenkategorien“ (73) in intersektional informierten gesellschaftsanalytischen Untersuchungen und verdeutlicht dies beispielhaft anhand der Analyse von Kategorienbildungen mit Bezug auf Behinderung und Migration im Kontext des „europĂ€ischen Wohlfahrtsstaat[s]“ (77). Eine BrĂŒcke zu pĂ€dagogischen Handlungsfeldern und -diskursen schlagen die BeitrĂ€ge von Clemens Dannenberg und Elisabeth Tuider. Ersterer fragt nach den Implikationen eines Behinderung und Migration umfassenden, kritisch rezipierten Inklusionsdiskurses als Ablösung eines Intergrationsparadigmas fĂŒr die Soziale Arbeit, und letztere zeigt unter Fokussierung der Schnittstelle von Gender, Sexuality und Ability Möglichkeiten der Entwicklung eines antinormativen und antikategorialen Körperkonzeptes als Teil einer DiversitypĂ€dagogik auf.

Den aktuellen Forschungsstand zu „den LebensverhĂ€ltnissen von Menschen mit Behinderungen und Migrationshintergrund sowie ihrer Angehörigen“ (121) resĂŒmiert Matthias Windisch im ersten, die empirischen Teile des Buches einleitenden, Beitrag. Er stellt fest, dass kaum eine Studie den AnsprĂŒchen einer in Bezug auf Kategorienbildung und soziale Ungleichheiten reflexiven Forschung, die das Zusammenwirken beider Differenzkategorien beleuchtet, genĂŒgt. Obwohl bisherige Forschungen laut Windisch nicht in der Lage sind, „differenzierte Informationen zu ZusammenhĂ€ngen von Behinderungs- und Migrationshintergrund“ (120) bereitzustellen, lassen sich ihm zufolge aus den vorliegenden Daten trotz auszumachender unzulĂ€nglicher methodischer Voraussetzungen auch „eine Reihe rudimentĂ€rer Hinweise auf ZusammenhĂ€nge von Migration und Behinderung“ (122) ablesen.

Die sich sowohl auf qualitative als auch auf quantitative Daten beziehenden Untersuchungen und Analysen, die in den folgenden BeitrĂ€gen vorgestellt werden, ergĂ€nzen sich im Hinblick auf die Vielfalt der unterschiedlichen Aspekte der Thematik, die in den Blick genommen werden, sowie die (auch disziplinĂ€r) unterschiedlichen ZugĂ€nge zum Gegenstandsbereich ‚Migration und Behinderung‘. In einem Teil der BeitrĂ€ge nĂ€hern sich Autor/-innen der Schnittelle ‚Behinderung und Migration‘, indem sie Forschungsergebnisse oder amtliche Statistiken bzw. reprĂ€sentative Erhebungen zu den einzelnen Feldern zusammenfĂŒhren, (vergleichend) diskutieren und hinsichtlich ihrer Implikationen analysieren. Auf diese Weise zeichnen Justin J. W. Powell und Sandra J. Wagner in ihrem Beitrag eindrĂŒcklich die „ethnisch-kulturelle Ungleichheit in Bezug auf den Sonderschulbesuch“ nach (192) und analysieren Monika Schröttle und Sandra Glammeier Gewalt gegen Frauen und MĂ€dchen. Ähnlich gehen sowohl Petra Flieger, Claus Melter, Farah Melter und Volker Schönwiese unter Bezugnahme auf Diskriminierungserfahrungen im Bereich Migration und im Bereich Behinderung in ihrem Beitrag vor als auch Julia Zinsmeister, die sich in intersektional-juristischer Perspektive mit dem Antidiskriminierungsrecht beschĂ€ftigt.
Andere Verfasser/-innen stellen empirisch-qualitative Forschungen vor, in denen der Schwerpunkt recht deutlich auf einer der beiden Differenzkategorien liegt. So etwa in den lesenswerten BeitrĂ€gen von Kerstin Merz-Atalik, in denen sie fĂŒr eine inklusive und diversityorientierte Schulpraxis im Kontext von „migrationsbedingte[r] Vielfalt“ (159) argumentiert, oder jener von Marc Thielen, der pĂ€dagogische Praktiken in Berufsvorbereitungsklassen hinsichtlich der Bedeutsamkeit eines ‚Migrationshintergrundes‘ untersucht und zeigt, dass ein solcher „den Zugang zum Ausbildungsmarkt erheblich erschweren oder gĂ€nzlich behindern kann“ (204).
Eine intersektionale Analyse des Zusammenwirkens von Ableism und Rassismus, in der vor dem Hintergrund neoliberaler Bedingungen sowohl Strukturen als auch HandlungsfĂ€higkeiten in den Blick genommen werden, gelingt Marianne Pieper und Jamal Haji Mohammadi in ihrem differenzierten Beitrag zur „Partizipation mehrfach diskriminierter Menschen am Arbeitsmarkt“.

Der vorliegende Sammelband gewĂ€hrt vielfĂ€ltige Einblicke in ein Themen- und Forschungsfeld, zu dem derzeit nur wenige Studien vorliegen, und verdeutlicht darĂŒber hinaus Desiderate und Leerstellen. In den meisten BeitrĂ€gen des Bandes wird eine reflexive und (selbst-)kritische Perspektive auf kategoriale Bedeutungskonstruktionen eingenommen, in der der Blick auch den gesellschaftlichen Ungleichheitsstrukturen gilt. Eine Forschung, die intersektional Verbindungen zwischen den Differenz- und Ungleichheitskategorien ‚Behinderung‘ und ‚Migration‘ schafft und dabei Kriterien entspricht, wie sie etwa im ersten Teil des Bandes expliziert werden, so wird ebenfalls deutlich, steht jedoch noch am Anfang. Auch angesichts dessen stellt der Sammelband einen wichtigen Beitrag zu Diskursen im Kontext von IntersektionalitĂ€t, Diversity, Behinderung und Migration dar, der fĂŒr Wissenschaftler/-innen wie fĂŒr Studierende aus Soziologie und (Sonder-, Migrations-, Sozial- und Diversity-)PĂ€dagogik anregend und auch fĂŒr pĂ€dagogische FachkrĂ€fte interessant sein dĂŒrfte.
Wiebke Scharathow (Freiburg)
Zur Zitierweise der Rezension:
Wiebke Scharathow: Rezension von: Wansing, Gudrun / Westphal, Manuela (Hg.): Behinderung und Migration, Inklusion, DiversitĂ€t, IntersektionalitĂ€t. Wiesbaden: Springer VS 2014. In: EWR 13 (2014), Nr. 5 (Veröffentlicht am 10.10.2014), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978353119400.html