EWR 13 (2014), Nr. 1 (Januar/Februar)

Jürgen Budde (Hrsg.)
Unscharfe Einsätze: (Re-)Produktion von Heterogenität im schulischen Feld
Wiesbaden: Springer VS 2013
(316 S.; ISBN 978-3-531-18415-9; 39,99 EUR)
Unscharfe Einsätze: (Re-)Produktion von Heterogenität im schulischen Feld In der Schul- und Unterrichtsforschung ist Heterogenität ein zentrales Thema. Gleichzeitig ist der Heterogenitätsdiskurs komplex und spannungsgeladen, denn Heterogenität kann nicht isoliert sondern immer nur im Zusammenhang mit Homogenität betrachtet werden. Heterogenität zeigt sich als Differenz zwischen Personen oder Eigenschaften, die jeweils hinsichtlich eines Kriteriums verglichen werden. Gleichheit und Differenz lassen sich sowohl auf der Makroebene, also der Ebene der Schulorganisation, als auch auf Mikroebene des Unterrichtsgeschehens betrachten.

Der vorliegende Sammelband von Jürgen Budde greift die zuvor skizzierten Aspekte des Diskurses um Heterogenität aus verschiedenen Blickwinkeln auf. Unter dem Titel „Unscharfe Einsätze: (Re-)Produktion von Heterogenität im schulischen Feld“ wird auf das Konstrukt der Heterogenität im schulischen Kontext eingegangen. Dabei bleibt Budde nicht bei der Frage stehen, wie mit Heterogenität umgegangen wird, sondern verfolgt darüber hinaus die zentrale Frage, wie in der Schule selbst Heterogenität erschaffen und verstärkt wird. Der Band zielt darauf ab, „eine Diskussion zu theoretischen und empirischen Konzeptionierungen von Heterogenität voranzutreiben, die sich jenseits von affirmativer Verwendung oder Praxisorientierung grundlegend mit Konstruktionen von Heterogenität“ (16) beschäftigt.

Der Band enthält dreizehn Aufsätze, in denen einundzwanzig Autoren zu Wort kommen. Der Herausgeber benennt seine Zielgruppe nicht explizit. Die seitens des Verlags intendierte Zielgruppe des Sammelbands ist weit gefasst: Angesprochen werden sollen sowohl Fachwissenschaftler/-innen in den Bildungswissenschaften und in Erziehungswissenschaft als auch Studierende sowie Dozent/-innen in diesem Bereich. Darüber hinaus richtet sich der Band an Bildungsverantwortliche auf Bundes- und Länderebene.

Die Aufsätze sind in drei Kapiteln organisiert. In Kapitel I werden zunächst in fünf Aufsätzen verschiedene theoretische Perspektiven des Heterogenitätsdiskurses aufgezeigt. So beschäftigt sich der Aufsatz von Isabell Diehm, Melanie Kuhn und Claudia Machold mit der ethnographischen Differenzforschung und ihren methodologischen Herausforderungen. Hier wird deutlich, dass die Situationszentriertheit eine zentrale methodologische Schwierigkeit bei der Analyse der (Re-)Produktion von Ungleichheit ist. Wie können Barrieren abgebaut und Teilhabe gestaltet werden? Diese Frage wird aus der Perspektive der sozialen Ungleichheitsforschung betrachtet und führt Mechtild Gomolla zu einem normativen Reflexionsrahmen einer heterogenitätsbewussten Organisationsentwicklung mit dem Ziel, institutionellen Ursachen von Diskriminierung und Ungleichheit entgegenzuwirken. Aus einer konstruktivistischen Perspektive heraus blicken die folgenden Aufsätze auf Heterogenität. Wie werden speziell im deutschsprachigen Diskurs der Schul- und Unterrichtsforschung die Adressat/-innen betrachtet? Kerstin Rabenstein und Julia Steinwand zeigen Subjektkonstruktionen im Heterogenitätsdiskurs in Aufsätzen empirischer Forschung ebenso wie in Lehrwerken für die Lehrerausbildung auf und stellen einen Prozess der Heterogenisierung heraus. Welche Herausforderungen lassen sich in der Heterogenitätsthematik aus schul- und organisationstheoretischer Perspektive identifizieren? Mit dieser Frage verlässt Beate Wischer den pädagogisch subjektorientierten Blick zugunsten der Konstruktionsbedingungen von Heterogenität im Kontext institutionalisierter Lernprozesse. Ist die Rede von Heterogenität eine Modeerscheinung oder ein Symptom? Dieser streitbaren Frage geht Norbert Wenning nach und stellt heraus, dass eine schulpädagogische oder didaktische Perspektive zur Diskussion nicht genügen kann.

Die gesammelten Beiträge machen deutlich, dass sich der Umgang mit Heterogenität und die Reproduktionsprozesse von Heterogenität nicht voneinander trennen lassen sondern sich gegenseitig bedingen: Heterogenität lediglich als Voraussetzung für Bildungsprozesse zu betrachten, ist zu kurz gefasst. Vielmehr wird Heterogenität von gesellschaftlichen Institutionen durch normative Setzungen hervorgebracht.

Kapitel II beleuchtet in sieben Aufsätzen empirische Perspektiven. Diese sind leider nicht thematisch oder forschungsmethodisch geordnet, sondern alphabetisch nach Autorenname. Ausgangspunkt der Untersuchungen ist zumeist der Unterricht, innerhalb dessen Heterogenität konstruiert wird. Im Fokus stehen insbesondere Formen des offenen Unterrichts, da eine Öffnung des Unterrichts Möglichkeiten des differenzierten Umgangs mit der Heterogenität der Schüler/-innen bietet. Hieraus abgeleitet stellen Georg Breidenstein, Christin Menzel und Sandra Rademacher die Frage nach der Legitimierung von Unterschieden in einem individualisierten Unterricht. Der Blick auf die Lehrperson wird in Buddes Aufsatz, in dem es um die Frage der Bedeutung von Arbeitsblättern im differenzierten Unterricht für die Heterogenitätskonstruktion von Lehrpersonen geht, ebenso eingenommen wie in der Untersuchung Tanja Sturms zu Praktiken der Differenzbearbeitung in Form von Orientierungsrahmen von Lehrkräften. Den Fokus auf die Lernenden im Unterricht hingegen richten die folgenden Forschungsprojekte: Wie Grundschulkinder beim kooperativen Lernen mit Differenz umgehen oder diese herstellen fragen Torsten Eckermann und Friederike Heinzel. Ausgehend vom Konzept des doing difference erforscht Marita Kampshoff die Praktiken der Lernenden auf handlungspraktischer sowie diskursiver Ebene. Uwe Gellert untersucht die Konstruktion von Leistungshierarchien im Unterricht nach gerade erfolgtem Übergang in die Sekundarstufe und vergleicht dabei Hauptschüler/-innen und Gymnasiast/-innen. Dabei stellt er die Bedeutung von Instruktions- und Regulationsdiskursen in der Schüler-Lehrer-Interaktion heraus. Die Mikroebene des Unterrichts verlassend blicken Kerstin Jergus, Jens Oliver Krüger und Sabrina Schenk auf die Mesoebene der Einzelschule während sie erforschen, wie Heterogenität als Leitbild fungiert sowie in schulischen Leitbildern zu einem Selbstentwurf genutzt wird.

In den vorwiegend qualitativen, aber auch quantitativ-empirischen Perspektiven kommen verschiedene Forschungsansätze und -methoden zum Tragen. Die dargestellten Ergebnisse beziehen sich auf Untersuchungen an verschiedenen Schularten und Schulformen (Montessori-Schule, Grundschule, Hauptschule und Gymnasium). Thematisch zeigen die Untersuchungen verschiedene Facetten des Heterogenitätsdiskurses sowie daran anknüpfend weitere Forschungsperspektiven auf.

Mit lediglich einem Aufsatz fällt Kapitel III eher klein aus und wird somit der Bezeichnung Exkurs gerecht. Das norwegische Schulsystem, das allgemein als fortschrittlich und integrativ angesehen wird, da gemeinsame schulische Angebote für alle Schüler-/innen realisiert werden, wird einer kritischen Betrachtung unterzogen. Unter der Bezeichnung „the lost yield of education“ (298) diskutiert Gjert Langfeld in englischer Sprache das Phänomen der abnehmenden Rendite von Bildungsinvestitionen in Norwegen.

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass der vorliegende Sammelband auf gelungene Weise sowohl theoretische Perspektiven anspricht als auch empirische Befunde zu Heterogenität liefert. Dabei greift der Band bisherige Erkenntnisse und Positionen des Heterogenitätsdiskurses als Reformdiskurs auf, löst sich von dessen bisweilen normativer Herangehensweise an Heterogenität sowie vorschnellen Lösungen zum Umgang mit Heterogenität und erweitert den Blick um neue Gesichtspunkte. Zentral herausgestellt werden der eigene Beitrag des schulischen Feldes zur Reproduktion von Heterogenität sowie die Notwendigkeit, das Schulsystem in seiner gesellschaftlichen Bedingtheit und Einbindung in das Bildungssystem zu betrachten. Das Konstrukt der Heterogenität wird hier schwerpunktmäßig aus Perspektive der Erziehungswissenschaft und speziell der Schulpädagogik kritisch diskutiert und kann somit die Fortsetzung des Diskurses auf verschiedenen Ebenen anstoßen. Der Band wird seinem selbst gesetzten Anspruch, die Heterogenitätsdebatte nicht aus der Subjektperspektive der Lerner/-innen sondern aus der Organisationsperspektive zu betrachten, nicht immer ganz gerecht. Hinsichtlich der anzusprechenden Zielgruppe wird zentral ein fachwissenschaftlicher Leserkreis angesprochen. Auf Grund der Abstraktion der Thematik und ebenso der teilweise komplexen sprachlichen Gestaltung eignet sich der Band weniger für Studierende. Bildungsverantwortliche können Anstöße im Reformdiskurs erhalten.
Katharina Hombach (Mainz)
Zur Zitierweise der Rezension:
Katharina Hombach: Rezension von: Budde, Jürgen (Hg.): Unscharfe Einsätze: (Re-)Produktion von Heterogenität im schulischen Feld. Wiesbaden: Springer VS 2013. In: EWR 13 (2014), Nr. 1 (Veröffentlicht am 05.02.2014), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978353118415.html