EWR 6 (2007), Nr. 2 (März/April 2007)

Bernd Dollinger
Die Pädagogik der Sozialen Frage
(Sozial-)Pädagogische Theorie vom Beginn des 19. Jahrhunderts bis zum Ende der
Weimarer Republik
Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2006
(481 S.; ISBN 978-3-531-15097-0; 39,90 EUR)
Die Pädagogik der Sozialen Frage Die Geschichte der Sozialpädagogik besteht nicht, oder nicht nur, aus der historischen Rekonstruktion und Beschreibung von erst später als solche bezeichneten sog. sozial-pädagogischen Einrichtungen. Diese Einsicht neuerer historischer Forschung wird von Bernd Dollingers Studie nachdrücklich bestätigt. In ihr geht es um pädagogische Denkformen, die in Auseinandersetzung mit der Individualisierungskrise der Moderne entstanden und während des Untersuchungszeitraums mehrere Transformationen durchliefen. Zu sozialpädagogischen Denkformen wurden sie, so Dollinger, in der Auseinandersetzung mit der Frage der intergenerationalen Rückbindung des freige-setzten und sich freisetzenden Individuums an Sozialität (Gesellschaft, Assoziation, Gemeinschaft …). Insofern ist Sozialpädagogik eine spezifische Denkform der Moderne. (Einrichtungen und Maßnahmen der Hilfe für Kinder, Jugendliche und Familien, die heute gern mit „Sozialpädagogik“ in Verbindung gebracht werden, reichen hingegen weit in das Mittelalter zurück).

Die Auswahl des Untersuchungszeitraums vom Beginn des 19. Jahrhunderts bis zum Ende der Weimarer Republik folgt dem Sachverhalt, dass in diesen etwa 130 Jahren der Begriff Sozialpädagogik und ab 1844 auch der Ausdruck „Sozialpädagogik“ eine bildungstheoretische Grundbedeutung hatte, die, sei es komplementär oder konträr, dem Begriff Individualpädagogik gegenüber stand.

Die Modernisierungskrise, schon von den Zeitgenossen auf den facettenreichen Begriff der „socialen Frage“ gebracht, war mit ihren Folgen und Konsequenzen für das Generationenverhältnis nicht einfach objektiv gegeben; sie bedurfte vielmehr, um eine sozialpädagogische Reformulierung zu ermöglichen oder um überhaupt erst sozialpädagogische Denkfiguren zu erzeugen, der vorgängigen Deutung und Übersetzung in reflektierte Wahrnehmung. Wie das aus heutiger Sicht analysierbar sein könnte, erläutert der Verfasser nach dem Einleitungsteil im zweiten Kapitel („Methodologie: Die Analyse sozialer Päd-agogik“, 23-51). Der spezifische Zugang Dollingers besteht somit nicht darin, nach den praktischen und theoretischen Antworten zu fragen, welche die sozialpädagogischen Akteure für die Lösung von Einzelproblemen bereithielten; ihn interessiert vielmehr, wie gesellschaftliche Problemkonstellationen in den Wahrnehmungshorizont pädagogischer Zeitgenossen eintraten.

Das dritte Kapitel („Gesellschaftliche Modernisierung im pädagogischen Diskurs“, 53-122) gilt mit Rousseau, Herbart, Humboldt, Pestalozzi und Schleiermacher dem politischen und zeitlichen ‚Reformfenster’, in dem die Zukunftsoffenheit des selbsttätigen Subjekts dominierte. Warum hier die nationalpädagogische Integrationsofferte keine oder nur unzureichende Berücksichtigung findet, wird nicht recht ersichtlich.

Im Mittelpunkt des vierten Kapitels („‚Sozialpädagogik’ im Kontext politischer Restauration“, 123-185) stehen die Namensgeber der Sozialpädagogik, Karl Mager und Adolph Diesterweg. Deren Verständnis der sozialen Frage und Entwürfe einer die individuelle Seite der Pädagogik komplementierenden sozialen Pädagogik, die in der neueren Forschung ausführlich analysiert und dargestellt wurden, werden hier von Dollinger noch einmal gewürdigt.

Das fünfte Kapitel („Pädagogische Sozialkonstruktionen“, 187-293) widmet sich dem Diskurs um Individualpädagogik und Sozialpädagogik, der mit dem Niedergang des Herbartianismus Ende des 19. Jahrhunderts einsetzte. Dollinger bringt die unterschiedlichen Positionen, die hier gegeneinander standen (insbesondere Spätherbartianer und Natorp), auf die zusammenfassende Formel „Krisenkonstruktion als Wissenslegitimation“ (275).

Im sechsten Kapitel („Synthesen und Spezifizierungen“, 295-402) werden die Entwicklungen in der Zeit der Weimarer Republik analysiert. Dabei geht es nicht nur um die von der geisteswissenschaftlichen Pädagogik in Szene gesetzte Umwidmung des Ausdrucks „Sozialpädagogik“ als neue Bezeichnung für die Kinder-, Jugend- und Familienhilfe, sondern auch um die „Pädagogische Soziologie“ (367ff.) und die wesentlich von Christian Jasper Klumker konzipierte neue Fürsorgewissenschaft (389ff.). Im siebten, abschließenden Kapitel („Die soziale Dimension der Pädagogik“, 403-418) werden die Erträge der vorhergehenden Kapitel zusammengefasst und auf die Frage nach der „Möglichkeit sozialer Pädagogik“ (414) bezogen.

Die zahlreichen „Exkurse“ und „Spezifizierungen“, zu denen sich Dollinger veranlasst sieht, mögen seiner Arbeit Tiefe verleihen, gehen aber zu Lasten der Geradlinigkeit und Eleganz der Darstellung. Die Stärke der Arbeit besteht nicht in der Erschließung neuen Materials – die Quellenliteratur ist der neueren Forschung zur Geschichte der Sozialpädagogik zum größten Teil bekannt. Für die Sozialpädagogik interessant ist hingegen der Versuch, die moderne Pädagogik und ihre Bildungstheorie aus wissenssoziologischer Perspektive als Reaktion auf die Individualisierungs- und Integrationskrisen zu begreifen.

Aus disziplinpolitischer Sicht reiht sich Dollinger in den Kreis derer ein, welche die Geschichte der Sozialpädagogik aus der Verbindung mit der Geschichte der Sozialen Arbeit lösen, die Sozialpädagogik der Kinder-, Jugend- und Familienhilfe als „Sonderpädagogik“ (313) begreifen und den Anschluss an die allgemeinpädagogische Theoriegeschichte suchen.
Jürgen Reyer (Erfurt)
Zur Zitierweise der Rezension:
Jürgen Reyer: Rezension von: Dollinger, Bernd: Die Pädagogik der Sozialen Frage, (Sozial-)Pädagogische Theorie vom Beginn des 19. Jahrhunderts bis zum Ende der Weimarer Republik. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften 2006. In: EWR 6 (2007), Nr. 2 (Veröffentlicht am 28.03.2007), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978353115097.html