EWR 9 (2010), Nr. 4 (Juli/August)

Bettina HĂŒnersdorf
Der klinische Blick in der Sozialen Arbeit
Systemtheoretische AnnÀherungen an eine Reflexionstheorie des Hilfesystems
Wiesbaden: VS Verlag fĂŒr Sozialwissenschaften 2009
(288 S.; ISBN 978-3-5311-6322-2; 29,90 EUR)
Der klinische Blick in der Sozialen Arbeit Mit der als Habilitationsschrift entstandenen Veröffentlichung liegt ein anspruchsvoller Versuch vor, auf der Grundlage einer kulturtheoretischen Erweiterung der Luhmann’schen Systemtheorie zu einer substantiellen Weiterentwicklung sozialpĂ€dagogischer Theorie beizutragen. Aufgezeigt werden soll insbesondere, dass von einem eigenstĂ€ndigen gesellschaftlichen Funktionssystem „Hilfesystem“ (12) ausgegangen werden kann und dass eine professionelle Hilfeplanung prinzipiell eine Autonomie dieses Teilsystems gegenĂŒber externen Erwartungen ermöglicht. Ein zentrales Mittel hierfĂŒr wird in einer wissenschaftlich fundierten Hilfeplanung gesehen, welche den interaktiven Prozess der Aushandlung der Falldiagnose und des Hilfebedarfs von den organisatorischen und rechtlichen Rahmungen der Hilfeplanung deutlich unterscheidet. Die Hilfeplanung, so wird weiter angenommen, kann und soll so gestaltet werden, dass die Möglichkeiten der Adressatinnen und Adressaten von Hilfen zur Erziehung zur Selbstbestimmung gesteigert werden.

Die disziplinĂ€re und professionspolitische Zielsetzung der Argumentation richtet sich damit zentral darauf, Hilfeplanung als eine professionelle sozialarbeiterische Praxis zu konturieren, die im VerhĂ€ltnis zu rechtlichen, kriminal- und sozialpolitischen Vorgaben eigenstĂ€ndige Deutungen und Interventionsmöglichkeiten erlaubt. Diese Zielsetzung verbindet sich mit einem normativen Impetus, der mit weitreichenden Erwartungen an die sozialarbeiterische Intervention verbunden ist: „Der angemessene Umgang mit dem abweichenden Verhalten, das auf den sozialen Tod zugeht, ist an gutes Leben als die Form der selbstbestimmten Gestaltung des Lebens gebunden, welche durch die Hilfeplanung als ‚Bildungssystem’ im Hilfesystem konstituiert wird“ (246).

DarĂŒber hinausgehend wird in der Monografie angestrebt, „SozialpĂ€dagogik als Reflexionstheorie des Hilfesystems aus systemtheoretischer Perspektive“ (14) zu beschreiben. Insofern oszilliert der Anspruch der vorliegenden Veröffentlichung zwischen zwei Perspektiven, die nicht durchgĂ€ngig deutlich unterschieden werden: Einerseits soll ein Beitrag zur Weiterentwicklung der SozialpĂ€dagogik als Theorie sozialpĂ€dagogischen Handelns geleistet, andererseits die SozialpĂ€dagogik als Reflexionstheorie – also aus einer distanzierten Perspektive – in den Blick genommen werden (14).
Die damit knapp skizzierte Programmatik ist ein plausibler Versuch, die Notwendigkeit und Möglichkeit sozialarbeiterischer Fachlichkeit darin zu sehen, durch eine professionelle Hilfeplanung externe Erwartungen und Vorgaben zu irritieren sowie Handlungs- und Entscheidungsmöglichkeiten der Adressatinnen und Adressaten zu stĂ€rken. Nicht unerhebliche Schwierigkeiten sind jedoch in Hinblick auf die BegrĂŒndung dieser Programmatik zu vermerken. Zwar wird der argumentative Aufbau der Analyse in der Einleitung klar dargelegt (14ff), es ist jedoch nicht einfach nachvollziehbar, was die einzelnen Teile, die sich heterogenen Aspekten zuwenden, zur stringenten BegrĂŒndung der zentralen Thesen beitragen. Zudem verwendet die Verfasserin zwar durchgehend zentrale Begrifflichkeiten der Luhmann’schen Systemtheorie, sie geht jedoch z.T. mit Annahmen einher, die sich nicht problemlos in diesen theoretischen Rahmen einfĂŒgen; insofern ist eine sehr genaue LektĂŒre erforderlich, um die Argumentation nachvollziehen zu können.

Diese Schwierigkeit betrifft nicht zuletzt den fĂŒr den Argumentationsgang zentralen Versuch des vierten Kapitels (91ff), die Luhmann‘sche Systemtheorie kulturtheoretisch zu erweitern und dadurch zu einer Neuinterpretation des Konzepts der lebensweltorientierten SozialpĂ€dagogik zu gelangen. Die Verfasserin greift auf die systemtheoretische Annahme zurĂŒck, dass Kultur Vergleichskategorie ist, die das, was jeweils der Fall ist, zu anderen Möglichkeiten, die in anderen Kontexten vorfindbar sind, ins VerhĂ€ltnis setzt und damit als kontingent beobachtbar macht. Im Sinne eines Analogieschlusses wird das Potential lebensweltorientierter Sozialer Arbeit darin gesehen, lebensgeschichtliche ErzĂ€hlungen der Adressatinnen und Adressaten als Alternativen zum offiziellen Definieren ihrer Problematik gelten zu lassen und sie in ihrer Funktion fĂŒr die lebenspraktische BewĂ€ltigung von Krisen anzuerkennen.

Über diese Analogie hinausgehend wird weiter versucht, professionelle sozialpĂ€dagogische Kommunikation als funktionales Äquivalent fĂŒr familiale Kommunikation im Medium der Liebe zu bestimmen. Dies soll ermöglichen, dass „Abweichungen nicht bestraft, sondern als Ausdruck der Eigenwilligkeit einer Person gedeutet werden, wodurch der Adressat als ‚ganze Person’ wahrgenommen wird“ (101). Vor diesem Hintergrund wird argumentiert, dass SozialpĂ€dagogik sich dadurch „als Kultur etabliert, die sich gegen gesellschaftliche Fremdreferenz immunisiert“ (105), dass sie zunĂ€chst „die Illusion erzeugt, dass sie auf persönlichem Vertrauen (basiert)“ und kontrafaktisch „Lebensgeschichten von ihr als ‚wahre’ Geschichten geglaubt werden“ (195).

Diese Überlegungen sind nicht nur in professionsethischer Hinsicht sowie in Hinblick auf ihre handlungspraktische Angemessenheit durchaus diskussionsbedĂŒrftig. Denn es ist etwa keineswegs auszuschließen (und empirisch nachweisbar), dass Versuche der sozialpĂ€dagogischen Illusionierung auch als solche durchschaut werden („never trust your social worker!“) und dass gerade dies eine eigenstĂ€ndige Kommunikationsdynamik erzeugt. Auch ist es m. E. durchaus problematisch, ein Kennzeichen der milieuorientierten lebensweltorientierten SozialpĂ€dagogik darin zu sehen, dass sie im Rahmen einer „quasi-privaten Konstellation“ so kommunizieren muss, „als ob sie Familie wĂ€re“ und dazu auf „die Semantik der Liebe“ verwiesen ist (100). Denn ein Strukturmerkmal der Liebe, die ReziprozitĂ€t, ist im Fall der SozialpĂ€dagogik nicht gegeben.

DarĂŒber hinaus wird m.E. bei HĂŒnersdorf nicht hinreichend deutlich, warum die Bezugnahme auf die Luhmann’sche Systemtheorie erforderlich ist, um die vorgeschlagene professionelle Autonomisierungsstrategie und die ihr entsprechenden pĂ€dagogischen Interventionskonzepte zu begrĂŒnden und wie sich diese Bezugnahme zu der bekanntlich massiven Kritik Luhmanns an der Verwendung der Kultursemantik als wissenschaftlichem Begriff sowie zu seiner Distanzierung von einer handlungstheoretischen Grundlegung sozialwissenschaftlicher Theorie verhĂ€lt.

Die vorliegende Arbeit schließt an eine Reihe von Versuchen an, die disziplin- und professionspolitische Forderungen nach einer Autonomie der Sozialen Arbeit im VerhĂ€ltnis zu externen Vorgaben theoretisch zu fundieren. Sie weist diesbezĂŒglich, und dies macht ihren zweifellos anregenden und innovativen Charakter aus, der Hilfeplanung eine potentiell zentrale Rolle zu. Aus Sicht des Rezensenten wird die programmatisch angelegte Argumentation aber nicht hinreichend durch eine Untersuchung der finanziellen, rechtlichen und organisatorischen Bedingungen fundiert, mit denen Versuche der Etablierung professioneller Formen der Hilfeplanung konfrontiert sind, die dazu geeignet sind, den reklamierten Autonomieanspruch einzulösen. Insofern tendiert die Arbeit insgesamt dazu, im Rahmen einer programmatisch angelegten Reflexionstheorie zu verbleiben und weicht dadurch EinwĂ€nden, die in der Perspektive einer soziologischen Beobachtungstheorie zu berĂŒcksichtigen wĂ€ren, z.T. aus.
Albert Scherr (Freiburg)
Zur Zitierweise der Rezension:
Albert Scherr: Rezension von: HĂŒnersdorf, Bettina: Der klinische Blick in der Sozialen Arbeit, Systemtheoretische AnnĂ€herungen an eine Reflexionstheorie des Hilfesystems. Wiesbaden: VS Verlag fĂŒr Sozialwissenschaften 2009. In: EWR 9 (2010), Nr. 4 (Veröffentlicht am 10.08.2010), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978353116322.html