EWR 9 (2010), Nr. 5 (September/Oktober)

Ines Hopfer
Geraubte Identität
Die gewaltsame „Eindeutschung“ von polnischen Kindern in der NS-Zeit
Wien / Köln / Weimar: Böhlau 2010
(304 S.; ISBN 978-3-2057-8462-3; 39,00 EUR)
Geraubte Identität Gegenstand dieses Werkes der österreichischen Historikerin Ines Hopfer ist eine Besonderheit des NS-Erziehungsstaates: Im Rahmen so genannter „Eindeutschungsmaßnahmen“ gab es während des „Dritten Reiches“ Bemühungen, „fremdvölkische Kinder“, die aufgrund ihres optischen Erscheinungsbildes „rassisch wertvoll“ erschienen, durch eine Erziehung im „Altreich“ bzw. in der „Ostmark“ für das „Deutschtum“ zu gewinnen. So sollte einerseits den unterdrückten Völkern eine potentiell dem NS-Staat widerstrebende Führungselite entzogen werden, andererseits sollte die nationalsozialistische „Volksgemeinschaft“ um regimetreue Mitglieder beiderlei Geschlechts vermehrt werden. Am Beispiel Polens zeigt Hopfer basierend auf Archivalien sowie ZeitzeugInneninterviews und –fragebogen in acht Kapiteln, wie dieses bislang von der (bildungs-)historischen Forschung wenig beachtete Unternehmen konzipiert und umgesetzt wurde und wie die betroffenen Kinder und Jugendlichen die Geschehnisse erlebten.

Den Ausgangspunkt der Studie bilden nach einem einleitenden Überblick über den deutsch- wie polnischsprachigen Forschungsstand in Kapitel 1 Überlegungen zur nationalsozialistischen Germanisierungspolitik, zu ihren Begrifflichkeiten und ihrer in Polen praktizierten Umsetzung, die zur Herauslösung von Waisen wie Nichtwaisen aus ihrem sozialen Umfeld führte. Vor diesem Hintergrund werden anschließend die den „Eindeutschungsverfahren“ zugrundeliegenden Verordnungen analysiert und die an der Realisierung der Maßnahmen beteiligten Akteure vorgestellt. Zudem erfolgt eine Kontextualisierung des Projektes durch die Präsentation weiterer im besetzten Polen praktizierter Eindeutschungsmaßnahmen und durch die Darstellung des im Raum Litzmannstadt durchgeführten Pilotprojektes „Eindeutschung“.

Kapitel 2 zeichnet die ersten der von den Kindern im „Eindeutschungsverfahren“ durchlaufenen Teilschritte nach: Im Anschluss an fragmentarische Erinnerungen der betroffenen Kinder an den Einmarsch der deutschen Truppen werden Rassenexamina und gesundheitliche Überprüfungen, die Trennung von den Herkunfts- bzw. Pflegefamilien, die Aufenthalte in „Übergangsheimen“, „Assimilierungsheimen“ und die Unterbringung und Unterrichtung in den „Deutschen Heimschulen“ Achern – für einzudeutschende Mädchen – und Niederalteich – für einzudeutschende Jungen – dargestellt.

In den Kapiteln 3 und 4 werden mit Fallstudien zur Vermittlung nach Salzburg und zur Praxis im Oberweiser Kinderheim „Alpenland“ zwei unterschiedliche Varianten der Eindeutschungsversuche betrachtet: Während für die im Raum Salzburg erfolgende Vermittlung an Pflegefamilien die „Volksdeutsche Mittelstelle“ verantwortlich war, unterstand das Oberweiser Kinderheim „Alpenland“ dem „Lebensborn“. In der Praxis kam diesem Umstand jedoch, wie Hopfers Ausführungen zeigen, wenig Bedeutung zu: Zentrale Ziele beider Projekte waren es, die Kinder z.B. durch Namensänderungen sowie Deutschunterricht ihrer polnischen Identität zu berauben und sie an geeignete Pflegefamilien abzugeben. Beeindruckend an diesen Ausführungen zu den einzelnen Stationen der nationalsozialistischen Eindeutschungsversuche ist der häufig anzutreffende Blick für die Details: So rekonstruiert Hopfer z.B. unter Verwendung von Interviewausschnitten das Leben in den Lagern und Pflegefamilien, die Kontakte mit der einheimischen Bevölkerung, die Beschulungssituation und auch Versuche der Kinder, trotz drohender Strafen durch den Gebrauch der polnischen Muttersprache oder durch Bemühungen um Briefkontakte zu den polnischen Verwandten gegen die Maßnahmen zu rebellieren. Bildmaterialien zieht Hopfer heran, um einen plastischen Eindruck von den medizinischen Testverfahren (68ff) oder der Unterbringung der Kinder (171) zu vermitteln.

Kapitel 5 gilt den nach Kriegsende erfolgenden Repatriierungsversuchen, die für manche der Betroffenen mit der Rückkehr zur Familie, für andere aber auch mit dem von ihnen gewünschten und teilweise hart erkämpften Verbleib bei der liebgewonnen Ersatzfamilie endeten. Gefragt wird nach den an der Suche nach den verschleppten Kindern beteiligten Organisationen und deren Vorgehensweise. Ein eigenes Unterkapitel befasst sich mit der Beteiligung der Besatzungsmächte, deren Interesse am Auffinden und Rückführen der Kinder angesichts des sich verschärfenden Ost-West-Konflikts rasch erlahmte. Darüber hinaus werden – aus Sicht der Rezensentin relativ spät – Informationen zur Zahl der Betroffenen gegeben, wobei die häufige Bezugnahme auf widersprüchliche Schätzwerte als ein weiteres Indiz für die bestehenden Forschungslücken zu werten ist. Ein eigenes Unterkapitel skizziert zudem die ambivalenten Erfahrungen der Heimkehrenden: Wo sich bei den einen die Angehörigen über die Rückkehr freuten, waren bei anderen die Eltern verstorben und die Kinder wurden in die Obhut von Verwandten oder Heimen überantwortet. In wieder anderen Fällen hatten insbesondere jüngere Betroffene die eigene Muttersprache vergessen oder das Umfeld reagierte mit Befremden auf die Kinder, die Sprache und Sitten der verhassten ehemaligen Feinde besser beherrschten als die ihrer polnischen Heimat.

Die im Nachhinein erfolgte Aufarbeitung der „Eindeutschungsverfahren“ ist dann Gegenstand von Kapitel 6. Thematisiert werden zum einen die Schicksale der Täter, die maßgeblich durch den achten Nürnberger Nachfolgeprozess geprägt wurden, zum anderen wird aber durch die Wiedergabe und Analyse von Sequenzen aus ZeitzeugInneninterviews die heutige Perspektive der Opfer verdeutlicht: Aufgezeigt werden psychische und physische (Spät-)Folgen, die teilweise lebenslange Suche nach der eigenen Identität, das Bemühen um die Anerkennung als NS-Opfer sowie Versuche, das eigene Schicksal z.B. durch die Beteiligung an Betroffenenvereinen und Zeitzeugenprojekten zu bewältigen.

Vor einer kurzen Zusammenfassung der Ergebnisse im abschließenden Kapitel 8 erbringt Kapitel 7 schließlich eine Einbettung der in Polen durchgeführten Verfahren und der dabei gemachten Erfahrungen in den Kontext der auch in anderen südost- und osteuropäischen Ländern durchgeführten Eindeutschungsmaßnahmen. Dabei erscheint allein schon die Kürze dieses Kapitels – fünf Gebiete werden auf gerade einmal vierzehn Seiten abgehandelt – der Rezensentin symptomatisch für die Aufmerksamkeit, die dem Thema bislang zuteil wurde: Obwohl die Beschäftigung mit dem „Dritten Reich“ innerhalb der (bildungs-)historischen Forschung nach stockenden Anfängen bis heute eine Unzahl an Arbeiten hervorgebracht hat, fehlen – worauf Hopfer selbst auch einleitend verweist (12ff) – Studien zu den nationalsozialistischen Germanisierungsbemühungen bislang noch weitgehend. Insofern kann man an der Arbeit von Hopfer zwar bemängeln, dass die ZeitzeugInnenerinnerungen häufig eher illustrativen Charakter haben und die Informationen zu Datenerhebung und –auswertung äußerst knapp ausfallen (14ff), letztlich jedoch leistet die Studie gerade durch ihre multiperspektivische Herangehensweise – Täter und Opfer werden in den Blick genommen, Quellenanalysen werden neben ZeitzeugInnenerinnerungen gestellt, Text- und Bilddokumente werden präsentiert – einen wichtigen Beitrag zur Behebung eines Forschungsdesiderates. Erfreulich sind zudem der flüssige, klare Schreibstil der Autorin und der praktische Anhang mit Abbildungs- und Abkürzungs-, Quellen- und Literaturverzeichnis sowie Personen- und Sachregister. Weitere Veröffentlichungen dieser Art sind wünschenswert.
Jeanette Bair (Tübingen)
Zur Zitierweise der Rezension:
Jeanette Bair: Rezension von: Hopfer, Ines: Geraubte Identität, Die gewaltsame „Eindeutschung“ von polnischen Kindern in der NS-Zeit. Wien / Köln / Weimar: Böhlau 2010. In: EWR 9 (2010), Nr. 5 (Veröffentlicht am 13.10.2010), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978320578462.html