EWR 12 (2013), Nr. 5 (September/Oktober)

Michael Glüer
Beziehungsqualität und kindliche Kooperations- und Bildungsbereitschaft
Eine Studie in Kindergarten und Grundschule
Wiesbaden: Springer VS 2011
(484 S.; ISBN 978-3-531-19315-1; 49,95 EUR)
Beziehungsqualität und kindliche Kooperations- und Bildungsbereitschaft Die Erforschung der Beziehungsqualität und Bindung von Kindern zu primären Bezugspersonen belegt den bedeutenden Einfluss einer sicheren Bindung auf die sozial-emotionale als auch kognitive Entwicklung des Kindes. Während zur primären Bindungsbeziehung bereits umfassende Forschungsbefunde vorliegen, befinden sich Untersuchungen zu sekundären Bindungsbeziehungen im Elementar- und Primarbereich noch in einem anfänglichen Stadium. In Anbetracht der Tatsache, dass „die Erzieher-Kind-Beziehungsqualität [die] Grundlage aller pädagogischen Prozesse“ (27) bildet, setzt Michael Glüer mit seiner Dissertation an diesem noch jungen Forschungsfeld an.

Der Autor widmet sich der längsschnittlichen Untersuchung der kindlichen Beziehungsqualität zu sekundären Bezugspersonen im Übergang vom Kindergarten zur Grundschule sowie deren Auswirkungen auf das Zusammenspiel mit motivationalen Faktoren des Kindes – in diesem Fall der Kooperations- und Bildungsbereitschaft unter Berücksichtigung der geschlechtsspezifischen Einflüsse.

Die empirisch angelegte Arbeit basiert auf einer Stichprobe von 75 Kindern aus Berlin, deren Beziehungsqualität zu den ausschließlich weiblichen sekundären Bezugspersonen sowie ihre Kooperationsbereitschaft in verschiedenen Aspekten zu drei Messzeitpunkten, von 2007 bis 2009, erhoben wurden.

Im theoretischen Teil der Dissertation arbeitet der Autor, basierend auf den divergenten Aufgaben und strukturellen Merkmalen der jeweiligen Kontexte, die Unterschiede in der Beziehungsfunktion des Kindes zu primären Bezugspersonen sowie zu Bezugspersonen im Betreuungs- und Bildungskontext des Elementar- und Primarbereichs heraus. Eingebettet in die Begriffsbestimmungen zur Beziehungs- und Bindungsqualität sowie zu den einzelnen im empirischen Teil untersuchten Kooperationsbereitschaftskomponenten werden gründliche Übersichten zu bis zu diesem Zeitpunkt durchgeführten Studien zu „Geschlechtsunterschieden in der Bindungsqualität zu sekundären Bezugspersonen“ (56) sowie zu entwickelten Instrumenten zur Erfassung der Beziehungsqualität in der Schule gegeben.

Auf den Theorieteil folgt eine stringente Ableitung der Fragestellungen, die nachfolgend erläutert werden, aus der zuvor dargestellten empirischen und theoretischen Datenlage für den empirischen Teil.

Die empirischen Vor- und Hauptstudien sowie Ergebnisse zur Schüler-Lehrer-Beziehungsqualität (Teil A) und des Einflusses der sekundären Beziehungs- und Bindungsqualität auf die kindliche Kooperations- und Bildungsbereitschaft im Kindergarten und in der Grundschule (Teil B) werden in zwei Teilen vorgestellt und diskutiert.

Die erste Vorstudie des empirischen Teils A zielt – mit Anschluss „an die Beobachtungsverfahren der Bindungsforschung in früher Kindheit“ (159) – auf die Entwicklung und Validierung eines Beobachtungsinstrumentes zur objektiven Erfassung der Schüler-Lehrer-Beziehungsqualität, anhand dessen beziehungsrelevante Verhaltensweisen von Grundschulkindern gegenüber ihren Lehrpersonen im Klassenkontext identifiziert und operationalisiert werden sollen. Mit der Bestimmung „beziehungsrelevante[n] Verhalten[s] von Schülern“ (29) im Primarbereich betritt Glüer bisher unberührten Boden in der Beziehungsqualitätsforschung. Im Gegensatz zu anderen Studien berücksichtigt Glüer bei dem zu entwickelnden Beobachtungsinstrument explizit die Beziehungsqualitätsrichtung Schüler-Lehrer sowie die Erhebungsperspektive durch einen unabhängigen Beobachter. Die Untersuchung der aufgefundenen und operationalisierten Beobachtungsmerkmale auf ihre psychometrischen Eigenschaften schließt die erste Vorstudie ab.

Die Vorstudien zwei und drei dienen der Überprüfung der Faktorenstruktur, der Inhalts- und empirischen Validität der Beobachtungsskala sowie der Interraterreliabilität der Beobachter.

In den beiden Vorstudien des empirischen Teils B werden die eingesetzten und entwickelten Instrumente zur Erfassung der Beziehungs- und Bindungsqualität sowie Kooperations- und Bildungsbereitschaft zu sekundären Bezugspersonen dargestellt sowie deren psychometrische Voraussetzungen überprüft. Die Erhebungen umfassen dabei folgende Kooperations- und Erhebungskontexte: (1) die Erfassung der Bindungsqualität mit dem Attachment Q-Sort für Erzieher/-innen und der Beziehungsqualität mit der Student-Teacher Relationship Scale über die Perspektive der Erzieherinnen und Lehrerinnen, (2) einen Fragebogen zur Erfassung der kindlichen Bildungsbereitschaft, d.h. der kindlichen Bereitschaft, sich im Gruppenkontext im Kindergarten und in der Grundschule aktiv an Bildungsangeboten zu beteiligen, (3) die Erfassung der kindlichen Agenda, d.h. der Bereitschaft sich von der Erzieherin in einer experimentellen dyadischen Lehr-Lernsituation instruieren zu lassen, durch eine Beobachtungsskala und (4) einen Fragebogen zur kindlichen Bereitschaft, Unterstützungsleistungen in einer dyadischen Interaktionssituation, die im Gruppenkontext des Kindergartens stattfindet, anzunehmen.

Des Weiteren geht der Verfasser der Frage nach, ob Kinder im letzten Kindergartenjahr und in den ersten beiden Grundschuljahren Geschlechtsunterschiede in der Bindungsqualität und Beziehungsqualität aufweisen, „die in Deutschland vor allem bei Krippenkindern mithilfe des FST [Fremde-Situation-Test] aufgefunden werden konnten“ (129) und wie sich diese auf die Kooperations- und Bildungsbereitschaft auswirken.

Gegenstand der ersten Hauptstudie ist „der Einfluss der kindlichen Bindungsqualität zu den Erzieherinnen im Kindergarten auf die kindliche Kooperations- und Bildungsbereitschaft“ (127). Hauptstudie zwei untersucht mit Hilfe einer Pfadanalyse längsschnittlich die Auswirkungen der Beziehungsqualität und Bildungsbereitschaft im Kindergarten auf die Beziehungsqualität und Bildungsbereitschaft in der 1. und 2. Klasse der Grundschule unter Berücksichtigung des Geschlechts der Kinder.

Am Ende des A- und B-Teils werden die Ergebnisse, die u.a. darauf hinweisen, dass Jungen ein weniger ausgeprägtes Sicherheitsverhalten gegenüber den weiblichen Bezugspersonen zeigen als Mädchen und auch weniger von dieser Bindung zu profitieren scheinen als diese (389), jeweils im Hinblick auf die vorgestellte Theorie diskutiert.

Die Dissertation von Glüer bietet zum einen einen umfassenden Überblick über die theoretische und empirische Datenlage zur primären und insbesondere sekundären Beziehungsqualitätsforschung. Zum anderen zeichnen die Arbeit ein hoher methodisch-methodologischer Anspruch sowie ein systematisches und transparentes Vorgehen u.a. bei der Entwicklung der Erhebungsinstrumente und der quantitativen Auswertung aus. Mit seiner klaren und präzisen Sprache sowie der kohärenten Strukturierung und ansprechenden formalen Gestaltung kann Glüer sowohl Studierenden als auch Nachwuchswissenschaftlern Anhaltspunkte für das eigene wissenschaftliche Arbeiten und Forschen geben.

Insgesamt bietet die Arbeit vielfältige Anschlusspunkte für weitere Untersuchungen, um die Ergebnisse dieses Forschungsbereichs, der noch in den Kinderschuhen steckt, zu differenzieren und zu festigen. Es bietet sich beispielsweise eine vertiefte Beschäftigung mit den geschlechtsspezifischen Auswirkungen der sekundären Beziehungsqualität auf die sozial-emotionale Entwicklung, ein verstärkter Fokus auf die Anforderungen der jeweiligen institutionellen Kontexte und deren Bedeutung sowie die Analyse von Interaktionsprozessen zwischen Kindern und ihren sekundären Bezugspersonen für die Entstehung von geschlechtsspezifischen Bindungsbeziehungen an. Ebenso wäre die Untersuchung von Kindern mit Migrationshintergrund sowie männlicher Fachkräften, welche in der vorgestellten Arbeit nicht in die Stichprobe aufgenommen wurden, ein fruchtbarer Ansatz für die Weiterarbeit.

Somit bleibt zu hoffen, dass dem Autorenwunsch, seine aufgezeigten Ergebnisse als „Ausgangspunkt für eine Intensivierung der Diskussion über die Methode[n] zur Erfassung von Beziehungsqualität“ (209) in der Schule wahrzunehmen, zukünftig nachgegangen wird.
Bianca Hofmann (Braunschweig)
Zur Zitierweise der Rezension:
Bianca Hofmann: Rezension von: Glüer, Michael: Beziehungsqualität und kindliche Kooperations- und Bildungsbereitschaft, Eine Studie in Kindergarten und Grundschule. Wiesbaden: Springer VS 2011. In: EWR 12 (2013), Nr. 5 (Veröffentlicht am 04.10.2013), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978353119315.html