EWR 5 (2006), Nr. 4 (Juli/August 2006)

Hans-Christoph Koller / Markus Rieger-Ladich (Hrsg.)
Grenzgänge
Pädagogische Lektüren zeitgenössischer Romane
Bielefeld: transcript 2005
(176 S.; ISBN 3-89942-286-4; 20,80 EUR)
Grenzgänge Grenzgänge – sind für eine Pädagogik, die gefordert ist, sich mit ihren Möglichkeiten und Grenzen auseinander zu setzen, ein viel versprechendes, aber auch riskantes Unternehmen. Dies gilt insbesondere dann, wenn die Aufgabe der Selbstvergewisserung sogar ihre Grundbegriffe sowie den Zugriff auf die soziale Wirklichkeit einschließt. Die vorliegenden pädagogischen Lektüren zeitgenössischer Romane, unternommen im Rahmen einer Hamburger Tagung, umspielen die Reichweite wissenschaftlicher Diskursformen: Sie erhoffen sich von den "differenzierten Beschreibungen pädagogisch relevanter Sachverhalte und Situationen, wie sie in literarischen Texten zu finden sind", über eine bloße "illustrative Funktion hinaus neue Erkenntnisse", "indem sie Dimensionen und Aspekte der Erziehungswirklichkeit erhellen, die anders nicht oder nur schwer zugänglich zu sein scheinen" (9). Dabei finden, so die Herausgeber in ihrer Einleitung, nicht nur die Gegenstände der Darstellung Beachtung, sondern auch die ästhetischen Dimensionen der literarischen Texte, das Wie des Erzählens.

In welchem Sinn wird hier von einem Gang entlang der Grenzen zwischen Pädagogik und Literatur gesprochen und wie werden "Pädagogik" und "Literatur" gefasst? Norbert Ricken bietet in seinem Beitrag ein weitreichendes Spektrum unterschiedlicher pädagogischer "Zugriffe" auf Literatur an: 1. als eine pädagogischen Nutzung von Literatur, z.B. mit dem Ziel erziehungswissenschaftliche Aussagen zu konkretisieren oder zu veranschaulichen; 2. als ein analytisch dimensionierter Blick auf die Verhandlungsweise pädagogischer Themen in literarischen Texten; 3. als Einübung einer Aufmerksamkeit für aktuelle kulturelle Problemlagen und für gesellschaftliche Bezugshorizonte; 4. als pädagogisch-qualitative Lektüre, wie sie z.B. mit Blick auf Selbstveränderungsprozesse in autobiographischen Schriften erfolgt; 5. als eine Irritation der erziehungswissenschaftlichen 'Konstruktrationalität' durch eine 'Erfahrungsrationalität' (Bokelmann), die literarische Texte bewohnt; 6. als eine Reflexionsform, die – wenn möglich – auch noch "den besonderen Zugriff literarischer Texte selbst reflektiert […] und hinsichtlich seiner Kategorialität wie Konstruktivität eines Ganzen befragt […]" (38). Die Vielfältigkeit und die Verwobenheit dieser unterschiedlichen Zugriffe (welche in den verschiedenen Beiträgen des Bandes aufgefunden werden können) verweisen zunächst auf eine Unbestimmtheit des Literarischen und des Pädagogischen, die in der jeweiligen Lektüre – mehr oder weniger explizit – konfiguriert werden. Ein großer Teil der vorliegenden Beiträge zeichnet sich durch ein Bewusstsein für die Uneindeutigkeit, Widersprüchlichkeit, letztlich für die Begrenztheit des eigenen pädagogisch dimensionierten Zugriffs auf die ausgewählten zeitgenössischen Romane aus. Dass "Grenzgänge" zwischen Pädagogik und Literatur folglich immer auch "begrenzte Gänge" sind, das ist dann auch die leitende These in Andrea Liesners Beitrag und ihrer Lektüre von Doris Lessings "Das fünfte Kind". Das Unternehmen einer pädagogischen Lektüre müsse, so Liesner, die Frage nach den hier versammelten (und in bestimmten sozialen Räumen verorteten) Lesern einschließen, die sich mit ihrer Lektüreauswahl insbesondere bedrückende und existenziell herausfordernde Problemlagen zum Thema gemacht hätten. Des weiteren reklamiert Liesner gemäß ihren Erfahrungen in der universitären Lehre eine Skepsis hinsichtlich der bildenden Bedeutung von literarischen Texten und also hinsichtlich der Möglichkeit, die wirksamen Kategorien der Selbst- und Weltinterpretationen einzuklammern bzw. zu verändern.

Wird von Liesner die spezifische soziale Verortung der Beitragenden als Problem für die unternommenen "Grenzgänge" herausgestellt, so dient die pädagogische Lektüre im Beitrag von Markus Rieger-Ladich gerade dazu, "die eigentümliche Macht der sozialen Schwerkraft" (152) zu verdeutlichen und also ein Gespür für die Faktizität sozialer Räumlichkeit zu entwickeln. Als was erscheint in einer pädagogischen Lektüre die Strukturierung und Verwobenheit der sozialen Wirklichkeit, welche in Schröders Roman "Allgemeine Geschäftsbedingungen" ebenso Thema ist wie die Kontingenz der biographischen Ereignisse? Rieger-Ladich nimmt das Dargestellte umsichtig in ein "Gedankenexperiment" zurück, während er gleichzeitig mit Bourdieus Äußerungen zur komplexen Verschränkung von Feld und Habitus einen kritisch-theoretischen Rahmen an den jüngst bedeutsam gewordenen Begriff der Selbstsozialisation (Zinnecker, Hurrelmann) anlegt.

Der Anflug einer Bewährungsprobe des Erziehungswissenschaftlichen durch die erzählte Geschichte macht misstrauisch: Der Gefahr einer "irgendwie tautologischen Illustration" (Ricken, 37) erziehungswissenschaftlich bedeutsamer Sachverhalte, handelt es sich nun um "Devianz und Delinquenz" (Rieger-Ladich), "relationale Subjektivität" (Ricken), die "Möglichkeit oder Unmöglichkeit von Bildungsprozessen" (Koller) oder das Plädoyer für eine "Gedenkkultur" zu Holocaust und Krieg, die alle übernehmen können (Brumlik), scheint nur dort gebannt, wo eine fortgesetzte Irritation entsteht, die nicht durch einen Rückzug aus den pädagogisch-literarischen Grenzgebieten still gestellt werden kann. Wie gestaltet sich die pädagogische Konturierung der Roman-Lektüre in den anderen Beiträgen und wie gehen die Autoren mit dieser Kontur um?

Im Beitrag Rita Casales ist an dieser Stelle die banale Unverständlichkeit der Geschichte zu nennen, die in ihrer Möglichkeit zu irritieren der historisch dimensionierten Problematisierung des Verhältnisses von Literatur und Pädagogik folgt. In Hans-Rüdiger Müllers Lektüre von Ortheils Essay "Das Element des Elephanten" ist das relationierende Element zwischen Pädagogik und Literatur das "Schreiben als biographische Praktik", d.h. als Praktik, "mit der der Autor sich zu seinem Leben verhält" (63). Die Lektüre ist von der Einsicht geleitet, dass die Verwobenheit von Fiktion und Realität nicht aufzulösen ist, sondern vielmehr die Ambivalenz im Verhältnis von Leben und Sprache als Einheit von Selbstkonstitution und Selbstentzogenheit (in der Aneignung der Sprache, der Bearbeitung eines familiengeschichtlichen Kriegstraumas und in der Subjektkonzeption) zu thematisieren erlaubt. Die Lektüre bleibt mit der Bestimmung im Schreiben (bestimmen, aber auch bestimmt sein) in einer vielsagenden Weise eine Lektüre. Karin Priem lenkt den Blick auf den biographischen Stellenwert von Dingen, genauer von Kleidungsstücken in Paula Fox' Roman "In fremden Kleidern", wobei dieser Stellenwert in seiner thematischen und systematischen Vielschichtigkeit in der Schwebe bleibt: Dinge und Kleidungsstücke in ihrer Erfahrung prägenden Kraft, ihrem Aufforderungscharakter, ihrer Einbettung in symbolische Ordnungen etc.

Edgar Forster und Alfred Schäfer konzentrieren sich in ihrer Lektüre auf die Problematisierung von Wirklichkeit, wie sie Kertesz' "Liquidation" und Kouroumas "Allah muss nicht gerecht sein" bestimmen. Forsters These, "Liquidation" sei ein "Roman über das Fingieren" (109), erlaubt die Unmöglichkeit zu plausibilisieren, sich die Lektüre dieses Romans anzueignen, daraus eine Geschichte zu machen. Während Forster seinen Blick auf die "Risse der Repräsentation" (112) wirft, richtet Schäfer seine Aufmerksamkeit auf den 'leeren' Referenzpunkt in der Realität des Kindersoldaten Birahima: "Wo liegt die eindeutige Trennungslinie, die mögliche Opposition eines intakten Alltags und der Organisation kriegerischer menschenverachtender Strukturen? […] Der Roman Kouroumas verweigert die Antworten auf diese Frage […]." (171) Die Unmöglichkeit, die Wirklichkeit in einer Weise zu identifizieren, die dem Leser erlauben würde, ein bestimmtes Verhältnis zu seiner Lektüre einzunehmen, stellt nach Schäfer das mitleidige Hilfsmotiv in Frage und hebt, so Forster, die Unmöglichkeit eines Sich-Verhaltens zu Auschwitz hervor. Letzteres veranlasst Hans-Christoph Koller in seiner Lektüre ("Roman eines Schicksallosen") dazu, die Frage nach einer Transformation der Selbst- und Weltverhältnisse beim Leser als "Infragestellung eigener Normalitätsvorstellungen" (105) zu formulieren. Werden so die Motive der Irritation, des "Aufbrechen[s]" (106) in den Vordergrund gestellt, dann ergibt sich zugleich die Frage, inwieweit die vorgelegten pädagogisch inspirierten Lektüren tatsächlich auf einen "Erkenntnisgewinn" (9) ausgerichtet sein können. Sind die hier vollzogenen Problematisierungen von Repräsentation nicht vielmehr ein Anlass, den Begriff des Erkennens und damit verbundene pädagogisch dimensionierte Formulierungen, wie z.B. die nach der bildenden Bedeutung von literarischen Texten, zurückzuweisen? Müsste nicht die Annahme eines bildsamen bzw. interessierten lesenden Ich durchkreuzt werden – durch die Unbelehrbarkeit des Ich, durch die ausweglose Platzierung zwischen Vermitteltheit und Unmittelbarkeit der Lektüre etc.?

Die Beiträge dieses Bandes dringen in ihren Differenzen und Gemeinsamkeiten bis zu dieser Bedeutung der "Grenzgänge" vor, d.h. zu Gängen, die sich an einer Grenze bewegen, wo die eigene spezifisch erziehungswissenschaftlich dimensionierte Annäherung sich aufzulösen droht. Die vorgelegten Lektüren, die in ihrer Reichhaltigkeit und Vielseitigkeit vorliegend nur sehr verkürzt in den Blick gebracht werden konnten, scheinen demnach insbesondere dann Reflexionsräume aufzuschließen, wenn man die Grenzen im Lesen und Schreiben literarischer Texte in den Blick zu bringen vermag. Ohne diesen Lektüren einen festen Ort zuschreiben zu können, d.h. ohne aus ihnen ein Argument zu machen, können sie dann doch erziehungswissenschaftliche Diskussionen anstoßen, z.B. jene, wie überhaupt soziale Ungleichheit begrifflich gefasst oder beschrieben werden kann. Aus diesem Grund kann der Band einem breiten Publikum empfohlen werden und mit Nachdruck solchen potentiellen Lesern, die sich mit erziehungs- und bildungsphilosophischen sowie wissenschaftstheoretischen Fragestellungen befassen. Darüber hinaus bleibt eine Fortsetzung pädagogischer Lektüren abzuwarten, welche an ihrer eigenen schwierigen Positionierung weiter arbeitet.
Christiane Thompson (Halle)
Zur Zitierweise der Rezension:
Christiane Thompson: Rezension von: Koller, Hans-Christoph / Rieger-Ladich, Markus (Hg.): Grenzgänge, Pädagogische Lektüren zeitgenössischer Romane. Bielefeld: transcript 2005. In: EWR 5 (2006), Nr. 4 (Veröffentlicht am 27.07.2006), URL: http://klinkhardt.de/ewr/89942286.html