EWR 7 (2008), Nr. 1 (Januar/Februar)

Detlef Gaus / Reinhard Uhle (Hrsg.)
Wie verstehen PĂ€dagogen?
Begriff und Methode des Verstehens in der Erziehungswissenschaft
Wiesbaden: VS Verlag 2006
(266 S.; ISBN 978-3-531-14885-4; 26,90 EUR)
Wie verstehen PĂ€dagogen? Wenn heute ein Sammelband mit dem Titel „Wie verstehen PĂ€dagogen? Begriff und Methode des Verstehens in der Erziehungswissenschaft“ erscheint, dann muss dieses Buch damit rechnen, Leser anzusprechen, deren Interesse den qualitativen Forschungsmethoden und den Ergebnissen einer verstehenden erziehungswissenschaftlichen Forschung gilt. Davon ist aber auf den 266 Seiten nicht die Rede. Den Leser erwarten vielmehr BeitrĂ€ge, die ĂŒberwiegend theoriegeschichtliche und theoriesystematisierende Anliegen verfolgen, wobei es immer wieder um die (Selbst-)Verortung im Kontext einer hermeneutisch-geisteswissenschaftlichen Tradition geht.

Dieser Ausatzsammelband gliedert sich in drei Rubriken: „Zum einen werden wissenschaftstheoretisch-methodologische Probleme der Verwendung des Verstehens in der Disziplin PĂ€dagogik/Erziehungswissenschaft diskutiert, zum anderen werden Überlegungen zu einem didaktischen VerstĂ€ndnis des Verstehens angestellt und drittens und schließlich werden Anwendungen des Verstehens in praktischen Erziehungs- und Bildungskontexten vorgestellt“ (11), so Gaus und Uhle in einer kurzen Einleitung (8 Seiten).

Zu den einzelnen BeitrÀgen:

Den Auftakt zur ersten Rubrik (disziplinĂ€re Kontexte) macht Shinji Nobira mit einem Beitrag „Zum kritischen Potenzial der PĂ€dagogik Wilhelm Diltheys“ (22 Seiten). Die in sich informativen, aber nicht originellen AusfĂŒhrungen von Nobira beschĂ€ftigen sich mit Diltheys Einbettung der PĂ€dagogik in seine Wissenschaftssystematik und mit den geisteswissenschaftlichen Implikationen, die in die Dilthey’sche PĂ€dagogik einfließen. Das Grundanliegen besteht dabei darin, die „kritischen“ Potenziale des Dilthey’schen Historismus hervorzuheben. Man fĂŒhlt sich bei diesem Anliegen in die ideologischen PositionskĂ€mpfe der 1960er und 1970er Jahre zurĂŒckversetzt. Aber selbst wenn man der GegenĂŒberstellung von „Geisteswissenschaftlicher PĂ€dagogik“ und „Kritischer Erziehungswissenschaft“ heute noch Interesse entgegen bringen will, so bleibt dennoch zu kritisieren, dass die Autorin selbst nichts zur KlĂ€rung des Kritikbegriffs beitrĂ€gt. Der Beitrag endet mit einem emphatischen Bekenntnis zur „PĂ€dagogik als Geisteswissenschaft“, die „Theorie des Werdens und der Befreiung des Menschen sein will“ (37).

„Neuere AnsĂ€tze des ‚Verstehens‘ in der ‚Historischen Bildungsforschung‘“ (78 Seiten); so ist der Beitrag von Detlef Gaus ĂŒberschrieben. Bevor Gaus auf „Konzepte des Verstehens“ zu sprechen kommt, stellt er umfangreiche und ausgesprochen kenntnisreiche wissenschaftshistorische und vor allem wissenschaftssystematische Betrachtungen an. Das Grundthema ist die Entstehung, Konsolidierung und Selbstisolierung einer „Historisch Systematischen PĂ€dagogik“ und schließlich ihre Ablösung durch eine „Historische Bildungsforschung“. Dazu gesellt sich der Versuch, die „Historische Bildungsforschung“ neueren Datums wissenschaftssystematisch einzukreisen und zu bestimmen. Grob gesprochen verlĂ€sst die „Historische Bildungsforschung“ die Provinz der geisteswissenschaftlichen Tradition, die sich pĂ€dagogisch-praktischen, ethischen und normativen AnsprĂŒchen verpflichtete. In Orientierung an Nachbardisziplinen (der akademischen Geschichtswissenschaft und der Soziologie) „postuliert sie eine ‚normale‘ Wissenschaftlichkeit ihrer Teildisziplin“ (71). Was heißt das nun fĂŒr das Verstehen als Methode der historischen Bildungsforschung? Hier werden drei „methodische VorschlĂ€ge“ diskutiert: Der erste (Böhme/Tenorth) und der zweite (Rittelmeyer) werden rasch ad acta gelegt, um schließlich im dritten Vorschlag „Kontextanalyse als Methode Historischer Bildungsforschung nach Alfred Langewand“ den Königsweg zu sehen. Warum? Auch und vor allem weil dieser Ansatz das praktische Engagement der typisch pĂ€dagogischen „Applikationshermeneutik“ (Gadamer) zu ĂŒberwinden vermag. Hier schließt sich dann der Kreis zu der vorher wissenschaftssystematisch gewĂŒrdigten „Historischen Bildungsforschung“.

Dietrich Hoffmann beschließt die erste Rubrik mit seinem Beitrag, der die auf Dilthey zurĂŒckgehende Unterscheidung zwischen ErklĂ€ren und Verstehen aufgreift („Über die Schwierigkeit ‚erklĂ€render‘ und ‚verstehender‘ Theorien bei der AufklĂ€rung komplexer Sachverhalte – am Beispiel der Willensfreiheit“, 16 Seiten). Er plĂ€diert fĂŒr die Aufrechterhaltung einer begrifflich scharfen Trennung zwischen erklĂ€renden und verstehenden Theorien. In Auseinandersetzung mit dem Neurobiologen Gerhard Roth (Hoffmann lĂ€sst sich dabei die rhetorische Schleife einer GegenĂŒberstellung zu Heinrich Roth nicht entgehen) erlĂ€utert er dies am Problem der Willensfreiheit. Letztere dient gleichsam als Berufungsgrund fĂŒr die Reichweitenbegrenzung gesetzeswissenschaftlicher (naturwissenschaftlicher) und die Notwendigkeit einer verstehenden, besondere oder subjektive PhĂ€nomene wĂŒrdigenden Theoriebildung. Die gelĂ€ufige und kaum zu kritisierende Position, beide Erkenntnisweisen hĂ€tten ihr je eigenes Recht und keine sei durch die andere zu ersetzen, erweitert Hoffmann schließlich um die knapp und lakonisch formulierte Forderung einer „dialektischen Synthese“. Das ĂŒbersteigt heutige Vorstellungen des Methodenmix und der Methodentriangulation bei weitem. DarĂŒber hĂ€tte man gerne mehr erfahren.

Die zweite Rubrik (Zum VerstĂ€ndnis des Verstehens in didaktischen Kontexten) beginnt mit „Zeig mir, was Du meinst! Anmerkungen zur Didaktik des Verstehens“ (12 Seiten), eine virtuose FingerĂŒbung von Klaus Prange zu einem seiner Zentralthemen, dem Zeigen als der „GrundgebĂ€rde des Erziehens“ (145). Erziehen und Unterrichten sind auf „Darstellung der Welt“ (Herbart) angewiesen. Dass wir es dabei mit einer „soft technology“ zu tun haben (141), entlaste didaktisches Handeln keineswegs von seinem methodischen, gar technologischen Anspruch. Das Verstehensproblem wird dabei von Prange auf das Wiederholen von Operationen, die das Zeigen darstellen wolle, reduziert. Darin erblickt Prange eine didaktisch-technologische Wende des Verstehensproblems, die nicht nur die „unglĂŒckliche und unproduktive Opposition von ErklĂ€ren und Verstehen aufzulösen“ geeignet ist, sondern auch „aus der Sackgasse der Innerlichkeit“ herausfĂŒhrt (152) und dazu noch auf den „Zauberstab eines höheren, universalen Verstehens“ verzichten kann.

Ähnlich wie zuvor schon bei Gaus stellt der Beitrag von Elmar Drieschner „Theoriekonzepte und didaktische Konzeptualisierungen des Verstehens im modernen Konstruktivismus“ (54 Seiten) ein umfang- und kenntnisreiches Theoriereferat dar. Die AusfĂŒhrungen zur Architektonik neurobiologischer, systemtheoretischer und konstruktivistischer Verstehenskonzeptionen bereiten (allerdings in unnötiger AusfĂŒhrlichkeit und disproportional) das Zentralthema des Beitrags vor: das einer konstruktivistischen Didaktik. Ist es plausibel, aus der Annahme der Selbstorganisation kognitiver Systeme (Autopoiesis) die „methodisch-inhaltliche Selbstorganisation schulischen Lernens“ zu deduzieren? (vgl. 192) Überzeugend kann Drieschner (vor allem in Kritik einschlĂ€giger Schriften von Reinhard Voß und ĂŒbrigens auch in Übereinstimmung mit Pranges vorangegangenem Beitrag) zeigen, dass diese Deduktion kaum zu rechtfertigen ist und eher einer Renaissance reformpĂ€dagogischer Motive, gleichsam einer didaktischen Instrumentalisierung konstruktivistischer Erkenntnistheorie, geschuldet ist. Der Gedanke der SelbstreferenzialitĂ€t des Lernens ist willkommener Anlass fĂŒr die BegrĂŒndung „eigenkonstruktiver Lernformen“, die eher gesellschaftlichen Entwicklungstendenzen (Stichwort Differenzierung und Individualisierung) als stringenten theoretischen Ableitungen zu verdanken sind (191ff.). Als beispielhaft fĂŒr die Vermittlung des didaktischen Gegensatzes von „Konstruktivismus“ und „Instruktionismus“ geht Drieschner zum Schluss noch einmal ausfĂŒhrlich auf den „Spracherfahrungsansatz“ (BrĂŒgelmann) und seinen „aufgeweichten Konstruktivismus“ (197) ein.

Die Rubrik „Zu Anwendungen des Verstehens in professionellen Kontexten“ beginnt mit einem Beitrag von Reinhard Uhle: „Konzepte praktischen Verstehens in der PĂ€dagogik“ (14 Seiten). Aus seinem breiten Fundus zu diesem Themenkomplex skizziert Uhle die Unterscheidung von drei Konzepten des in die pĂ€dagogische Praxis involvierten Verstehens: PĂ€dagogisches Verstehen (Verstehen der Kinder und VerstĂ€ndnis fĂŒr Kinder), Verstehen als pĂ€dagogisches Ziel (die SchĂŒler in die Lage versetzen, „sich auf etwas zu verstehen“) und schließlich pĂ€dagogisch angeleitete VerstĂ€ndigung (wechselseitiges Verstehen). Nicht ganz ĂŒberraschend, aber doch von den vorausgegangenen AusfĂŒhrungen auch nicht erzwungen endet der Beitrag in einem Bekenntnis zu einem emphatischen, pĂ€dagogischen Verstehensbegriff und schließt mit der Dilthey-Formel vom „Wiederfinden des Ich im Du“ (226); jener Formel, die Prange 80 Seiten weiter unten als Zeichen fĂŒr die Malaise der hermeneutischen PĂ€dagogik deutete (142).

Bei dem Beitrag von Karl Neumann „Zu Lehren verstehen. Bedingungen und Formen der QualitĂ€tssicherung von universitĂ€rer Lehre und hochschuldidaktischer Weiterbildung“ (11 Seiten) handelt es sich um ein hochschuldidaktisches Thesenpapier, das hier nicht weiter vorgestellt werden muss. Mit dem Thema „Verstehen“ hat das, außer dass das Wort im Titel erscheint, nichts zu tun. Dass die Maßnahmen, die Neumann zur QualitĂ€tssicherung der universitĂ€ren Lehre vorsieht, ein postmodernes Kompetenzengewimmel darstellen, welches mit der Idee der Einheit von Forschung und Lehre nichts mehr zu tun hat, sei nur am Rande erwĂ€hnt.

Ein zweiter Beitrag von Reinhard Uhle, diesmal zum Thema „Bildungsstandards und Verstehenskompetenz“ (25 Seiten) schließt den Sammelband ab. Uhle stellt hier die Kompetenzstufen der Lesekompetenz im PISA-Test vor und stellt sie den KMK-Bildungsstandards fĂŒr das Fach Deutsch gegenĂŒber. Unter Berufung auf Oliver Scholz (Verstehen und RationalitĂ€t, Frankfurt/M. 2001) geht es Uhle dann um eine „hermeneutische und sprachphilosophische“ BegrĂŒndung von Kompetenzstufen des Sinnverstehens (gegenĂŒber den bloß testpragmatisch motivierten Stufungsannahmen). In gewisser Weise nĂ€hert sich Uhle damit der Technologiethese Ă  la Prange an und schlĂ€gt ganz andere Töne an als in seinem ersten pĂ€dagogisch-emphatischen Beitrag.

Die einzelnen BeitrĂ€ge sind von unterschiedlicher QualitĂ€t und bei aller Kritik und Kontroverse haben sie durchaus ihre Meriten. So finden sich bei Gaus und Drieschner seriöse und sehr fundierte Auseinandersetzungen mit Theoriesystemen. Die BeitrĂ€ge von Hoffmann, Prange und Uhle (praktisches Verstehen in der PĂ€dagogik) sind gut zu lesen und halten die ein oder andere Pointe bereit. Gleichwohl kann dieser Sammelband als Sammelband alles andere als ĂŒberzeugen. Die BeitrĂ€ge fallen nicht nur qualitativ und quantitativ ganz unterschiedlich aus. Sie folgen auch je eigenen Textformaten. Dem Format eines klassischen Wissenschaftsaufsatzes entsprechen lediglich die Texte von Nobira und Uhle (Bildungsstandards). Die inhaltlich sehr anspruchsvollen Texte von Gaus und Drieschner sind beide viel zu lang geraten. Hoffmann schreibt ein Essay, wĂ€hrend Prange und Uhle (praktisches Verstehen in der PĂ€dagogik) Miniaturen aus dem Handgelenk liefern. Neumann legt ein Thesenpapier vor, das aus thematischer Sicht noch dazu einen Etikettenschwindel darstellt (es ist erstaunlich, dass sich der Autor und die Herausgeber zur Publikation dieses Textes an diesem Ort entscheiden konnten). So gewinnt der Leser den Eindruck, dass hier alles versammelt wird, was gerade in der Schublade gelegen hat.

Mangelnde editorische Sorgfalt spricht auch aus den Rubrizierungen der Teile: Zur Verwendung des Verstehens, zum VerstĂ€ndnis des Verstehens, zu Anwendungen des Verstehens. Das klingt sehr nach kreativen Sprachschöpfungen von Werbeagenturen. Von Verwendung oder Anwendung von Verstehen (!) ist in den EinzelbeitrĂ€gen der beiden Herausgeber (zum GlĂŒck) keine Rede. Solche (Nach-) LĂ€ssigkeit erweist weder dem Explikationsanliegen der Autoren noch dem Projekt der erziehungswissenschaftlichen Etablierung verstehender Methoden einen Dienst.
Andreas Wernet (Hannover)
Zur Zitierweise der Rezension:
Andreas Wernet: Rezension von: Gaus, Detlef / Uhle, Reinhard (Hg.): Wie verstehen PĂ€dagogen?, Begriff und Methode des Versthens in der Erziehungswissenschaft. Wiesbaden: VS Verlag 2006. In: EWR 7 (2008), Nr. 1 (Veröffentlicht am 06.02.2008), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978353114885.html