EWR 10 (2011), Nr. 4 (Juli/August)

Kerstin Gothe / Michaela Pfadenhauer
My Campus – Räume für die „Wissensgesellschaft“?
Raumnutzungsmuster von Studierenden
Wiesbaden: VS Verlag 2010
(173 S.; ISBN 978-3-5311-6996-5; 24,95 EUR)
My Campus – Räume für die „Wissensgesellschaft“? Einstmals waren es vornehmlich Klöster, innerhalb deren Mauern höhere Bildung vermittelt wurde. Später, spätestens ab Gründung des Deutschen Kaiserreichs im Jahr 1871, verstand sich die Architektur von Universitäten als „gebaute Bildung“, die allerdings weiterhin einer kleinen gesellschaftlichen Elite vorbehalten war. Erst im Zuge der so genannten Bildungsexpansion, die ihren Ursprung in den 1960er Jahren hatte, stieg in der Bundesrepublik Deutschland die Studierendenzahl und damit der für sie benötigte Raumbedarf an Hochschulen und Universitäten erheblich an. In jüngerer Vergangenheit rückten nicht zuletzt im Kontext des spatial turns der Sozialwissenschaften räumliche Bedingungen des Lernens und Lehrens für Kinder und Jugendliche im Elementar-, Primar- und Sekundarbildungsbereich verstärkt in einen interdisziplinären Fokus. Eine ähnliche, wenngleich schwächer ausgeprägte Tendenz, ist auch bezogen auf Bildungseinrichtungen des tertiären Bildungsbereichs zu konstatieren. Die Zusammenführung von Universität und Forschungszentrum Karlsruhe zum Karlsruher Institut für Technologie (KIT) nahmen Kerstin Gothe und Michaela Pfadenhauer zum Anlass, um die bauliche Gestaltung des so entstandenen, auf mehrere Orte verteilten Campus im Hinblick auf die Wahrnehmung des Raums durch Studierende zu untersuchen. Aus den Perspektiven von Soziologie und Stadtplanung streben sie danach, studentische Bedürfnisse, Wünsche und Erwartungen an den Lern- und Lebensort des Campus aufzudecken.

Mit dem vorliegenden Band geben die Autorinnen Einblick in das von ihnen entschuldigend als „Low-Budget-Studie“ bezeichnete Vorhaben, über von Studierenden geführte elektronische „Logbücher“ als besonderer Form von Tagesablaufprotokollen die zeitliche und räumliche Campusnutzung zu erfassen. Der Band ist nachvollziehbar in sechs Kapitel gegliedert. Zunächst wird die theoretische Einbettung des Verständnisses von „Campus in der Wissensgesellschaft“ beispielsweise im Hinblick auf den „sozial verfassten Raum“ (14) und rekurrierend auf die von Martina Löw vertretene Raumkonstituierung über ein raummarkierendes „Spacing“ und eine Raumimaginationen betreffende „Syntheseleistung“ (16) dargelegt. Deutlich wird die Intention der Autorinnen, mit ihrem Projekt über standardisierte Bewertungsabfragen, d.h. über quantitative Angaben zum Raumnutzungsverhalten von Studierenden hinauszugehen.

Im zweiten Kapitel stehen das Projekt „My Campus“ bestimmende Zahlen, Fakten und Methoden im Mittelpunkt. Der Leser erhält einen guten Einblick in die Lage verschiedener Campusteile des KIT in der Stadt, die mutmaßliche Bedeutung der Fusion von Universität und Forschungszentrum für den studentischen Alltag und die methodische Anlage des zur Rede stehenden Projekts von Teilnehmerakquise über Vorgespräche, Gruppenbildung, Interviews bis hin zur Führung und Auswertung besagter „Logbücher“. Diese Angaben führen zusammen mit den Hinweisen auf die äußerst beschränkte Verallgemeinerbarkeit der Ergebnisse zu einer positiv zu vermerkenden Transparenz.

Kapitel drei bietet eine systematische Ergebnisdarstellung der Studie aus der Perspektive einer individuumsbezogenen Lesart. In einem ersten Schritt werden dazu „Inhousing“, „Hopping“, „Pendeln“ und „Herkommen“ als vier gruppenspezifische Campusnutzungen unterschieden. Aus Rezensentensicht besonders interessant ist, dass Studierende einiger Studiengänge einzelnen Gruppenmustern nahezu prototypisch zugeordnet werden können, etwa Architekturstudierende dem „Inhousing“, während Studierende anderer Studiengänge, wie beispielsweise Studierende der Wirtschafts-, Geistes- und Sozialwissenschaften, aufgrund einer ihnen für den Besuch von Lehrveranstaltungen abverlangten Mobilität nicht eindeutig einem Nutzungsmuster anzugehören scheinen. In einem zweiten Schritt werden unter Berücksichtigung individueller Freiheiten der Gestaltung studienbezogener Aktivitäten fünf Nutzertypen herausgearbeitet: „Homie“, „Separator“, „Integrator“, „College“, „Flaneur“. Insbesondere für diesen Schritt kommen die Vorteile des methodischen Einsatzes elektronischer „Logbücher“ zum Tragen, weil ansonsten unbeobachtbare Raumnutzungspraktiken offenkundig werden. Der dritte Schritt ist den Grundorientierungen der Studiengestaltung gewidmet und unterscheidet zwischen „Convenience: Probier’s mal mit Gemütlichkeit!“ und „Efficializing: Der Tag ist zu kurz: Ich hab keine Zeit zu verlieren!“. Das Zusammenwirken der drei Analysekategorien Gruppen, Typen und Orientierungen wird in einem abschließenden Abschnitt kurz diskutiert. Gothe und Pfadenhauer folgern, dass die „Vielfalt der Kompatibilitäten von Typen mit Gruppen und Orientierungen […] nicht als Anzeichen für eine generell mangelnde Identifizierbarkeit der räumlichen Bedürfnisse von Studierenden gesehen werden“ (88) sollte.

Das vierte Kapitel ist der Ergebnisdarstellung aus der Perspektive einer eher campusbezogenen Lesart vorbehalten. Durch die Einbindung zahlreicher Karten, Fotos und Skizzen werden „relevante Orte und Themen“ sowie die Aspekte Mobilität und Stadtnähe hervorgehoben. Dabei geht es weniger um eine deskriptive Darstellung kartierter Gebäude- und Institutionsanreihungen in der Stadt Karlsruhe als vielmehr um die den elektronischen „Logbüchern“ zu entnehmenden studentischen „Bewertungen nahezu für den gesamten Campus sowie für dessen ‚mentale Erweiterung’“ (90).

Über einen fiktiven Rückblick aus dem Jahr 2018 wird im fünften Kapitel die Abteilung praktischer Hinweise zur Campus(um)gestaltung in recht vager Weise angestrebt. Aufschlussreicher erscheint aus Rezensentensicht die mit dem „Blick nach außen“ angetretene Einbeziehung von Campusentwicklungen anderer Universitätsstandorte wie etwa Zürich, Berlin oder Aachen. Auch diese Darstellungen werden durch viele Abbildungen, Fotos und Pläne weitergehend verdeutlicht.

Der Band endet mit einer Reflexion über Universitäten in der „Wissensgesellschaft“ auf der Grundlage „sozialwissenschaftlicher Literatur und der Presseberichterstattung zu den Themen Wissensgesellschaft sowie zu Lernorten im Allgemeinen und zur Universität im Speziellen“ (141). Unter den Bedingungen gesellschaftlichen Wandels sehen die Autorinnen auch andere universitäre Bildungseinrichtungen vor ähnliche raumbezogene Herausforderungen gestellt wie das KIT. Aus ihrer Sicht gibt es „gestiegene Erlebniserwartungen an Universitäten“ (143), denen sich Bildungseinrichtungen des tertiären Bereichs im Hinblick auf die Zufriedenheit ihrer Klientel künftig bewusster stellen müssen. Sie heben hervor, dass neben dem Aspekt der Universität als Lernort auch (und weiterhin) die Universität als „relevanter (Zusammen-)Lebensraum im Sinne eines Kulturraums“ (145) anzusehen und „der Einfluss der Verantwortlichen für Entwicklung und Bau“ (147) erheblich sei.

Der Band ist trotz der schon von den Autorinnen selbst angeführten begrenzten Verallgemeinerbarkeit aus zumindest zwei Gründen lesenswert: Inhaltlich bietet er eine Fülle von Informationen zur Raumwahrnehmung und –nutzung durch Studierende, die sich zwar vornehmlich, aber nicht ausschließlich auf das KIT beziehen. Bezogen auf die Forschungsmethoden präsentiert der Band einen innovativen Zugang zu Raumnutzungsmustern, deren Wahrnehmung und Weiterentwicklung durch Studierende und Wissenschaftler unterschiedlicher Provenienz wünschenswert ist.
Daniel Blömer (Braunschweig)
Zur Zitierweise der Rezension:
Daniel Blömer: Rezension von: Kerstin, Gothe, / Michaela, Pfadenhauer,: My Campus – Räume für die „Wissensgesellschaft“?, Raumnutzungsmuster von Studierenden. Wiesbaden: VS Verlag 2010. In: EWR 10 (2011), Nr. 4 (Veröffentlicht am 30.08.2011), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978353116996.html