EWR 10 (2011), Nr. 4 (Juli/August)

Anke Grotlüschen
Erneuerung der Interessetheorie
Die Genese von Interesse an Erwachsenen- und Weiterbildung
Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2010
(300 S.; ISBN 978-3-5311-7491-4; 34,95 EUR)
Erneuerung der Interessetheorie Die psychologische Interesseforschung ist breit ausgebaut, und was das Interesse an Bildung – bzw. den Bildungsinhalten – betrifft, so wird dieses in der Adressaten- und Teilhabeforschung erforscht. Was aber fehlt, ist Wissen über die Genese von Interesse. Das ist der Bereich, über den die Autorin die „Erneuerung“ der Interessetheorie anstrebt. Zudem führt die Autorin zu Recht aus, dass der Interessebegriff gerade in der Adressaten- und TeilnehmerInnenforschung theoretisch unbestimmt bleibt. Die Autorin hat sich zum Ziel gesetzt, den Begriff theoretisch zu präzisieren und empirisch auszudifferenzieren, und zwar so, dass sichtbar wird, wie Interesse entsteht.

Die theoretischen Grundlagen (Kap. 2, nach einem einleitenden und die Argumentation zusammenfassenden ersten Kapitel) liefern zunächst der Interessebegriff der Philosophie des Pragmatismus John Deweys, die Habitustheorie Pierre Bourdieus und der Begriff des subjektiv begründeten Interesses Klaus Holzkamps, dann auch eine Auseinandersetzung mit den Forschungen zu Teilnahme am Lebenslangen Lernen sowie schließlich mit der psychologischen Interessenforschung hauptsächlich der sogenannten Münchner Schule um Andreas Krapp. Die Autorin hat sich also ein weites Feld vorgenommen; die Auseinandersetzungen sind sprachlich nicht immer geglückt, der Sache nach aber äußerst gewinnbringend. Am fruchtbarsten sind die Anschlüsse an Dewey und die empirischen Untersuchungen; deshalb gehe ich auf diese genauer ein.

Von Dewey leitet Grotlüschen ab, dass Interesse für etwas nicht schon vor der ersten Begegnung mit dem Gegenstand des Interesses da ist, sondern sich erst in der Begegnung entwickelt. Interesse wird als Handlung begriffen, wobei auch das forschende Denken als Handeln begriffen wird. Dieses forschende, instrumentelle Denken wiederum ist nicht nur in der Wissenschaft anzutreffen, sondern immer dann, wenn sich ein Individuum mit einer Sache – sagen wir: auseinandersetzt und daran „wächst“.

Beim interessierten Handeln nach Dewey schreibt das Individuum dem Gegenstand, mit dem es sich auseinandersetzt, Bedeutung für das eigene Handeln zu. Bedeutung meint, dass zwischen dem gegenwärtigen Handeln einerseits und dem vergangenen und zukünftigen andererseits ein Bezug hergestellt wird. Was die Zukunftsperspektive betrifft, so fasst Dewey diese u.a. mit dem Begriff des „Wachstums“, womit gemeint ist, dass das interessierte Handeln neue, erweiterte Handlungsmöglichkeiten eröffnet. Diese zeitliche Form des Interesses bezeichnet Grotlüschen als „pragmatische Achse“. Wie der Vergangenheits- und Zukunftsbezug sich genauer entfaltet, wird im empirischen Teil untersucht.

Von Bourdieu übernimmt Grotlüschen den Gedanken, dass Interesse nicht nur eine pragmatische Achse, sondern auch eine habituelle Rahmung hat. Interessen entwickeln sich innerhalb soziokulturell gegebener „Korridore“ (289). Aus subjektiver Sicht hat Interesse immer eine selbstbestimmte Komponente. Die Habitustheorie verweist darauf, dass die „dualistische Konzeption von Selbst- und Fremdbestimmung“ (67) überwunden werden muss. Zudem ist das Interesse nie „interesselos“; auch die angeblich rein intrinsische Zugewandtheit auf einen Gegenstand entspricht, so ist zu vermuten, einem Interesse an schichttypischer Distinktion. Der habituelle Korridor wird als „habituelle Achse“ bezeichnet und bildet zusammen mit der pragmatischen Achse ein Koordinatensystem; das ist etwas irreführend, weil die habituelle Achse im Gegensatz zur pragmatischen keine Ausprägung kennt, also eigentlich keine Achse ist.

Von Holzkamp übernimmt die Autorin die Anregung, Interessen „begründungslogisch“ (71) zu erheben. Was das genau heißt und warum es sein soll, wird nicht wirklich begründet. Im Grunde geht es darum, dass nach den Gründen für die Genese von Interesse geforscht wird, wobei die wahren Gründe der erforschten Person nicht notwendig bewusst sein müssen, zumal dann nicht, wenn die Person nur nach „restriktiver Handlungsfähigkeit“ strebt, womit gemeint ist, dass innerhalb der bürgerlichen Ideologie bestehende Machtverhältnisse nicht hinterfragt werden. Allerdings findet sich in den empirischen Studien die Trennung in „wahre“ und restriktive Interessen nicht kategorial wieder; es ist wohl auch unklar, wie wahre Interessen durch Begründungen, also verbale Daten, gewonnen werden können.

Nach den theoretischen Kapiteln folgen kurze Diskussionen einer Vielzahl von Studien zu Bildungsbeteiligung und Nichtteilnahme (Kap. 3). Das ist gut zusammengestellt, bringt aber die eigenen Analysen der Autorin nicht viel weiter, weil die Genese der Interessen in diesen Studien nicht in den Blick kommt. Die Studien bestätigen allerdings, dass Interesse eine habituelle Achse hat. Es folgt ein Durchgang durch die psychologische und pädagogische Interesseforschung (Kap. 4), deren Ertrag hier nicht erörtert werden muss.

Den Kern des Buches bilden drei empirische Studien, die nacheinander durchgeführt wurden. Erstens (Kap. 5) wird mit Hilfe des „Fragebogens zum Studieninteresse“ (FSI) und einer von der Autorin erstellten, aber wohl nicht getesteten, in dem Buch nicht einmal vorgestellten Version für die Weiterbildung die Interesseintensität in einigen Weiterbildungen und Studiengängen untersucht. Doch diese Studie bringt keine Ergebnisse zum Thema Interessegenese; das Instrument kann das auch gar nicht, weshalb man sich fragt, warum diese Studie hier vorgestellt wurde. Die Autorin nutzt sie nur für eine nicht sehr elaborierte Kritik an quantitativen Studien.

Die beiden nächsten Studien sind dafür umso interessanter. Die erste dieser beiden qualitativen Studien kodiert in Anlehnung an die Methode der Grounded Theory, allerdings mit einem modifizierten, aber im Buch nicht vorgestellten Kodierschema, 85 „retrospektive Kurzerzählungen biografischer Natur“ (177), in denen Studierende „Interessenverläufe“ (180) angeben. Auf dieser Basis wird das Zwei-Achsen-Schema weiter ausdifferenziert (zusammenfassend: 183). Auf der pragmatischen Achse, der Zeitachse, ergeben sich drei Phasen: „Berührung“ mit dem Gegenstand, „Entwicklung“ des Interesses und „Trend“. Die erste und dritte Phase werden weiter nach Formen der Berührung bzw. des Trends ausdifferenziert, die zweite Phase nach Unterphasen. Es wurde auch eine vierte Phase der zunehmenden „Distanzierung“ von dem Gegenstand des Interesses ausgemacht, die beschrieben, aber nicht weiter differenziert wird, weil die Studie die Genese von Interesse zum Thema macht, nicht den Abbau. Die Habitusachse wird ausdifferenziert in Aussagen zu äußeren „Einflüssen“ und zu Formen der „Beteiligung“.

Zur pragmatischen Achse: Die Berührung kann „pointiert“ sein (dann geht sie auf ein spezifisches, klar benanntes Ereignis zurück), „kontinuierlich“, „diffus“ (dann wird sie nicht mehr genau erinnert) oder „abwägend“ (sie war ein bewusster Entscheidungsprozess zwischen vorhandenen Alternativen, z.B. verschiedenen Studiengängen). Die Phase der „Entwicklung“ kann gegliedert werden in eine „Latenzphase“ (das Interesse ist noch fragil), eine „Expansionsphase“, in der das Individuum schrittweise mehr mit dem Gegenstand handelt, und eine „Kompetenzphase“, bei der das Individuum eine „ausgereifte Beschäftigung mit dem Gegenstand“ zeigt.

Zur habituellen Achse: Die äußeren, sozialen Einflüsse auf das Interesse können „reflektiert“ werden; sie werden teilweise „negiert“, d.h. es wird ausgeführt, dass es keine Beeinflussung von außen gab; „prävalent“ sind die Einflüsse, wenn die Versuche der Einflussnahme Dritter beschrieben werden, das Individuum sich von diesen Versuchen aber abgrenzt; „inzident“ sind Einflüsse, wenn sie auf nicht steuerbaren Zufall zurückgeführt wurden. Die Unterkategorien der „Beteiligung“ und des „Trend[s]“ will ich nicht darstellen. Die Ausführungen mögen genügt haben, um sich ein Bild von der Art der Ergebnisse machen zu können.

Weil nun diese zweite Studie die Interessengenese rückblickend rekonstruiert, also eine nachträgliche Konstruktion darstellt, und es den TeilnehmerInnen freigestellt war, welches Interesse sie thematisieren, versucht die dritte Studie, die Interessegenese in einem kurzen Längsschnitt (dreieinhalb Monate) zu beobachten, und zwar den Verlauf des Interesses am Thema einer wissenschaftlichen Weiterbildung. Dazu werden zuerst Diskussionen einer Gruppe zu diesem Interesse videografiert; zum zweiten Erhebungszeitraum wird das Video der Gruppe gezeigt und es wird diskutiert, wie sich das Interesse verändert hat. Im Großen und Ganzen wird das Modell bestätigt und noch etwas weiter ausdifferenziert.

Insgesamt handelt es sich um eine sehr innovative Arbeit, die ein neues Forschungsfeld erschließt. Es ist zu hoffen, dass weitere Forschungen die theoretischen Grundlagen diskutieren, das Modell überprüfen und weiter ausdifferenzieren. Schwierig ist das Thema, weil Interesse an Inhalten nicht notwendig zu Teilnahme führen muss und es auch gar nicht immer sinnvoll sein muss, Interessen durch Teilnahme an Weiterbildung weiter zu entwickeln. Vielleicht könnte die Theorie durch eine genauere Analyse von Deweys Begriff der Gewohnheit (habit) gewinnen, weil sie es ermöglichen könnte, die individuelle Genese habitualisierter Interessen nachzuvollziehen. Auch könnte nachgefragt werden, ob Habitus mit Fremdeinflüssen und Beteiligung gleichgesetzt werden kann, zumal dann, wenn diese zeitlich begrenzt sind; zu fragen ist, ob der habituelle Aspekt von Interesse richtig rekonstruiert wird, wenn ihm Aussagen zu Einflüssen und Partizipationsformen zugeordnet werden.

Während die Arbeit für die Erziehungswissenschaft inhaltlich einen großen Gewinn darstellt, sind Sprache und Komposition leider nicht leserfreundlich. Die Diskussion des Forschungsstands und der benutzten Theorien ist jeweils sehr kurz geraten; vieles wird eher dogmatisch behauptet als genau begründet. Auch leidet die Arbeit darunter, dass viele Themen an mehreren Stellen behandelt werden, sodass zumindest der Rezensent viel blättern, sehr genau lesen, anstreichen und notieren musste, um manche Argumentationen nachzuvollziehen. So wird beispielsweise erst sukzessive entfaltet, inwiefern sich die Verfasserin an die Münchner Interessenforschung anlehnt. Die Sprache ist öfters sperrig, manchmal auch unklar. Der modifizierte FSI wird nicht vorgestellt, und im Literaturverzeichnis fehlen viele Titel, die im Text genannt werden, auch solche, die für die Arbeit zentral sind.
Thomas Fuhr (Freiburg)
Zur Zitierweise der Rezension:
Thomas Fuhr: Rezension von: Grotlüschen, Anke: Erneuerung der Interessetheorie, Die Genese von Interesse an Erwachsenen- und Weiterbildung. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften . In: EWR 10 (2011), Nr. 4 (Veröffentlicht am 30.08.2011), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978353117491.html