EWR 9 (2010), Nr. 5 (September/Oktober)

Helmut Schwalb / Georg Theunissen (Hrsg.)
Inklusion, Partizipation und Empowerment in der Behindertenarbeit
Best-Practice-Beispiele: Wohnen – Leben – Arbeit – Freizeit
Stuttgart: Kohlhammer 2009
(254 S.; ISBN 978-3-1702-0890-2; 28,00 EUR)
Inklusion, Partizipation und Empowerment in der Behindertenarbeit Die Diskussion um Inklusion und Empowerment wird derzeit durch die UN-Konvention zu den Rechten behinderter Menschen verstärkt angeregt. Während die theoretischen Grundlagen von Inklusion und Empowerment von Praktikern eine hohe Wertschätzung erfahren, wird immer wieder die Frage nach der Umsetzbarkeit gestellt. Mit dem neu erschienenen Sammelband greifen Helmut Schwab und Georg Theunissen dies auf und präsentieren Best-Practice-Beispiele aus verschiedenen Bereichen der Behindertenarbeit. Damit verspricht man Neuland zu betreten und beklagte Lücke zu schliessen (9).

Eine Einleitung führt nach einem geschichtlichen Rückblick auf Segregation und Integration kurz und prägnant in die theoretischen Grundgedanken von Inklusion und Empowerment ein. Unter Best-Practice verstehen die Autoren „Implementierungen von Inklusion und Empowerment, die die Kluft zwischen theoretischem Anspruch und gesellschaftlicher Wirklichkeit mit Erfolg überwunden haben und den Nachweis erbringen, dass die modernen Leitideen weit mehr als eine blosse Vision sind“ (35). Gegliedert sind die Beispiele in die Bereiche Wohnen und Leben (Kap. 1), Arbeiten (Kap. 2) sowie Freizeit und Erwachsenenbildung (Kap. 3). Ein viertes Kapitel schliesst das Buch mit einem Exkurs in die Positive Verhaltensunterstützung.

Dieter Kalesse beschreibt im ersten Artikel des ersten Kapitels die beeindruckende Verwandlung einer ehemaligen Grosseinrichtung, der evangelischen Stiftung Hephata, in eine dezentral organisierte, sich am Assistenzbegriff orientierende Organisation, die den Menschen mit Behinderungen an der Seite steht, um ihnen ein Wohnen und Leben zu ermöglichen, dessen Form diese selbst bestimmen. „Gemeinwesenintegration und Vernetzung“, der zweite Artikel von Christian Bradl und Angelika Küppers-Stumpe, beschreibt eine weitere Dezentralisierung von fünf grossen heilpädagogischen Heimen hin zu einem regionalen Netzwerk heilpädagogischer Hilfen.

Ein dritter Beitrag trägt den Titel „Aktion Menschenstadt“ und beschreibt die frühe, gemeinwesenartige Unterstützung durch den Entlastungsdienst für Familien, der ursprünglich als Freiwilligenarbeit, als Hilfskräfte im „Sozialen Jahr“, nun professionalisiert als Integrationshilfsdienst in Essen funktioniert. Der vierte Beitrag mit dem Titel „Teilhabe konkret“ (Sandra Fietkau / Stephan Kurzenberger / Rudi Sack) beschreibt die aktive Beteiligung behinderter Menschen in Projekten der Lebenshilfe vor Ort. Beim dreijährigen Inklusionsprojekt „BRIDGE – Brücken bauen in der Gemeinde“ sticht heraus, dass Menschen mit Behinderungen an der Zukunftswerkstatt beteiligt sind, in der die Arbeitsschwerpunkte für das Projekt erarbeitet wurden.

Der erste Beitrag im zweiten Kapitel von Renata Neukirchen beleuchtet Projekte, in denen Behinderte auf dem ersten Arbeitsmarkt arbeiten. Unter dem Firmendach „Cooperative Beschützende Arbeitsstätten“ werden kleine Unternehmen gegründet, die ausgehend von den Fähigkeiten der behinderten Menschen – und das ist der herausragende Gedanke dieses Projekts – nach Arbeiten suchen, die diese erledigen können. Beim Lesen taucht jedoch die Frage auf, wie inklusiv gearbeitet wird, wenn vor allem Behinderte in den einzelnen Teams sind. Der zweite Beitrag (Kerstin Axt) beschreibt die Virtuelle Werkstatt Saarbrücken, in der Menschen mit psychischer Behinderung in einzelnen, virtuellen Werkstattplätzen im allgemeinen Arbeitsmarkt integriert werden. Der dritte Beitrag von Michael Zorbeley beschreibt, wie eine WfBM (Werkstätte für Behinderte Menschen) zu einer Integrationsmanagementorganisation wird und den Übertritt ihrer Mitarbeitenden von der WfBM in eine Firma des ersten Arbeitsmarktes begleitet. Werner Neubrandt beschreibt im vierten Artikel den Lebensmittelmarkt Markt und Service gGmbH, der geistig, psychisch und körperlich behinderte Mitarbeiter – ehemalige Werkstattmitarbeiter – beschäftigt. Für die Leserin und den Leser stellt sich hier die Frage: ist ein Laden mit fast ausschliesslich behinderten Mitarbeitenden inklusiv?

Im fünften Artikel von Jürgen Dangl wird das Hofgut Himmelreich beschrieben, auf dem Menschen mit und ohne Behinderungen „unbehindert miteinander arbeiten und lernen“. Als Teilnehmende werden nur Menschen mit Behinderung zugelassen, die mindestens 50% der Arbeitsleistung einer gesunden nicht behinderten Person erbringen können. Ein letzter Beitrag von Klaus Hotz beschreibt die Malteserschlossschule Heitersheim, an der die Arbeitsplatzreife mit gezielter Schulung und Praktika erworben werden kann. Im Allgemeinen wird im Arbeitsbereich offensichtlich, dass von Inklusion wohl noch kaum die Rede sein kann. Eine Integration oder Teilhabe behinderter Menschen in den ersten Arbeitsmarkt muss den Betrieben noch allzu sehr verkauft werden. Dazu ist die Risikominimierung von Seiten der sozialstaatlichen Unterstützungssysteme hoch im Kurs, gleichfalls wie der Versuch, an die soziale Verantwortung zu appellieren.

Ein sehr interessantes Projekt schildert Thomas Fertig im ersten Beitrag des dritten Kapitels mit dem Titel „Freizeit inklusive“. Freizeitassistenz meint dabei den Abbau von Barrieren, „die einer Teilnahme am gemeinschaftlichen und kulturellen Leben im Wege stehen“ (190). Auch die Zielgruppe dieses Projekts beeindruckt: Kinder und Jugendliche im Alter bis 26 Jahre, „unabhängig von Art und Schwere ihrer Beeinträchtigung bzw. ihres Assistenzbedarfs“ (191). Über eine Koordinationsstelle werden individuelle Freizeitangebote für die einzelnen Menschen mit Assistenzbedarf gesucht. Als Ziel werden nicht nur die Förderung von Selbstbestimmung genannt, sondern auch die „Wahrnehmung von Behinderung“ in der Gesellschaft.

Im zweiten Bericht schildert Jörg Duda die Pfadfinderbewegung, an der bereits seit 1958 Jugendliche „mit und ohne Behinderung“ teilnehmen. Unter dem Motto „look at the boy – look at the girl“ werden individuell Lösungen und Assistenzen gesucht. Der dritte Bericht (Bertram Goldbach) beschreibt offene Freizeit- und Bildungsangebote des Arbeitskreises Behinderte an der Christuskirche (ABC). Die Angebote (Kurse, Theatergruppen, etc.) werden dabei v.a. an den Bedürfnissen von Behinderten ausgerichtet, um dann möglichst auch Nichtbehinderte dafür zu gewinnen. Ein letzter Beitrag (Michael Galle-Bammes) berichtet vom Bildungszentrum Nürnberg, das bereits seit 1974 Bildungsangebote für Erwachsene mit Behinderungen macht. Kritisch kann zu den letzten beiden Artikeln angemerkt werden, dass Inklusion vor allem darin besteht, die Angebote für „behinderte“ und „nichtbehinderte“ unter ein Dach zu bringen. Die tatsächlichen Lerngruppen sind mehrheitlich noch getrennt (vgl. 227).

Das vierte und letzte Kapitel, als eine Art Exkurs gestaltet, thematisiert die positive Verhaltensunterstützung zur Ermöglichung von Empowerment und Inklusion. Dabei geht es darum, gerade die bei Inklusionsprojekten schwer integrierbare Gruppe (vgl. 231) der „Verhaltensauffälligen“ oder der Menschen, die „Problemverhalten“ zeigen, zu unterstützen. Die Personenbezogenheit des Ansatzes, die beim Lesen des Titels vermutet werden muss, scheint im Rahmen von Inklusion irgendwie fragwürdig. Es wird jedoch betont, dass es „zu einem wichtigen Anliegen der Positiven Verhaltensunterstützung [gehört], auf der Basis der funktionalen Problemsicht geeignete Beziehungsmuster (Interaktionen) und kontextuelle Bedingungen (Lebensräume) für Menschen mit Lernschwierigkeiten zu eruieren und zu fördern“ (234).

Was leistet der Band, wenn die Beiträge entlang der Grundgedanken von Inklusion, wie sie in der Einführung präsentiert werden (16ff), beurteilt werden? Immer wieder scheitern die Projekte an Punkt fünf (Nicht-Aussonderung und Ressourcenorientierung), indem der Versuchung nicht widerstanden werden kann, wiederum zwischen inklusionsfähig und inklusionsunfähig zu unterscheiden (z.B. Kerstin Axt, Jürgen Dangl). Eine solche Unterscheidung widerspricht dem theoretischen Gedankengut von Inklusion radikal, wird aber bereits im Vorwort des Bandes in gewisser Weise vollzogen, in dem sich die Herausgeber nämlich auf die Zielgruppe der Menschen mit Lernschwierigkeiten einigen. Mit einem solchen Umgang mit der Problematik – also wenn Anforderungen an eine zu inkludierende Person gestellt oder Grenzen von Inklusion thematisiert werden – wird Behinderung mehr denn je als essentielle und naturhafte Eigenschaft einer Person gewertet (Feuser 2009, 2) [1].

Es zielen denn auch insgesamt die konkreten Inklusionsbemühungen, welche im vorliegenden Sammelband beschrieben werden und in diesem Sinne Spiegel gesellschaftlicher Praktiken sind, noch viel zu sehr auf die behinderten Menschen selbst ab, und zuwenig – wie es in Punkt vier (kontextuelle Veränderungen und Anpassungen) der Grundlagen von Inklusion fordert wird – auf den gesellschaftlichen Kontext. Denn es gälte eigentlich die Devise: „Als sozialer Tatbestand ist Behinderung grundsätzlich überwindbar“ (Thomas Fertig, 190). So erinnert man sich wieder der eingangs erwähnten Kluft zwischen „Vision und Wirklichkeit“, aufgrund derer das Buch überhaupt entstand. Man wird sich schmerzlich bewusst, dass sie noch immer vorhanden ist. Das Engagement der Projektteams soll mit dieser Aussage nicht geschmälert werden, denn auch wenn Inklusion zwar noch lange nicht erreicht ist – wäre sie es, wäre das Erscheinen eines solchen Sammelbandes obsolet! –, angestrebt wird sie, das beweisen die Best-Practice-Beispiele.

[1] Feuser, G. (2009): Offener Brief zum Thema des Eröffnungsvortrags von Prof. Dr. Kevin Sutherland. Per Mail versandt an die Mailingliste der Konferenz der Lehrenden der Geistigbehindertenpädagogik an wissenschaftlichen Hochschulen in deutschsprachigen Ländern (KLGH) am 9. Januar 2010.
Andrea Kaufmann (ZĂĽrich)
Zur Zitierweise der Rezension:
Andrea Kaufmann: Rezension von: Schwalb, Helmut / Theunissen, Georg (Hg.): Inklusion, Partizipation und Empowerment in der Behindertenarbeit, Best-Practice-Beispiele: Wohnen – Leben – Arbeit – Freizeit. Stuttgart: Kohlhammer 2009. In: EWR 9 (2010), Nr. 5 (Veröffentlicht am 13.10.2010), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978317020890.html