EWR 8 (2009), Nr. 6 (November/Dezember)

JĂŒrgen Oelkers
Dewey und die PĂ€dagogik
Weinheim; Basel: Beltz 2009
(347 S.; ISBN 978-3-407-85886-3; 32,95 EUR)
Dewey und die PĂ€dagogik AnlĂ€sslich des 150. Geburtstages des amerikanischen Philosophen und PĂ€dagogen John Dewey (1859-1952) legt JĂŒrgen Oelkers ein Buch vor, dass einerseits Deweys Bedeutung als PĂ€dagoge und seine Erziehungsphilosophie vor dem Hintergrund der amerikanischen Gesellschaftsentwicklung beleuchtet. Andererseits werden Deweys Gedanken und die OriginalitĂ€t der amerikanischen (pragmatischen) PĂ€dagogik sowie deren dauernde Bedeutung fĂŒr die deutsche PĂ€dagogik herausgearbeitet, da jene – besonders die politische Bildung der Weimarer und Bonner Republik – nach demokratischen Modellen von Bildung und Erziehung Ausschau hielt. John Deweys „Demokratie und Erziehung“ (1916, dt. 1930) war dabei ein wichtiger Bezugspunkt, weil er in diesem Buch Erziehung als permanente Rekonstruktion von Erfahrung und Demokratie als Lebensform beschrieb. Oelkers Buch, das auf verschiedenen Vorlesungen basiert und in einzelnen Abschnitten auf vorliegende AufsĂ€tze zum Thema rekurriert [1], möchte also Deweys Beitrag zur PĂ€dagogik erfassen, darlegen, was Dewey „zur Theorie und Praxis der Erziehung zu sagen hatte“ (9). Dies geschieht in sieben Kapiteln.

Kapitel eins gibt eine kurze Beschreibung der deutschsprachigen Auseinandersetzung mit Dewey und zeichnet vor allem deren Geschichte im Nachkriegsdeutschland der 1950er und 1960er Jahre nach. Oelkers prĂ€sentiert hier Skepsis und Ablehnung gegenĂŒber der Erziehungsphilosophie Deweys in Ost- und Westdeutschland bzw. im deutschsprachigen Diskurs am Beispiel verschiedener Autoren (W.S. Schewkin, Erich Weniger, Wilhelm Flitner, Werner Lustenberger). Die wenigen, die Dewey positiv aufgenommen haben – Friedrich Oetinger (alias Theodor Wilhelm), durch seine nationalsozialistische Vergangenheit desavouiert, und Erich Hylla, als amerikaaffiner „Stachel“ (24) wahrgenommen –, bleiben randstĂ€ndig. Oelkers legt hier zudem eine erste Einbettung des (amerikanischen) Pragmatismus in den (europĂ€ischen) pĂ€dagogischen Theoriekontext und -diskurs seit der Wende zum 20. Jahrhundert vor, die u.a. an dieser Stelle an Stefan Bittners Rezeptionsgeschichte anknĂŒpfen kann [2].

Kapitel zwei informiert ĂŒber das Demokratieideal Amerikas und beschreibt detailreich den gesellschaftlichen Kontext und das diskursive Umfeld im Amerika des spĂ€ten 19. Jahrhunderts, in dem und durch das Deweys Erziehungsphilosophie entstanden ist, ja nach Oelkers entstehen musste. Hier sowie im dritten Kapitel fortsetzend unterstreicht Oelkers, dass die Bedingungen der Einwanderung, der gesellschaftlichen Integration und Dynamik eine (institutionalisierte) Bildung und Erziehung nötig machten, die Europa nicht kannte. Die „Bildung in einer demokratischen Gesellschaft“ bedurfte einer ‚new education’, deren Ziel der „effektive Handlungsbezug“ ist, „nicht Wissen auf Vorrat oder abwartende Kultivierung“ (77 f.).

Das dritte Kapitel widmet Oelkers ausfĂŒhrlich der Erziehungsphilosophie und dem Erziehungsbegriff Deweys und unterstreicht deren BegrĂŒndung als Bruch mit den europĂ€ischen Traditionen, deren dualistische Konstruktion (Geist – Natur, Individuum – Gesellschaft, Theorie – Praxis) aufzuheben und zu integrieren Dewey bestrebt war. Dies geschieht in Wechselwirkung mit den gesellschaftlichen Bedingungen Amerikas (Stichwort: Melting Pot) und der Etablierung der pragmatischen, der amerikanischen PĂ€dagogik, die ihr Zentrum in Chicago hatte, wo Dewey zwischen 1894 und 1904 wirkte. Demokratie wurde zur „Theorienorm“ der amerikanischen pragmatischen PĂ€dagogik erhoben (83), deren Netzwerk Oelkers breit offen legt.

Im vierten Kapitel schließt sich die Diskussion zentraler Dimensionen der pragmatischen PĂ€dagogik Deweys an: Erfahrung und Handeln, Wachstum, Denken und Problemlösen, Projektarbeit. Der Versuch Deweys, die o.g. philosophischen Dualismen in der ‚Demokratie als Lebensform’ zu fassen, wird offen gelegt. Nicht die BestĂ€ndigkeit gegebener ZustĂ€nde, sondern LernfĂ€higkeit und permanente VerĂ€nderung werden postuliert. Als Trainingsraum, der Erfahrung, Denken, Handeln und Problemlösen ermöglicht, wird die Projektarbeit erschlossen.

Das fĂŒnfte Kapitel lĂ€sst Dewey in den öffentlichen und wissenschaftlichen Debatten seiner Zeit aufscheinen: Ob in der Auseinandersetzung, wie ökonomisch die öffentliche Schule sein darf oder muss, ob zum Strukturwandel der Öffentlichkeit, also wie Schulen auf den wachsenden Einfluss der Medien auf die Meinungsbildung reagieren können, ob in der erziehungsphilosophischen Debatte um den Stellenwert der liberal arts, also um eine kanonisierte Allgemeinbildung in amerikanischen Schulen: Dewey wird als streitbarer und öffentlicher Intellektueller prĂ€sentiert.

Kapitel sechs stellt dann unter der Überschrift „Erfahrungen in der Praxis“ einen biographischen Abriss dar, der Dewey als „Provinzler“ (Studium in Vermont, Lehrerstelle in Pennsylvania, Studium in Maryland, erste Professur in Michigan), als SchulgrĂŒnder in Chicago und „öffentlichen Philosophen“ prĂ€sentiert. Insbesondere mit der (schul-)pĂ€dagogischen Wirkung Deweys, die mit der GrĂŒndung der Chicagoer Laboratory School verbunden war, und mit Deweys Europa- und vor allem Sowjetunionreise beleuchtet Oelkers interessante Facetten aus Deweys Leben. Die Laboratory School schĂ€tzt er als einen Ort ein, an dem besichtigt werden konnte, „wie eine neue Theorie umgesetzt wurde“ (268), ohne etwa die schwierige GrĂŒndungsphase, dauernde finanzielle Problemlagen und die schul- und unterrichtsorganisatorische Leistung von Schulleiterin Ella Young Flagg zu vernachlĂ€ssigen. Oelkers Episoden aus dem Leben Deweys enden nach dessen Tod mit der Kritik an der pragmatischen PĂ€dagogik, die in der Folge des Sputnik-Starts im Oktober 1957 einen Höhepunkt erreichte.

Das abschließende siebte Kapitel ordnet Deweys Erziehungsphilosophie und PĂ€dagogik kritisch sowohl in den Zeit- wie in den Kontext der Folgewirkungen ein. Die Permanenz amerikanischer Debatten fĂŒr und wider die ‚progressive education’ wird ebenso thematisiert wie die Auseinandersetzung der deutschen Philosophie mit Dewey und dem Pragmatismus in der Kriegs- und Nachkriegszeit. Max Horkheimers und Hannah Arendts BeschĂ€ftigung mit der amerikanischen ‚progressive education’ zeigen beispielhaft die Differenzen und Abneigungen, aber auch das UnverstĂ€ndnis, das Deweys Erziehungsphilosophie bzw. dem Pragmatismus entgegengebracht wurde.

Dass Deweys PĂ€dagogik ĂŒber Amerika hinausreichte und die sozialen Entwicklungen sowie pĂ€dagogischen Herausforderungen Amerikas auch die anderer Gesellschaften wurden, kann wohl erst im RĂŒckblick (unverkrampfter, aber nicht weniger umstritten) diskutiert werden. Oelkers‘ Fazit und These lauten: Deweys Erziehungsphilosophie kann nur im Kontext der amerikanischen Gesellschaftsentwicklung sowie im mehr oder weniger radikalen Bruch mit den europĂ€ischen pĂ€dagogischen Denktraditionen des 19. Jahrhunderts verstanden und gedeutet werden. Das wird nachvollziehbar dargelegt, ist aber nicht unumstritten, wie auch Deweys (Nach-)Wirken bei der organisatorischen und inhaltlichen Gestaltung institutionalisierter Bildung in demokratischen Gesellschaften. Dewey und der Pragmatismus im gegenwĂ€rtigen (deutschsprachigen) Schulreformdiskurs werden eher zurĂŒckhaltend thematisiert, auch wenn ein Hauptinteresse des Buches ist, „herauszuarbeiten, was heute von Interesse ist“ (11). Scheint dieses Interesse hier und da deutlicher auf, wird die Diskussion um die gegenwĂ€rtige (deutsche) Dewey-Rezeption und die dichotome Funktionalisierung Dewey vs. europĂ€ische pĂ€dagogische Tradition anregend bereichert [3].

Mit Siegfried Marcks‘ Verdikt, dass Deweys PĂ€dagogik weder Kulturkritik noch der Dialektik der AufklĂ€rung bedĂŒrfe, dafĂŒr Optimismus zulasse, schließt Oelkers. Er lĂ€sst damit ein Ende seiner Wirkungsgeschichte Deweys zu. Von einigen „Episoden“ hĂ€tte man gern mehr gelesen.

[1] Oelkers, JĂŒrgen: Demokratie als Theorienorm in der PĂ€dagogik des Pragmatismus. In: Crotti, Claudia/Gonon, Philipp/Herzog, Walter (Hrsg.) (2007): PĂ€dagogik und Politik. Historische und aktuelle Perspektiven. Bern u. a.: Haupt Verlag, S. 151-175; Ders.: John Deweys Philosophie der Erziehung. Eine theoriegeschichtliche Analyse. In: Jonas, Hans (Hrsg.) (2000): Philosophie der Demokratie. BeitrĂ€ge zum Werk von John Dewey. Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag, S. 280-315.
[2] Bittner, Stefan (2001): Learning by Dewey? John Dewey und die deutsche PĂ€dagogik 1900-2000. Bad Heilbrunn: Klinkhardt.
[3] Vgl. Bellmann, Johannes (2007): John Deweys naturalistische PÀdagogik. Argumentationskontexte, Traditionslinien. Paderborn u. a.: Schöningh, besonders S. 183-185.
Thomas Koinzer (Berlin)
Zur Zitierweise der Rezension:
Thomas Koinzer: Rezension von: Oelkers, JĂŒrgen: Dewey und die PĂ€dagogik. Weinheim; Basel: Beltz 2009. In: EWR 8 (2009), Nr. 6 (Veröffentlicht am 01.12.2009), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978340785886.html