EWR 2 (2003), Nr. 5 (September/Oktober 2003)

Rolf Arnold
Berufsbildung ohne Beruf?
BerufspÀdagogische, bildungspolitische und internationale Perspektiven
Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren 2003
(224 Seiten; ISBN 3-89676-716-X; 18,00 EUR)
Berufsbildung ohne Beruf? Das Konzept "Beruf" – insbesondere in Verbindung mit Bildung – scheint erneut bzw. immer noch einen disziplinĂ€ren KlĂ€rungsbedarf hervorzurufen, bei dem sich neben der Berufs- und WirtschaftspĂ€dagogik insbesondere auch die Soziologie rege beteiligt. Deutliches Zeichen fĂŒr diesen Vergewisserungsbedarf sind diverse SammelbĂ€nde, die in den letzten Jahren bei den bekannten Verlagen zu eben diesem Themenfeld erschienen sind: "Beruf und Berufsbildung. Situation, Reformperspektiven, Gestaltungsmöglichkeiten" (1999), "Aspekte des Berufs in der Moderne" (2001), "Bildung und Beruf. Ausbildung und berufsstruktureller Wandel in der Wissensgesellschaft" (2002)[1]. Und nun also erneut ein Sammelband zum Thema Berufsbildung und Beruf: Vorgelegt von dem Kaiserslauterner Berufs- und ErwachsenenpĂ€dagogen Rolf Arnold umfasst der Band auf 224 Seiten insgesamt 11, vorwiegend von Berufs- und WirtschaftspĂ€dagog/innen verfasste BeitrĂ€ge.

Antriebsfeder dieser Auseinandersetzungen mit dem Berufskonzept in verschiedenen SammelbĂ€nden ist in erster Linie der sogenannte technische und ökonomische Wandel, der wie jĂŒngst der Hurrikan Isabel an der OstkĂŒste der USA, unaufhaltsam auf das "sichere Festland" von Erwerbsarbeit, Beruf und Biographie zuzuhalten scheint und alles mit sich zu reißen droht. Ähnlich wie in den anderen erwĂ€hnten Publikationen findet sich denn auch in Arnolds Einleitung die Feststellung: "WĂ€hrend fĂŒr beide erziehungswissenschaftliche Disziplinen [Berufs- und WirtschaftspĂ€dagogik, K.K.] ĂŒber viele Jahrzehnte lang der ‚Beruf‘ eine der Leitkategorien ihrer BemĂŒhungen um Deskription, Analyse sowie Prognose der Qualifikations- und Kompetenzentwicklung in den modernen Gesellschaften war, haben die VerĂ€nderungen an den ArbeitsplĂ€tzen sowie die zunehmenden DiskontinuitĂ€ten in den Erwerbsbiographien die GĂŒltigkeit gerade dieser Kategorie immer mehr in Frage gestellt. Die Rede ist heute von einer ‚Erosion‘ oder gar vom ‚Ende des BerufesÂŽ, da die Menschen in den modernen Gesellschaften sich zwar heute nach wie vor fĂŒr Berufe entscheiden, diese ihnen aber kaum noch eine lebenslange Sicherheit und Perspektive gewĂ€hrleisten vermögen." (2)

Deutlich wird in diesem Zitat – wie auch in den verschiedenen BeitrĂ€gen des Sammelbandes – dass der Beruf im Mittelpunkt eines Bezugsgeflechts aus pĂ€dagogischen BemĂŒhungen (Disziplin und berufspĂ€dagogische Praxis), ökonomischen Strukturen (als Ausbildungsinstanz und Abnehmer beruflicher Qualifikationen) und Individuen (als Auszubildende aber auch als Erwachsene, die ihre IdentitĂ€t unter anderem auf berufliche AbschlĂŒsse stĂŒtzen) steht. Der Staat wirkt mit seinen bildungspolitischen AktivitĂ€ten vermittelnd und gestaltend innerhalb dieses Feldes. Dieser Stellung des Berufs zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen und Akteuren – zumeist in verbindender Form – tragen die BeitrĂ€ge des Sammelbandes in unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen Rechnung.

Arnold und Lisop gehen in ihren Artikeln auf die Geschlechterperspektive innerhalb des Berufskonzepts ein. Arnold stellt dabei eine mÀnnliche Dominanz im Konzept selbst heraus, wÀhrend Lisop stÀrker auf die mÀnnlich geprÀgte disziplinÀre BeschÀftigung mit dem Beruf hinweist.

Gonon beschĂ€ftigt sich in seinem Beitrag mit dem Schnittfeld zwischen PĂ€dagogik und Ökonomie und weist ergĂ€nzend zu dem hĂ€ufig beklagten "ökonomischen Imperialismus" auf den kaum beachteten "Imperialismus der PĂ€dagogik" hin, der sich beispielsweise historisch in der Eingliederung der Berufsbildung in das (berufliche) Bildungssystem gezeigt habe. Die ExpansionsbemĂŒhungen der PĂ€dagogik beschreibt er als "ReQuIEM-Programm": "Öffentlich diskutierte Problemlagen werden als pĂ€dagogische Fragen reformuliert" (57). Dieser Reformulierung folgen dann: Qualifizierung, Institutionalisierung, Endogenisierung und Moralisierung. Auch Arnold und von Hauf verweisen in ihrem gemeinsamen Beitrag auf die Zwischenstellung der beruflichen Bildung zwischen BildungsbemĂŒhungen einerseits und wirtschaftlicher Entwicklung andererseits, wobei ihre Blickrichtung insbesondere die Frage der Wirtschaftsförderung durch Investition in Humankapital ist. Das VerhĂ€ltnis beider könne nicht "eindimensional" betrachtet werden, vielmehr fördere sowohl Bildung Wirtschaftsentwicklung als auch umgekehrt: "‚Bildung‘ ist deshalb nicht nur Voraussetzung von Wirtschaftsentwicklung, sondern auch deren Folge" (209) – und beides wiederum mĂŒsse im historischen und infrastrukturellen Kontext gesehen werden.

Diese Forderung zur Kontextualisierung der jeweiligen Entwicklung im berufspĂ€dagogischen Feld untersteichen neben den anderen internationalen bzw. vergleichenden BeitrĂ€gen (MĂŒnch, Deissinger und Eswein) auch diejenigen, die sich mit alternativen Konzepten beschĂ€ftigen und dabei in andere LĂ€nder blicken: Ertl und Sloane stellen in ihrer Auseinandersetzung mit der Modularisierung neben Großbritannien und Schottland auch die Konzepte der in dieser Diskussion weniger bekannten LĂ€nder Frankreich, Spanien und Niederlande vor. In einem sehr lesenswerten Beitrag setzt sich Clement mit dem Ansatz der kompetenzbasierten Berufsbildungsstrategien auseinander und bindet nach einer ausfĂŒhrlichen Darstellung des Konzeptes inklusive einiger LĂ€nderbeispiele diese Debatte auch an die Reformdiskussion zum Berufskonzept zurĂŒck. Insbesondere im Lichte der Akzeptanzprobleme und der offenen Frage bezĂŒglich der Curriculumgestaltung, die die kompetenzbasierten Systeme aufweisen, spricht sie sich fĂŒr eine sorgfĂ€ltig abgewogene Reformstrategie bezĂŒglich des Berufskonzeptes aus: "Eine kritische Betrachtung internationaler Erfahrungen mit situations- und arbeitsorientierten Curriculumskonzepten macht einen reflektierten Umgang mit deren Errungenschaften und Problematiken möglich, der die deutsche Berufbildungspolitik sicherlich angemessener zu unterstĂŒtzen vermag als die unkritische Übernahme mehr oder minder zufĂ€lliger Einzelkomponenten." (153).

Wittwer stellt das SpannungsverhĂ€ltnis von individueller Biographie und Beruf ins Zentrum seiner Überlegungen und kommt zum Fazit einer Umkehrung in dem Sinne, dass nicht mehr der Beruf die Biographie vorherbestimme, sondern vielmehr der Beruf zu einer Ressource fĂŒr die individuelle Gestaltung der Biographie geworden sei. ErgĂ€nzend hierzu kann der Beitrag von Eswein ĂŒber Beruflichkeit in Japan gelesen werden. Eswein hebt insbesondere die im Vergleich zu den beruflich geprĂ€gten Systemen starke Stellung betrieblicher Arbeitsteilungsprozesse fĂŒr die konkrete "Beruflichkeit" in Japan hervor. Damit ist in Japan traditionell weniger der auf der gesellschaftlichen Ebene eine Arbeitsteilung reprĂ€sentierende Beruf eine Quelle der Biographie als vielmehr die konkrete Arbeitsteilung in einem Betrieb. Sie nennt dies den "ausgeĂŒbten Beruf(), also d(ie) Anforderungen des Arbeitsplatzes" (190). Ähnlich wie beim Berufskonzept verweist aber auch Eswein auf VerĂ€nderungs- wie Beharrungstendenzen dieses traditionellen Berufskonzeptes im Zuge der jĂŒngsten ökonomischen und gesellschaftlichen Entwicklungen.

Auch wenn Wittwer den Beruf als "virtuell" und Lisop ihn als "surreal" bezeichnet, wird doch eines in den BeitrĂ€gen immer wieder deutlich: Ein Konzept beruflicher Qualifizierung – unabhĂ€ngig davon, wie es im Konkreten aussieht – kann nicht funktionieren, ohne eine breite Akzeptanz und zwar sowohl von Seiten derjenigen, die berufliche AbschlĂŒsse erwerben, als auch von Seiten derjenigen, die den mit diesen AbschlĂŒssen erworbenen "Tauschwert" in Form von Einstellungen und Jobs einlösen sollen. Insofern ist zwar einerseits die Rolle bildungspolitischer (und pĂ€dagogischer) Entscheidungen wesentlich fĂŒr die Gestaltung beruflicher Bildungssysteme, aber diese können nur dann erfolgreich sein, wenn sie auf die Akzeptanz der anderen Akteure stoßen. Die Rolle historisch gewachsener Formen von Qualifizierung wird somit erneut als wichtiges und zu beachtendes Element in den Reformbestrebungen der beruflichen Qualifizierung deutlich.

In diesem Zusammenhang ist das Fehlen eines Bezuges auf den europĂ€ischen "Copenhagen-Prozess", der fĂŒr die berufliche Bildung in den EU-LĂ€ndern eine umfassende und reale Reformperspektive darstellt, besonders bedauerlich. Denn was bereits seit lĂ€ngerem unter dem Schlagwort "Bologna-Prozess" fĂŒr die Hochschulbildung betrieben wird – europaweit einheitliche HochschulabschlĂŒsse und Credit-Point-Systeme bis 2010 einzufĂŒhren um einen gemeinsamen Hochschulraum zu schaffen – hat zu einer der umfassendsten Reformen der hochschulgesetzlichen Grundlagen in Deutschland gefĂŒhrt. Unter dem Titel "Copenhagen-Prozess", der zunĂ€chst als "BrĂŒgge-Prozess" bekannt geworden ist, steht Ähnliches auch fĂŒr die berufliche Bildung in Europa auf der Agenda der EU. Durch eine solche Entwicklung dĂŒrfte der Beruf und die auf ihm aufbauende duale Berufsausbildung in Deutschland stĂ€rker in Frage gestellt werden als durch die ökonomischen und technischen Wandlungstendenzen der (Post-)Industriegesellschaften. Gerade in einem Sammelband, der im Untertitel sowohl bildungspolitische als auch internationale Perspektiven fĂŒr sich reklamiert, fĂ€llt dieses Manko besonders ins Gewicht. Die Wichtigkeit von politischen Entscheidungen fĂŒr die langfristige Entwicklung von Berufsbildungssystemen wird im vorliegenden Band selbst beispielsweise von Deissinger hervorgehoben, wenn er die stĂ€rkere Rolle der "Apprenticeships" in Australien im Vergleich zu Großbritannien auf historische bildungspolitische Entscheidungen in beiden LĂ€ndern zurĂŒckfĂŒhrt.

Die BĂŒndelung der verschiedenen BeitrĂ€ge eines Sammelbandes zu thematischen Unterkapitel ist grundsĂ€tzlich sinnvoll und begrĂŒĂŸenswert. Allerdings ist im vorliegenden Fall die Zuordnung der einzelnen BeitrĂ€ge zu den drei Unterkapiteln Konzeptionelles, Alternativen und Internationales nicht immer nachvollziehbar und wirft beispielsweise folgende Fragen auf: Warum ist der Artikel von Ingrid Lisop: "Beruf – Ende des Berufes – Neue Beruflichkeit: ein unendlicher (mĂ€nnlicher) Diskurs?" bei den konzeptionellen BeitrĂ€gen angesiedelt und nicht bei den Alternativen, spricht sich doch Lisop so klar wie kein/e andere/r Autor/in fĂŒr eine Alternative zum Berufskonzept, nĂ€mlich dem der ProfessionalitĂ€t, aus? Oder warum wurden die AusĂ€tze von Greinert und Ertl/Sloane den Unterkapiteln Konzeptionelles bzw. Alternativen zugeordnet, obwohl sie sich schwerpunktmĂ€ĂŸig der Vergleichsdimension widmen? Und auch: Warum sind die Artikel von Gonon (Konzeptionelles) sowie Arnold/von Hauf (Internationales) nicht in einem eigenen, einleitenden Unterkapitel untergebracht? Denn sie fallen insofern aus dem Rahmen, als sie sich eher mit einer generellen Auslotung des Feldes zwischen Ökonomie und PĂ€dagogik, in dem grundsĂ€tzlich ja auch der Beruf anzusiedeln ist, beschĂ€ftigen und könnten somit gut in das Themenfeld einleiten. Durch ihre Platzierung in den beiden Teilkapiteln Konzeptionelles bzw. Internationales erwartet man allerdings eher eine explizitere Bezugnahme auf das Berufskonzept.

Ein Aspekt bleibt noch abschließend hervorzuheben, der fĂŒr den selektiven Leser einzelner BeitrĂ€ge vorteilhaft, fĂŒr die Leserin des gesamten Bandes jedoch etwas redundant ist: Einige Aspekte werden wiederholt in verschiedenen BeitrĂ€gen explizit erlĂ€utert, z.B. die kompetenzbasierten Systeme in der beruflichen Bildung in Großbritannien (National Vocational Qualifications, NVQ) und Schottland (Scottish Vocational Qualifications, SVQ) (Ertl/Sloane, Clement, Deißinger) oder die Berufsbildungssysteme in Japan (Greinert, MĂŒnch, Eswein) wie in Australien (Clement, Deißinger). Manche Wiederholungen sind aufgrund der jeweiligen Schwerpunktsetzungen der einzelnen Autor/innen unvermeidbar, andere hĂ€tten aber durch interne Verweise auf andere BeitrĂ€ge des Sammelbandes durchaus vermieden werden können.

Insgesamt hÀtte eine stÀrkere Fokussierung auf die im Titel genannte zentrale Frage "Berufsbildung ohne Beruf?" dem Sammelband gut getan. Da die Auseinandersetzung mit dem Berufskonzept so neu nicht ist, hÀtte diese klarere thematische Zuspitzung den Neuigkeitswert des Buches insgesamt erhöht.

[1] Harney, Klaus / Tenorth Heinz–Elmar (Hg.): "Beruf und Berufsbildung. Situation, Reformperspektiven, Gestaltungsmöglichkeiten", 40. Beiheft der Zeitschrift fĂŒr PĂ€dagogik. Weinheim 1999; Kurtz, Thomas (Hg.) "Aspekte des Berufs in der Moderne", Opladen: Leske und Budrich 2001; Wingens, Matthias / Sackmann, Rainhold (Hg.): "Bildung und Beruf. Ausbildung und berufsstruktureller Wandel in der Wissensgesellschaft", Weinheim und MĂŒnchen: Juventa 2002.
Katrin Kraus (Trier)
Zur Zitierweise der Rezension:
Katrin Kraus: Rezension von: Arnold, Rolf: Berufsbildung ohne Beruf?, BerufspĂ€dagogische, bildungspolitische und internationale Perspektiven, Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren 2003. In: EWR 2 (2003), Nr. 5 (Veröffentlicht am 01.10.2003), URL: http://klinkhardt.de/ewr/89676716.html