EWR 7 (2008), Nr. 6 (November/Dezember)

Fabian Kessl / Christian Reutlinger / Holger Ziegler
Erziehung zur Armut?
Soziale Arbeit und die ,neue Unterschicht'
Wiesbaden: VS Verlag 2007
(146 S.; ISBN 978-3-531-15389-6; 16,90 EUR)
Erziehung zur Armut? Beschreibungen der gesellschaftlichen Ordnung sind so alt wie die historische Erfahrung des Gesellschaftlichen selbst. Mit seiner Entdeckung an der Schwelle zum 19. Jahrhundert wird die Vorstellung von der Natur- und Gottgegebenheit der Welt durch diejenige einer sich verändernden und veränderbaren, mithin: einer kontingenten und instabilen Ordnung des Wirklichen herausgefordert. Dies macht plausibel, warum sich die Gesellschaftsbeschreibungen seither mindestens genauso sehr in einem steten Wandel befinden wie der Gegenstand, dem sie jene Wandlungsfähigkeit attestieren. In der ständigen Verschiebung der gesellschaftlichen Ordnung, wie sie sich in wechselnden Beschreibungen und Beschreibungsformaten reflektiert, offenbart sich nämlich die Verstrickung der Beschreibung in das von ihr Beschriebene. Die periodisch auftretenden Neubeschreibungen der gesellschaftlichen Ordnung sind daher nicht einfach nur als deren mehr oder minder realitätsgerechte Modellierungen zu verstehen. Vielmehr sind sie als Moment der Erzeugung dessen anzusehen, was sie als vermeintliche Faktizität voraussetzen.

Das vorliegende Buch liefert selbst zwar keine Neubeschreibung der gesellschaftlichen Ordnung; es dringt jedoch in das diskursive Milieu von Stellungnahmen ein, die im Horizont einer solchen Neubeschreibung operieren. Zur Debatte steht dabei eine Diagnose, die weniger in den Sozialwissenschaften als vielmehr im Feld der politischen Publizistik für Furore gesorgt hat. Im Jahr 2004 liefert der Sozialhistoriker Paul Nolte mit dem Begriff der „neuen Unterschicht“ das Schlagwort für eine Kontroverse, die vor allem die Aufmerksamkeit der medialen Öffentlichkeit auf sich zieht. In ihren vorläufigen Zenit steigt sie mit der Veröffentlichung der von der Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) beim Meinungsforschungsinstitut Infratest in Auftrag gegebenen Studie „Gesellschaft im Reformprozess“ und im Herbst 2006 mit der Diskussion um die Äußerungen des inzwischen demissionierten SPD-Vorsitzenden Kurt Beck, der noch vor seinem unrühmlichen Auftritt auf dem Mainzer Weihnachtsmarkt den Begriff „Unterschicht“ mit demjenigen des „abgehängten Prekariats“ der FES-Studie in Zusammenhang bringt.

Auch wenn die hierzulande geführte Debatte um die „neue Unterschicht“ schon aufgrund des beträchtlichen zeitlichen Abstands nicht unmittelbar als Import der US-amerikanischen „underclass debate“ gelten kann, teilt sie mit ihr doch wesentliche Gemeinsamkeiten. Sie lässt nicht nur jenen, von Loïc Wacquant als „gefährlich“ bezeichneten „Mythos“ vom Aufstiegsunwillen bestimmter Bevölkerungskreise wieder aufleben. Sie provoziert vor allem auch mit einer stereotypen Kulturalisierung sozialer Differenzen. Soziale Marginalisierung wird nicht als Effekt der ungleichen Verteilung materiell-ökonomischer Ressourcen behandelt, sondern mit der Lebensführung der Betroffenen selbst erklärt. Im Hintergrund steht die Beobachtung, dass sich materielle Lage und Lebensstil der Unterschicht im Zuge sozialstaatlicher Überversorgung längst voneinander entkoppelt haben. Dies gilt zugleich als das „Neue“ am Phänomen der „neuen Unterschicht“. Deren „kulturelle Verwahrlosung“ wird als Folge einer einseitig auf monetäre Transferleistungen ausgerichteten Sozialpolitik interpretiert, die mit der Freisetzung von den alltäglichen Zwängen des Besorgens paradoxerweise jene Desintegration aus dem gesellschaftlichen Zusammenhang vorangetrieben hat, gegen die sie ursprünglich angetreten war. Bedient wird damit nicht zuletzt die alte Unterscheidung von anständiger und unsittlicher Armut. Aus dieser Sicht auf das vermeintliche Problem der „neuen Unterschicht“ ergibt sich denn auch die Wahl der Mittel für seine Lösung nahezu von selbst: Ist die Lebensführung nicht Folge, sondern Ursache des Problems und hat der fürsorgende Staat mehr zu seiner Verschärfung als zu seiner Beseitigung beigetragen, so muss an die Stelle einer umverteilungsorientierten eine pädagogische orientierte Sozialpolitik treten. Deren Ziel kann es nur sein, die Betroffenen zu selbstverantwortlicher Existenzsicherung und zur sozialmoralischen Anpassung an einen Idealtypus bürgerlicher Mehrheitskultur zu befähigen. Damit ist indes kein soziales Aufstiegsversprechen verbunden. Im Mittelpunkt steht vielmehr die Stabilisierung und Befriedung einer vermeintlich zwangsläufig ungleichen gesellschaftlichen Ordnung, die durch um sich greifende Desintegrationstendenzen am unteren Rand ins Wanken zu geraten droht.

Der von Fabian Kessl, Christian Reutlinger und Holger Ziegler herausgegebene Sammelband präsentiert sich zunächst einmal als ein gleichermaßen notwendiger wie spezifischer Beitrag zu dieser Debatte. Als notwendig erscheint er insofern, als die Soziale Arbeit bisher vor allem in der passiven Rolle des heimlichen Komplizen bei der Umsetzung des sozialpolitisch zu initiierenden Rekulturalisierungsprogramms angesprochen wird, ihre Vertreter/-innen an der Diskussion aber kaum nennenswert beteiligt sind. Das Buch bedient damit zwar auch ein professionspolitisches Interesse, das Ansinnen ist insgesamt jedoch ambitionierter. Der spezifische Beitrag des Buches besteht nämlich darin, dass vor allem jene Melange von gesellschaftsanalytischer, gesellschaftspolitischer und pädagogischer Argumentation zum Thema gemacht wird, welche die Diskussion gegenwärtig auszeichnet und ihr zu einem breiten öffentlichen Interesse verholfen hat. Sie wird zum Anlass genommen, um sich einerseits nach der empirischen Haltbarkeit der Diagnose und andererseits nach der Angemessenheit des daraus abgeleiteten „Therapievorschlags“ zu erkundigen. Anders als man vielleicht erwarten würde, geht es also weder schlicht darum, die als „Unterschichten“ deklassierten Bevölkerungsmitglieder zu rehabilitieren, noch geht es nur darum, der Klage über den gegenwärtigen Zustand der „unteren Abteilungen“ des sozialen Ordnungsgefüges ein weiteres Kapitel hinzuzufügen. Entsprechend ist der Band in seiner Anlage durchaus kontrovers. Er nimmt dabei gegenüber dem öffentlich-medialen Diskurs eine gewisse Distanz ein. Insofern aber stellt er zugleich mehr dar als lediglich eine weitere konforme oder konträre Positionierung zum Mainstream der Debatte. Seine Autor/-innen treten vielmehr ebenso als deren Beobachter in Erscheinung.

Unter der vielschichtigen Konzeption des Bandes versammeln sich insgesamt acht mehr oder minder für sich stehende Beiträge. In einer konzisen Einleitung skizzieren die Herausgeber zunächst die wichtigsten Stationen der bundesdeutschen Diskussion, arbeiten deren argumentative Stoßrichtung mit Blick auf ihre Relevanz für die Soziale Arbeit heraus und problematisieren das vermeintlich „Neue“ an der „neuen Unterschicht“. Zur Diskussion gestellt wird die für einige, aber nicht alle Beiträge des Bandes leitende These, dass die Unterschichtendebatte symptomatisch sei für eine „Neujustierung des Sozialen“ (10), wie sie sich in den Bemühungen um den Umbau des Wohlfahrtsstaates insgesamt abzeichne.

Zu einer ersten umfangreicheren Auseinandersetzung mit der Unterschichtendebatte kommt es in dem darauffolgenden von Karl August Chassé verfassten Beitrag. Chassé wendet sich im Kern kritisch gegen eine gegenwärtig weit verbreitete Moralisierung sozialer Ungleichheit. Allerdings argumentiert er auf unterschiedlichen Ebenen, so dass der rote Faden des Textes für den Leser mitunter schwer auszumachen ist. Er stützt seine Kritik, indem er etwa am Beispiel Ostdeutschlands auf den engen Zusammenhang von sozialer Ungleichheit auf der einen und den eingeschränkten Möglichkeiten zur Bewältigung prekärer bzw. marginaler Lebenslagen auf der anderen Seite aufmerksam macht. Dabei erinnert er an den wichtigen, in der öffentlichen Diskussion nicht immer sorgsam erwogenen Unterschied zwischen den als „Prekariat“ und als „Unterschicht“ bezeichneten Gruppen. Vor diesem Hintergrund entschlüsselt er die Unterschichtendebatte als einen Diskurs, über den sich eine zunehmend verunsicherte Mittelschicht gegenüber dem „sozialen Rand“ abgrenzt und deutet dies als Beleg für eine an Tiefe zunehmende Spaltung zwischen mittleren und unteren gesellschaftlichen Milieus.

Im Zentrum des englischsprachigen Beitrags von Mark Stern steht weniger die bundesdeutsche als die US-amerikanische Debatte. Insofern nimmt er eine gewisse Sonderstellung ein und hätte damit wohl einen eigenen Teil verdient, den jedoch die eindimensionale Gliederung des Bandes nicht hergibt. Stern vermittelt einen Überblick über die amerikanische Armutspolitik von den 1930er-Jahren bis zu den 1990er-Jahren und rekapituliert, wie sich im Zuge der Einschränkung wohlfahrtsstaatlicher Unterstützungsleistungen auch die öffentliche Wahrnehmung sozial benachteiligter Gruppen geändert hat: Aus der sogenannten „underclass“ wurden die „working poor“. Nicht ganz nebenbei kann er damit zeigen, inwiefern wohlfahrtspolitische Programme selbst an moralischer Diskriminierung und an der Manifestation sozialer Deklassierung beteiligt sind. Wer sich von diesem Text allerdings eine Rekonstruktion des Zusammenhangs von bundesdeutscher und amerikanischer Debatte erhofft, wird enttäuscht. Bis auf die Erwähnung einiger Analogien und instruktiver Empfehlungen bleibt der Beitrag eng auf den amerikanischen Kontext bezogen.

Das Autorenteam um Catrin Heite, Alex Klein, Sandra Landhäußer und Holger Ziegler wendet mit seinem Beitrag den Blick nicht nur zurück zur deutschsprachigen Debatte, er ist vermutlich auch derjenige, der sich am kohärentesten zu den einleitend aufgeworfenen Perspektiven verhält. Seine These ist zum einen, dass die „neue Unterschicht“ keine analytische Kategorie darstelle, mit der sich in angemessener Weise die Genese sozialer Ungleichheit beschreiben lasse. Zum anderen wird bestritten, dass sich aus der individualisierenden und responsibilisierenden Sicht auf soziale Ungleichheit anschlussfähige und angemessene Optionen für den sozialpädagogischen Umgang mit dem Problem eröffnen. Beides versuchen die Autor/-innen mit hohem argumentativem Aufwand zu belegen. Sie gehen von dem Verdacht aus, dass es sich bei der Unterschichtendiskussion um einen Diffamierungsdiskurs handelt, in dessen Windschatten die „neo-soziale Umgestaltung öffentlicher Wohlfahrtsproduktion“ (58) legitimiert werden soll. Damit schließen sie an die eingangs vorgestellte Überlegung der Herausgeber an und führen diese weiter aus. Die Tatsache, dass der Unterschichtenthese von den Autor/-innen jeder analytische Wert und jede empirische Belastbarkeit abgesprochen wird, während sie zugleich in Gestalt des „capability-Ansatzes“ einen alternativen „Therapievorschlag“ ins Gespräch bringen, macht den Beitrag in sich widersprüchlich. Deutlich wird daran nicht zuletzt, dass sie einer kulturalisierenden Sicht auf soziale Ungleichheiten durchaus etwas abgewinnen können, auch wenn sie diese verknüpft sehen wollen mit den ökonomischen Bedingungen, unter denen sich spezifische kulturelle Praktiken einstellen.

Werden in den bereits skizzierten Beiträgen von Chassé sowie Heite u.a. im Kern noch ganz ähnliche Positionen vertreten, so sind mit Micha Brumlik und Michael Winkler zwei arrivierte Autoren an dem Band beteiligt, deren Überlegungen im Kontrast zu den übrigen Einschätzungen stehen. Von beiden wird die kultursoziologische Diagnose der Unterschichtendebatte zunächst einmal ganz unvoreingenommen als Herausforderung für die Soziale Arbeit begriffen.

Brumlik widmet sich ausgehend von theoretischen Reflexionen über das „Wesen des Glücks“ der Frage, unter welchen Voraussetzungen Glückserfahrungen möglich sind. Bezogen auf die Unterschichtendebatte wird in diesem Beitrag damit vor allem die höchst subjektive (Kehr-)Seite kultureller Deprivation zum Thema. Brumlik gelangt zu dem Schluss, dass die Erziehung und Bildung im Geiste einer „bürgerlichen Leitkultur“, wie sie im Kontext der Unterschichtendebatte programmatisch eingefordert wird, der Ermöglichung individueller Glückserfahrungen alles andere als entgegensteht. Dies gilt dem Autor zufolge zumindest dann, wenn man davon ausgeht, dass „wahre“ Glückserfahrungen nicht aus augenblicklichem Genuss, sondern nur aus dem erfüllten Rückblick auf die eigene Lebensgeschichte resultieren können.

Anders als Brumlik knüpft Winkler nicht nur an Äußerungen des Sozialhistorikers Paul Nolte an, sondern beleuchtet den gesamten Diskurs in seiner aktuellen Dynamik und zeichnet die Verflechtung der einzelnen Aussageereignisse nach. Seine gesellschaftspolitische und intellektuelle Einordnung der Debatte kann als Versuch verstanden werden, sie von ihren Ressentiments und ideologischen Schlacken zu reinigen, um den für ihn relevanten Kern der Diagnose freizulegen. Es lasse sich, so Winkler, nicht bestreiten, dass man es mit einer wachsenden Zahl kulturell wie sozial Ausgeschlossener zu tun habe. Vor diesem Hintergrund sei es im Grunde „unehrlich“ (112), wenn die Soziale Arbeit die Diagnose der Unterschichtendebatte ignoriere: einerseits, weil sie mit den beschriebenen Verhältnissen aus ihrer professionellen Praxis vertraut sei und andererseits, weil sie mit ihrem eigenen zeitgenössischen Bildungsdiskurs der Kulturalisierung sozialer Ungleichheit selbst Vorschub geleistet habe. Wie schon Chassé macht auch Winkler darauf aufmerksam, dass die kulturelle Entfremdung nicht allein kennzeichnend sei für die Lebenssituation der Unterschichten, sondern bis in die Mitte der Gesellschaft hineinrage. Diese Entfremdung interpretiert er als Folge einer um sich greifenden Enteignung kultureller Ressourcen, die sich im Zuge einer Freisetzung aus lebensweltlichen Zusammenhängen in der späten Moderne eingestellt habe.

Der im Vergleich zu den anderen Beiträgen wesentlich kürzere Text von Fabian Kessl und Christian Reutlinger präsentiert eine Art Positionspapier, in dem wichtige und teilweise bereits andernorts im Band formulierte Einwände mit Blick auf die sozialräumlichen Territorialisierungstendenzen der Unterschichtendiskussion zusammengefasst werden. Der Text bietet interessante Anregungen zu der Frage, wie sich das diskursive Muster „neue Unterschicht“ letztlich physisch-materiell manifestiert.

Im abschließenden, als Postskriptum „nachgeschobenen“ Beitrag sucht wiederum Fabian Kessl nach Parallelen zwischen den politischen Stellungnahmen und Reaktionen zur sozialen Frage des 19. Jahrhunderts und der gegenwärtigen Thematisierung von Armut und sozialer Ungleichheit. Mit der kleinen sozialhistorischen Skizze erinnert er daran, dass aus einer ähnlichen gesellschaftlichen Konstellation wie heute das deutsche „wohlfahrtsstaatliche Arrangement“ hervorgegangen sei. Man kann den Beitrag durchaus als Aufforderung lesen, dem vermeintlich „neuen“ Phänomen „Unterschicht“ mit altbewährten Mustern sozialpolitischer Regulierung zu begegnen. Kessl setzt damit einen eher nostalgischen Schlusspunkt unter eine insgesamt intensive und differenzierte Auseinandersetzung.

Die Beschäftigung mit einer Thematik von derart hoher Brisanz und Aktualität führt fast unweigerlich in die Versuchung, Meinungsmache zu betreiben und sich einem aufmerksamkeitserheischenden und nur noch begrenzt seriösen Publizismus hinzugeben. Den Autor/-innen des Bandes ist es gelungen, dieser Versuchung zu widerstehen. Obwohl sie sehr deutlich Position beziehen, ist das Buch durchweg informativ. Trotz einer überwiegend kritischen Haltung zum öffentlichen Diskurs erweisen sich die Beiträge im Vergleich als durchaus kontrovers. Von einem publizistischen Schnellschuss kann also nicht die Rede sein. Letztlich macht dies das Buch auch über seinen aktuellen Bezug hinaus lehrreich und lesenswert.

Hat es aber eine Diskussion wie diejenige um die „neue Unterschicht“ überhaupt verdient, Gegenstand einer wissenschaftlichen Auseinandersetzung zu sein, wo sie sich doch selbst wenig um die wissenschaftlichen Gepflogenheiten kümmert? Die Autor/-innen stellen sich einer solchen Frage nicht. Dies ist aufschlussreich, denn dahinter verbirgt sich der „blinde Fleck“, den die Stellungnahmen der Sozialen Arbeit mit dem öffentlichen Diskurs um die „neue Unterschicht“ gemeinsam haben. Entgegen aller Kritik ist die Positionierung der Sozialen Arbeit zu diesem Diskurs nämlich insofern affirmativ, als sie mit ihm ein übergreifendes Bezugsproblem teilt. Anders als man vermuten könnte, besteht es nicht in der Vielzahl sozialer Probleme, welche die aktuelle öffentliche Diskussion kennt und mit Erscheinungen wie Arbeitslosigkeit, Kriminalität, Bildungsarmut usw. assoziiert. Das gemeinsame Bezugsproblem ist vielmehr die Gesellschaft selbst, und zwar als eine in sich geschlossenen Entität, die nach der Art eines Behälters modelliert wird. Bereits die Metaphorik in den einzelnen Beiträgen spricht hier Bände: Die Rede ist von Ausschluss, Ausgrenzung und Marginalisierung, von Parallelgesellschaften, Abstieg, Deklassierung, Exklusion – alles Begriffe, die an die Vorstellung eines irgendwie geordneten und territorial abgrenzbaren Großgebildes appellieren, aus dem man herausfallen kann, aber eigentlich nicht herausfallen sollte. Die wachsende Sorge, mit der die Diagnosen der Unterschichtendebatte rezipiert werden, richtet sich also weniger, als man glauben machen will, auf die soziale Lage der Betroffenen. Sie richtet sich auch und vielleicht vor allem auf den drohenden Zerfall einer vermeintlichen Normalform von Gesellschaft und den Geltungsverlust der gängigen Kategorien zu ihrer Beschreibung. Die trotz aller Distinktionsbemühungen stillschweigende Übereinkunft der sozialpädagogischen und der politisch-publizistischen Stellungnahmen besteht darin, dass sie Gesellschaft, einem präskriptiven Idealtypus gleich, als eine stabile, berechenbare und vollintegrierte Ordnung des Ganzen entwerfen. Eine Ordnung des Ganzen, die in ihrer Perspektive weder als das auftritt, was sie einmal war, noch als das, was sie sein könnte. Vor diesem Hintergrund treten die Positionierungen in diesem Band als gleichermaßen sozialwissenschaftliche wie sozialpolitische hervor. Die Soziale Arbeit erscheint damit jedoch nicht länger als eine distanzierte Beobachterin der zeitgenössischen Beschreibungen gesellschaftlicher Wirklichkeit. Deutlich wird vielmehr, dass sie selbst in jene Diskurse verstrickt ist, in denen um die Deutungshoheit konkurrierender Gesellschaftsbeschreibungen gerungen wird. Diskurse also, die sie gerade zu demaskieren wähnt.
Sascha Neumann (Ludwigsburg)
Zur Zitierweise der Rezension:
Sascha Neumann: Rezension von: Kessl, Fabian / Reutlinger, Christian / Ziegler, Holger: Erziehung zur Armut?, Soziale Arbeit und die ,neue Unterschicht` . Wiesbaden: VS Verlag 2007. In: EWR 7 (2008), Nr. 6 (Veröffentlicht am 05.12.2008), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978353115389.html