EWR 14 (2015), Nr. 1 (Januar/Februar)

Sammelrezension zum Thema: HandbĂĽcher frĂĽhe Kindheit

Margrit Stamm / Doris Edelmann (Hrsg.)
Handbuch frĂĽhkindliche Bildungsforschung
Wiesbaden: Springer VS 2013
(899 S.; ISBN 978-3-531-18474-6; 69,99 EUR)
Rita Braches-Chyrek / Charlotte Röhner / Heinz Sünker / Michaela Hopf (Hrsg.)
Handbuch frĂĽhe Kindheit
Opladen / Berlin / Toronto: Barbara Budrich 2014
(746 S.; ISBN 978-3-86649-431-2; 83,00 EUR)
Handbuch frühkindliche Bildungsforschung Handbuch frühe Kindheit Nach der Jahrtausendwende hat in Deutschland eine beispiellose Expansion nichtfamilialer Kinderbetreuung eingesetzt. Sie geht auf ein Bündel außerpädagogischer Impulse zurück, nicht zuletzt auf eine supranationale Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik. Nationale Akteure – beispielsweise das „Forum Bildung“ – haben diese Impulse in Deutschland bildungspolitisch aufgegriffen. Daher konnten die PISA-Studien die Bedeutung einer Initialzündung für eine – nach der Reform der 70er Jahres des vorigen Jahrhunderts – „zweite Vorschulreform“ (Franke-Meyer, in Braches-Chyrek et al., 248) erlangen und dem Ausbau einer „frühen Bildung“ nachhaltige Priorität auf der politischen Tagesordnung verschaffen.

Den Wissenschaften, die sich traditionell mit der Lebensphase vor der Schulpflicht beschäftigen, hat diese Reform einen Boom beschert; er ist mit dem Aufschwung der Vorschulpädagogik in der Reformphase der 70er Jahre nicht zu vergleichen. Insbesondere die Frühpädagogik hat ihre ausbildungswissenschaftliche Randposition im Wissenschaftssystem verlassen und sich auf den Weg der Theoriebildung, empirischen Forschung und Professionalisierung gemacht. Die beiden hier zu be-sprechenden Handbücher legen davon ein beeindruckendes Zeugnis ab.

Handbücher konsolidieren Fachgebiete und reflektieren das Selbstverständnis von Wissensdomänen; sie sind insbesondere in Phasen dynamischer Entwicklung geeignete Instrumente, Übersicht zu gewinnen und Ordnung zu stiften. Bereits die Vorschulreform der 70er Jahre hatte ein Handbuch hervorgebracht [1]. Seit der Jahrtausendwende gab es verschiedene Versuche, den neuerlich einsetzenden Wandel transparent zu machen. Sie bezogen sich zunächst auf die institutionellen Strukturen der Betreuung, Bildung und Erziehung von Kindern [2] und gingen von der traditionellen Zuständigkeit der Frühpädagogik [3] aus. Die beiden hier zu besprechenden Handbücher lassen dagegen einen bereichspädagogischen Ansatz weitgehend hinter sich und wollen die frühkindliche Bildung als Gegenstandsbereich von Theorie und empirischer Forschung konsolidieren. Dabei orientieren sie sich an angelsächsischen Vorbildern (Stamm / Edelmann an Pianta et al. 2012 [4]; Pianta ist auch ein Autor in diesem Handbuch) bzw. an konzeptionellen Zugängen (Braches-Chyrek et al. an sozialwissenschaftlicher Kindheitsforschung und Sozialpädagogik). In ihrem Anspruch sind beide Handbücher mit dem „Handbuch der Früh- und Vorschulpädagogik“ zu vergleichen, das Rainer Dollase 1978 am Ende der „ersten Vorschulreform“ explizit als Projekt der (inter-)disziplinären Konsolidierung eines Forschungsfeldes konzipiert hatte [5] (Dollase ist mit einem Beitrag im Band von Braches-Chyrek et al. vertreten).

Handbücher sind aber immer auch Versuche der Kanonisierung, also der Normierung von Wissensdomänen. Das Handbuch von Stamm und Edelmann positioniert sich im Kontext der empirischen Bildungsforschung. Sein Verständnis von Gegenstand und Methodologie der Forschung ist im Kern von der Pädagogischen Psychologie und von der Elementardidaktik bestimmt. Die Herausgeberinnen denken das Verhältnis von Bildung und Entwicklung unter dem Gesichtspunkt der Entwicklungsförderung, gehen also von einer gegenstandskonstituierenden Unterscheidung von optimaler und suboptimaler Entwicklung aus. Diese Unterscheidung ist „praxisnah“: Die Problemstellungen der frühkindlichen Bildungsforschung, wie dieses Handbuch sie versteht, setzen denn auch die Prioritäten der Bildungspolitik wie selbstverständlich voraus. Demgegenüber hat das „Handbuch frühe Kindheit“ einen anderen Ansatz. Es betrachtet Bildungsprozesse in früher Kindheit, ihre Institutionalisierung und die Traditionen ihrer Reflexion aus einer kindheitstheoretischen Perspektive, genauer: unter dem Gesichtspunkt von Kinderrechten in der Demokratie. Dabei suchen die Herausgeberinnen und Herausgeber die bildungstheoretischen Traditionen der deutschsprachigen Pädagogik der frühen Kindheit, repräsentiert durch den Eröffnungsbeitrag von Ludwig Liegle, mit Ansätzen einer demokra-tiepolitischen Kindheitsforschung und Sozialpädagogik zu verknüpfen, repräsentiert durch den zweiten Eröffnungsbeitrag von Heinz Sünker und Doris Bühler-Niederberger.

Für eine Positionierung im Kontext empirischer Bildungsforschung ist das Spektrum der Themenstellungen, disziplinären Bezüge und AutorInnen des Handbuchs von Stamm und Edelmann vergleichsweise liberal. Es sticht in dieser Hinsicht deutlich von seinem Vorbild ab, dem Handbuch von Pianta et al. – insbesondere teilt es dessen Verengung auf Probleme einer Technologie der Entwicklungsförderung nicht. Der Unterschied lässt sich exemplarisch an dem Kapitel über die theoretischen Grundlagen frühkindlicher Bildungsforschung ablesen. Es entfaltet den Bedeutungsgehalt frühkindlicher Bildung multidisziplinär und in konträren Perspektiven (vgl. etwa die Beiträge von Melhuish und von Tippelt). Demgegenüber ist Orthodoxie nicht die primäre Herausforderung, mit der das „Handbuch frühe Kindheit“ zu kämpfen hätte. Es fächert seinen Ansatz in einer Vielfalt von Zugängen und Konzepten der Kindheitsforschung auf. Sein Problem ist eher, den ehrgeizigen Anspruch einer integrativen kindheitstheoretischen Perspektive auf Bildungsprozesse in der frühen Kindheit mehr als nur programmatisch einzulösen. Hier ist der Beitrag der britischen Kindheitssoziologin Jo Moran-Ellis besonders relevant, die den kindheitssoziologischen Schlüsselbegriff der agency von Kindern von vordergründig-parteilichen und verkürzt handlungstheoretischen Missverständnissen abgrenzt und als relationales Konzept im Kontext der gesellschaftlichen Positionierung von Kindern entfaltet (vgl. Braches-Chyrek et al., 171–183).

Obwohl die Systematik der beiden Handbücher ihre unterschiedlichen Konzeptionen spiegelt, weisen die Themen der Beiträge charakteristische Schnittmengen auf. Das gilt vor allem für Konzepte frühkindlicher Entwicklung, die Professionalisierung der Fachkräfte und für die Elementardidaktik. Dies scheinen fraglose Grundelemente der Diskurse über „frühe Bildung“ zu sein. Beide Handbücher räumen den Forschungsmethoden ein eigenes Kapitel mit mehreren Beiträgen ein – Hinweis darauf, welche Bedeutung empirische Forschung seit der „ersten Vorschulreform“ gewonnen hat. Andere Schnittmengen werden nicht sofort sichtbar; aber ebenso aus-sagekräftig sind die Unterschiede und nicht zuletzt auch „blinde Flecken“, die beiden Handbüchern gemeinsam sind. Der vielleicht wichtigste Unterschied ist der Stellenwert von Familie als Bildungsort. Stamm / Edelmann stellen ein ganzes Kapitel mit zehn Beiträgen unter das Thema „Frühkindliche Bildung und Familie“; dadurch erhalten Fragen des Verhältnisses von familialer und institutioneller Bi-dung in früher Kindheit ein großes Gewicht. Bei Braches-Chyrek et al. dagegen hat die Familie für die Strukturierung des Gegenstandsbereichs keine systematische Bedeutung. Dieser Umstand verweist auf konzeptionelle Unterschiede. Für Stamm / Edelmann ist Familie als Ort und Umwelt institutioneller Entwicklungsförderung relevant; entsprechend dominieren Fragen der Übergänge, der Elternarbeit, aber auch der herkunftsbedingten Bildungschancen. Ausnahme ist hier der hervorragende Beitrag von Müller, der sich mit Familienerziehung nicht funktional, sondern unter einer kulturtheoretischen Perspektive befasst. Braches-Chyrek et al. gehen dagegen vom Kind als Individuum aus, dessen Rechte und Lebenschancen durch öffentliche Maßnahmen gewahrt werden. Daher fokussiert das „Handbuch frühe Kindheit“ in einem eigenen, umfangreichen Kapitel die Lebensverhältnisse von Kindern und ihre Lebensqualität und öffnet den Gegenstandsbereich über die Bildung und Betreuung von Kindern in Tageseinrichtungen hinaus auf ihren Schutz, ihre Förderung und ihre Partizipation in Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe. Der vielleicht verblüffendste gemeinsame „blinde Fleck“ ist die – mit Ausnahme eines Abschnitts von zwei Seiten im Beitrag von Susanne Viernickel im Band von Stamm / Edelmann – völlige Abwesenheit der sozialen Welt der jungen Kinder; beide Bände sind von der Position der Fachkräfte her konzipiert.

Wenn man sich daran erinnert, dass der aktuelle Druck auf eine Reform vorschulischer Bildung und Betreuung „durch den Vergleich mit dem europäischen Ausland erzeugt“ wird (vgl. Franke-Meyer in Braches-Chyrek et al., 248), ist interessant, wie die beiden Handbücher die Internationalität ihres Gegenstandsbereichs berücksichtigen. Das „Handbuch frühkindliche Bildungsforschung“ enthält ein eigenes Kapitel mit sechs Beiträgen zur frühkindlichen Bildungsforschung im deutschsprachigen Ausland, in UK und den USA sowie einem bemerkenswerten Beitrag zur frühkindlichen Bildung in Entwicklungsländern. Allerdings enthält es keinen Beitrag zur Komparatistik. Die Beiträge wechseln zwischen den nationalen und politischen Kontexten, ohne nach ihrer gegenstandskonstituierenden Relevanz zu fragen. So entsteht der Eindruck einer supranationalen Bildungswirklichkeit, mindestens einer supranationalen Bildungs-governance – Thema allerdings wird dies nicht. Das Handbuch von Braches-Chyrek et al. dagegen weist zwar einige internationale Autoren auf, räumt der Reflexion auf die Internationalität des Feldes aber keinen eigenen Raum ein. Es ist vergleichsweise stärker auf die deutschsprachigen Diskurse und Gegebenheiten konzentriert.

Solche divergenten Schwerpunkte und einvernehmlichen blinden Flecke werfen die Frage auf, welche Perspektiven die beiden Handbücher für die Zukunft der Forschung zur Bildung und Betreuung in früher Kindheit eröffnen. Anders als seinerzeit das Handbuch von Dollase, soviel scheint gewiss, stellen die beiden Handbücher nicht einen Abschluss, sondern eine Zwischenbilanz dar. Geht man auf ihren jeweiligen konzeptionellen Ansatz zurück, deuten die beiden Handbücher indes auf eine Kontroverse hin. Denn der kindheitstheoretische Ansatz des „Handbuchs frühe Kindheit“ erlaubt, das selbstverständliche Bündnis von Bildungsforschung und Bildungspolitik zu unterlaufen, auf dem das „Handbuch frühkindliche Bildungsforschung“ basiert. Leider schließen große Teile des Handbuchs von Braches-Chyrek et al. an den konzeptionellen Ansatz nur unspezifisch, wenn überhaupt an. Man vermisst einen Bezug auf die social early childhood studies – ein label, das Helga Kelle geprägt hat und das auf eine produktive Forschungslinie im Kontext der internationalen Kindheitssoziologie verweist. Auch die beiden Handbücher zur frühen Kindheit, die bei SAGE mittlerweile in der dritten Auflage erscheinen sind, finden kein Echo [6] [7].

Wirklich verblüffend ist aber, dass beide Handbücher den Eindruck vermitteln, die Debatte um Müttererwerbstätigkeit, work-life-balance, internationale Wettbewerbsfähigkeit unter Bedingungen der Globalisierung, demographische Entwicklung, Transformation des Wohlfahrtsstaates etc. seien im Kontext frühkindlicher Bildung keine Erwähnung wert. Beide Handbücher tun so, als wäre es ein lang vermisster Fortschritt, die Betreuungsaufgabe endlich zugunsten der Bildungsfrage zu überwinden. Das aber ist nichts weniger als die Halbierung des Problems. Beide Handbücher erweisen sich damit nicht nur – siehe die einleitende Bemerkung dieser Besprechung – als dramatisch geschichtsvergessen, sondern sie unterwerfen sich auch wie selbstverständlich dem bildungspolitischen Zeitgeist, statt einen systematischen Ansatz ins Visier zu nehmen.

Eine solche Orientierung würde Problemstellungen und Themen eröffnen, die man in beiden Handbüchern vergebens sucht. Eine gegenstandskonstitutive sozialpolitische Einbettung früher Bildung eröffnet den Zugang zur Soziogenese früher Kindheit. Vor diesem Hintergrund kann man das institutionelle Feld der Kinderta-gesbetreuung nicht mehr voraussetzen, sondern muss es als Antwort auf gesellschaftliche Herausforderungen verstehen. In der Folge tritt die care crisis, das strukturelle Betreuungsdefizit moderner Generationenverhältnisse als Signatur des Verhältnisses von Familie und nichtfamilialer Betreuung an die Stelle einer Verengung des Blicks auf Kindertageseinrichtungen als Territorien pädagogisch gemeinter Interaktionen. Dies erlaubt zum einen, das Geschehen in Kindertageseinrichtungen nicht im Lichte pädagogischer Programme bewerten zu müssen, sondern als institutionelle Praxis beobachten zu können; zum anderen wird Position und Positionierung der Kinder als Variable dieser Praxis erkennbar. Die normierenden und normalisierenden Praktiken tragen dazu bei, Kindheit als eine betreute Kindheit zu konstituieren; das Konzept der agency als einer situierten Teilhabe fügt sich in dieses Konzept zwanglos ein.

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die rund sechzig Beiträge jedes der beiden Handbücher eine Breite und eine Vielfalt der Forschung dokumentieren, die zu Zeiten der „ersten Vorschulreform“ kaum vorstellbar war. Dabei ist unvermeidlich, dass Reichhaltigkeit und Differenziertheit mit Heterogenität und Qualitätsunterschieden erkauft werden. Beide Handbücher bergen Überraschungen und Routine, brillante und enttäuschende Beiträge. Allein die Anzahl der Autorinnen und Autoren dokumentiert jedoch einen Fundus, der für die Produktivität und Dynamik zukünftiger Forschung viel verspricht.

Zieht man das zweibändige Werk von Dollase aus den 70er Jahren als disziplingeschichtlichen Bezugspunkt heran, dann fällt zweierlei auf: Zum einen hat sich das zentrale Anliegen Dollases, die Empirisierung des Feldes früher Bildung, in einer beeindruckenden Breite und Differenziertheit verwirklicht. Die beinahe taxonomische Systematik, die Dollase seinem Handbuch zugrunde gelegt hatte, ist dabei allerdings abhandengekommen; an ihre Stelle ist eine große Breite von gegenstandsbezogenen Einzelaspekten getreten. Daher sind systematische gegenstandstheoretisch-methodologische Zugänge ein Gebot der Stunde; sie versprechen auch, jene Finalisierung auf Prämissen und Prioritäten von Praxis und Politik zu überwinden, die für die Frühpädagogik seit jeher kennzeichnend war und ihren Aufmerksamkeitsradius einschränkt. Eine Theorie betreuter Kindheit könnte dies leisten.

[1] Dollase, R. (Hrsg.): Handbuch der Früh- und Vorschulpädagogik. 2 Bde. Düsseldorf: Schwann 1978.
[2] Wehrmann, I. (Hrsg.): Kindergärten und ihre Zukunft. Weinheim und Basel: Beltz 2004.
[3] Fried, L. / Roux, S. (Hrsg.): Pädagogik der frühen Kindheit. Handbuch und Nachschlagewerk. Weinheim und Basel: Beltz 2006.
[4] Pianta, R. C. / Barnett, W. S. / Justice, L. M. (eds.): Handbook of Early Childhood Education. Guilford Press: New York.
[5] Vgl. Dollase 1978, Bd. 1, 3ff.
[6] Maynard, T. / Powell, S. (eds.): Early Childhood Studies. Third Edition. Los Angeles, London a. o.: Sage 2014.
[7] Waller, T. / Davis, G. (eds.): An Introduction to Early Childhood. Third Edition. Los Angeles, London a. o.: Sage 2014.
Michael-Sebastian Honig (Luxemburg)
Zur Zitierweise der Rezension:
Michael-Sebastian Honig: Rezension von: Stamm, Margrit / Edelmann, Doris (Hg.): Handbuch frĂĽhkindliche Bildungsforschung. Wiesbaden: Springer VS 2013. In: EWR 14 (2015), Nr. 1 (Veröffentlicht am 06.02.2015), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978353118474.html