EWR 20 (2021), Nr. 1 (Januar/Februar)

Carola Groppe
Im deutschen Kaiserreich
Eine Bildungsgeschichte des BĂŒrgertums 1871–1918
Wien/Köln/Weimar: Böhlau 2018
(528 S.; ISBN 978-3-412-50058-0; 65,00 EUR)
Im deutschen Kaiserreich Die in der preußischen Rheinprovinz lebende Unternehmerfamilie Colsmann steht im Mittelpunkt dieser Studie, die mit dem Anspruch antritt, eine sozialisationshistorische Bildungsgeschichte des Kaiserreichs zu schreiben „und darĂŒber hinaus einen Beitrag zur Debatte um Prozesse und Ambivalenzen der Modernisierung zu leisten: zu Fragen der AutoritĂ€t in politischen, gesellschaftlichen und privaten SphĂ€ren, zu Nationalismus und Globalisierung, zu Geschlecht als gesellschaftlicher Strukturkategorie, zur BĂŒrgergesellschaft und zu neuen MassenphĂ€nomenen im spĂ€ten 19. und frĂŒhen 20. Jahrhundert“ (20). Dieses ambitionierte Werk, das gleichermaßen Fachhistoriker*innen wie Historische Bildungsforscher*innen adressiert, in all seinen Facetten kritisch zu wĂŒrdigen, ist im Rahmen des vorgeschriebenen Umfangs nicht leistbar. Die nachfolgende Besprechung konzentriert sich daher auf den Erkenntnisgewinn fĂŒr die Historische Sozialisationsforschung.

Die Familie Colsmann war bereits – mit einer anderen zeitlichen sowie einer inhaltlichen Schwerpunktsetzung auf der Unternehmensgeschichte – Gegenstand einer 2004 erschienenen Studie der Autorin. [1] Im vorliegenden Band werden vier Ehepaare dieser weitverzweigten, wohlhabenden, international agierenden Seidenfabrikantenfamilie, die kurz vor der GrĂŒndung und wĂ€hrend des Kaiserreichs heirateten, in detailliert gezeichneten Fallstudien untersucht. Als Quellenmaterial greift die Autorin u.a. auf umfangreiche Korrespondenzen der Familienmitglieder zurĂŒck. Das reichhaltige Quellenkorpus lĂ€sst sich zurĂŒckfĂŒhren auf die hĂ€ufige beruflich bedingte Abwesenheit der FamilienvĂ€ter, die außerhĂ€usliche (Aus-)Bildung der Söhne und Töchter sowie auf Urlaubsreisen, Besuche bei Verwandten und Kuraufenthalte, die auch den Ehefrauen als regelmĂ€ĂŸige „‚Auszeiten‘ von Familie und Kindern“ zustanden (75).

Briefe scheinen fĂŒr die Autorin gegenĂŒber Autobiografien einen höheren AuthentizitĂ€tsgrad zu besitzen, da sie wiederholt gegenĂŒber Autobiografien als aussagekrĂ€ftigere Quellen in Stellung gebracht werden. Im Vergleich mit Briefen sei der Wert von Autobiografien gemindert, weil „deren retrospektive Darstellungen nicht von den spĂ€teren Selbstpositionierungen und Weltdeutungen der Schreiberinnen und Schreiber getrennt werden können“ (2, vgl. auch 42, 57, 150). Obwohl die Autorin sich in der Einleitung zu einem Konzept von Historischer Sozialisationsforschung bekennt, das Sozial- und Kulturgeschichte miteinander verbindet (6ff.), scheinen hier methodische Vorbehalte aus der Bielefelder Sozialgeschichte gegen die Quellengattung Autobiografien reproduziert zu werden. Dabei mĂŒssen sowohl Autobiografien wie Briefe sorgfĂ€ltig „gegen den Strich“ gelesen werden, um nicht zeitgenössische SelbstprĂ€sentationen als Ausdruck fĂŒr gelebte RealitĂ€ten zu halten. Als ein wichtiges Ergebnis des Kapitels ĂŒber frĂŒhkindliche Sozialisation in der Familie ist bspw. festzuhalten, dass sich die Ehepaare regelmĂ€ĂŸig ĂŒber ihre Kinder, deren körperliche und kognitive Entwicklung austauschten und dass in allen Familien ein enger körperlicher Kontakt mit den Kindern gepflegt wurde.

Die Söhne der Familie gingen Verbindungen mit Unternehmertöchtern aus der Region ein, wĂ€hrend die Töchter ihre Heiratskandidaten im (inter-)nationalen WirtschaftsbĂŒrgertum oder im BildungsbĂŒrgertum fanden. FĂŒr die jungen MĂ€nner, deren Motive im vorhandenen Quellenkorpus deutlich besser dokumentiert sind als die ihrer Schwestern, scheint es sich ausschließlich um Neigungs- und nicht um arrangierte Ehen gehandelt zu haben. Dass die Beziehungen der Ehepaare nicht nahtlos mit dem Konzept von der „Polarisation der Geschlechtscharaktere“ ĂŒbereinstimmten, bestĂ€tigt den Befund einer erheblichen Diskrepanz zwischen bĂŒrgerlicher Geschlechtertheorie und deren praktischer Umsetzung, die schon Anne-Charlott Trepp [2] und Rebekka Habermas [3] in ihren familiengeschichtlichen Studien ĂŒber das Hamburger bzw. NĂŒrnberger BĂŒrgertum herausgearbeitet haben. Eine Orientierung am hegemonialen MĂ€nnlichkeitsideal, das eine offene Artikulation intimer GefĂŒhle nicht zuließ, lĂ€sst sich der Autorin zufolge nur bei einem 1861 geborenen Mann der Familie feststellen, aber auch damit seien nicht automatisch hierarchisch strukturierte Ehebeziehungen verbunden gewesen.

Allerdings findet sich in der Korrespondenz dieses Paares eine zunehmende Betonung getrennter GeschlechtersphĂ€ren. Die These der Autorin von der „Gleichrangigkeit“ der Ehepartner (137), die durch die „milieugleiche Herkunft der Ehefrauen gefördert“ worden sei, mag nicht so recht ĂŒberzeugen, selbst wenn „deren Bedeutung als sozio-ökonomisches Netzwerk fĂŒr die unternehmerisch tĂ€tigen EhemĂ€nner sehr hoch war“ (137). Dagegen spricht nicht nur die Rechtsstellung verheirateter Frauen unter die Vormundschaft des Ehemannes, sondern auch die ungleiche Verteilung von (Aus-)Bildungschancen fĂŒr Jungen und MĂ€dchen. Die Notwendigkeit einer qualifizierten Schul- und Berufsausbildung – vergleichbar mit der ihrer BrĂŒder – ergab sich fĂŒr die Töchter der Familie im 19. Jahrhundert nicht. Der Besuch der wohnortnahen Elementarschule erfolgte noch gemeinsam mit den BrĂŒdern, aber der weitere schulische Weg erfolgte geschlechtergetrennt. Die MĂ€dchen besuchten Pensionate oder nahmen Haustochterstellen ein. Die Pensionate werden von der Autorin als Entstehungsorte internationaler Frauennetzwerke gewĂŒrdigt (320, 368), aber den zitierten Briefstellen ist leider nicht zu entnehmen, ob die entstandenen Freundschaftsbeziehungen ĂŒber das Pensionat hinaus Bestand hatten. FĂŒr einige Töchter der Familie eröffneten sich erst um die Jahrhundertwende Ausbildungs- und Berufsmöglichkeiten im Kunstgewerbe, in der Krankenpflege, als SekretĂ€rin oder Fotografin (364). Der in Preußen ab 1908 mögliche regulĂ€re Zugang zu Abitur und Studium wurde im Gegensatz zu MĂ€dchen bildungsbĂŒrgerlicher Herkunft nicht genutzt, weil Heirat und FamiliengrĂŒndung nicht zur Disposition standen.

Was die höhere Schulbildung von Jungen anbelangt, so ging die bildungshistorische Forschung bislang davon aus, dass diese wohnortnah erfolgte. Mit diesem – durch den bisherigen Fokus auf großstĂ€dtische Milieus entstandenen – Narrativ rĂ€umt die vorliegende Studie gehörig auf. Da im kleinstĂ€dtischen Langenberg vor 1911 keine höhere Knabenschule mit der auch fĂŒr Handel und Industrie bedeutsamer werdenden Berechtigung fĂŒr den EinjĂ€hrig-Freiwilligen-Dienst existierte, verließen die Jungen spĂ€testens mit 15 Jahren das Elternhaus und besuchten staatliche höhere Schulen mit angeschlossenen Internaten oder SchĂŒlerpensionen, die als Ersatzfamilien fungierten. Die berufliche Ausbildung erfolgte im Ausland, in England, der Schweiz, in den USA. In den wĂ€hrend des MilitĂ€rdienstes – abgeleistet in Form des EinjĂ€hrig-Freiwilligen-Dienstes in exklusiven Garde-Kavallerie-Regimentern – entstandenen Korrespondenzen finden sich keine Hinweise, die die These von der zunehmenden Militarisierung des deutschen BĂŒrgertums stĂŒtzen. Den Briefen zufolge stellte der Dienst keine hohen AnsprĂŒche an die jungen MĂ€nner. Deutlich mehr Bedeutung wurde der „Teilhabe an der Hauptstadtkultur und -gesellschaft“ beigemessen (404), die u.a. der Anbahnung oder Intensivierung geschĂ€ftlicher Beziehungen diente. Auch die vielfach beschworene Kriegsbegeisterung der bĂŒrgerlichen Jugend zu Beginn des Ersten Weltkriegs vermochte sich bei den Familienmitgliedern angesichts ihrer transnational verflochtenen GeschĂ€ftsbeziehungen nicht einzustellen.

Ein nach wie vor wenig beleuchtetes Kapitel bildungshistorischer Forschung stellt der Umgang der bĂŒrgerlichen Jugend mit SexualitĂ€t dar. In Anlehnung an Goffmann spricht die Autorin von der „VorderbĂŒhne“, auf der sich das gesellschaftliche Leben abspielte, ĂŒber das die jungen MĂ€nner ausfĂŒhrlich nach Hause berichteten, und von der „HinterbĂŒhne“, den Verlockungen des Berliner Nachtlebens (419), ĂŒber die sich die Söhne in Briefen an die Eltern wohlweislich ausschwiegen. Dagegen appellierten insbesondere die VĂ€ter mehrfach an die Vernunft der Söhne und warnten vor ĂŒbermĂ€ĂŸigem Alkoholgenuss und – verschlĂŒsselt in den Codes des 19. und frĂŒhen 20. Jahrhunderts – vor den unerwĂŒnschten Folgen sexueller AktivitĂ€t: Geschlechtskrankheiten und uneheliche Kinder (420). Dass auch bĂŒrgerliche MĂ€dchen kleinen Flirts „zur Erprobung der eigenen AttraktivitĂ€t“ nicht abgeneigt waren (304), geht aus Briefen eines 1836 geborenen MĂ€dchens an eine Freundin hervor. Welche vorehelichen Erfahrungen Heranwachsende im Umgang mit SexualitĂ€t tatsĂ€chlich machen konnten, versucht die Studie ĂŒber den Umweg einer „Rekonstruktion möglicher ErfahrungsrĂ€ume“ zu beantworten (437).

Carola Groppes Studie wartet mit vielen neuen Erkenntnissen ĂŒber das Aufwachsen von Jungen und MĂ€dchen in einer wirtschaftsbĂŒrgerlichen Familie des 19. und frĂŒhen 20. Jahrhunderts auf. Das gilt insbesondere fĂŒr die Befunde zur frĂŒhkindlichen Sozialisation, ĂŒber Erziehungspraktiken im Umgang mit kleinen Kindern. Ob den Ergebnissen ĂŒber die Familie Colsmann hinaus Aussagekraft fĂŒr grĂ¶ĂŸere Teile des deutschen WirtschaftsbĂŒrgertums zukommt, wird Aufgabe weiterer Studien sein.

[1] Groppe, Carola: Der Geist des Unternehmertums – eine Bildungs- und Sozialgeschichte. Die Seidenfabrikantenfamilie Colsmann (1649 – 1840). Köln/Weimar/Wien: Böhlau 2004.
[2] Trepp, Anne-Charlott: Sanfte MĂ€nnlichkeit und selbstĂ€ndige Weiblichkeit. Frauen und MĂ€nner im Hamburger BĂŒrgertum zwischen 1770 und 1840. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1996.
[3] Habermas, Rebekka: MĂ€nner und Frauen des BĂŒrgertums. Eine Familiengeschichte (1750 – 1850). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2000.
Elke Kleinau (Köln)
Zur Zitierweise der Rezension:
Elke Kleinau: Rezension von: Groppe, Carola: Im deutschen Kaiserreich, Eine Bildungsgeschichte des BĂŒrgertums 1871–1918. Wien/Köln/Weimar: Böhlau 2018. In: EWR 20 (2021), Nr. 1 (Veröffentlicht am 23.02.2021), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978341250058.html