EWR 6 (2007), Nr. 5 (September/Oktober 2007)

Andreas Gruschka (Hrsg.)
Fotografische Erkundungen zur Pädagogik
Wetzlar: BĂĽchse der Pandora 2005
(224 S.; ISBN 3-88178-166-8; 24,00 EUR)
Fotografische Erkundungen zur Pädagogik Unter den neueren Veröffentlichungen zum Thema „Fotografie und Pädagogik“ ist der vorliegende Band „Fotografische Erkundungen zur Pädagogik“ in besonderer Weise hervorzuheben. Weder handelt es sich um einen wissenschaftlichen Sammelband wie das von Yvonne Ehrenspeck und Burkhard Schäffer herausgegebene Handbuch „Film- und Fotoanalyse in der Erziehungswissenschaft“ (2003) noch um eine Monografie wie „Das reflektierte Bild. Die seriell-ikonografische Fotoanalyse in den Erziehungs- und Sozialwissenschaften“ von Ulrike Pilarczyk und Ulrike Mietzner (2005). Vielmehr ist der 2005 veröffentlichte Band die Dokumentation eines Lehr- und Forschungsprojektes, das über mehrere Jahre hinweg von dem Hochschullehrer und Initiator Andreas Gruschka und Studierenden seines Seminars intensiv verfolgt wurde: „Über drei Jahre hinweg hat eine Gruppe von Pädagogikstudenten durch die möglichst bewusste Produktion von fotografischen Sinnbildern und deren Interpretation die Gegenwart von Kindheit und Jugend, das pädagogische Verhältnis zwischen Kindern und Eltern/Großeltern sowie das von Schülern und Lehrern erforscht. Dabei sind lehrreiche Bilder und Kommentare entstanden, die sowohl die gegenwärtige Krise der Erziehung und Bildung in subtiler Weise widerspiegeln als auch - gegen den kulturkritischen Generalverdacht - die überraschend intakte Eigenständigkeit der Lebensphase Kindheit und Jugend.“

Der Band ist folgendermaßen aufgebaut: Im ersten Kapitel führt Andreas Gruschka in das Bilderprojekt ein, indem er Beweggründe, sachliche Voraussetzungen und den Arbeitsprozess darstellt. In den folgenden Kapiteln findet man unterschiedliche Fotoanalysen der Studierenden. So widmet sich Moritz Jörgens im zweiten Kapitel Fotokünstlerinnen als Vorbildern, von denen man lernen kann. Das dritte und größte Kapitel „Fotografische Erkundungen“ ist in sechs Gruppen (A-F) gegliedert: Fotografien von Pädagogen, Paargruppen, Heranwachsende in pädagogischen Institutionen, Portraits von Kindern, Fotografien von Kindern und Jugendlichen in ihrer Freizeit, Selbstdarstellungen von Jugendlichen. Im vierten und letzten Kapitel „Reflexionen zur Evaluation des Projekts“ erhält man durch ein Gespräch von Vanessa Walther mit Andreas Gruschka Einblicke in Auffassungen der Studierenden, wobei auch Schwierigkeiten nicht verschwiegen werden, die im Laufe des Projekts entstanden sind.

Ziel des Projektes war es, „Sinnbilder für pädagogische Situationen, in denen die Identität der Kinder, Jugendlichen oder auch ihrer Erzieher und Lehrer wichtig wird, herzustellen“ (15) bzw. zu untersuchen, „wie angehende Pädagogen ihre Praxis mit Hilfe von Bildzeugnissen im Medium der Fotografie erkunden können“. Dabei ging es zuerst um das Herstellen, Sammeln und Ordnen von Fotografien, dann um die Deutung und schriftliche Zusammenfassung des Gesehenen und schließlich im Anschluss an das Buchprojekt um eine Ausstellung der Fotografien.

Zahlreiche Studierende haben sich an diesem Projekt beteiligt. Insbesondere diejenigen, die an dem Buch und der schriftlichen Fixierung der Interpretationen mitgewirkt haben, haben einen Prozess forschenden Lernens durchgemacht und sich in pädagogischer Bildinterpretation geübt. Pädagogisch sind die Bildinterpretationen zu nennen, weil sie zum einen um pädagogische Themen kreisen, zum anderen, da sie uns zwingen, neu, anders, genauer über Kindheit und Jugend, bzw. Kinder und Jugendliche, die Klientel der Pädagogik nachzudenken. Sie schärfen und intensivieren unsere Wahrnehmung.

In der derzeitigen ubiquitären Rede über Erziehung, über Kinder und Jugendliche und Generationenverhältnisse, geraten Kinder, wie sie „eigentlich“ sind, häufig aus dem Blick. Vielfach redet man über sie, ohne sie selbst eingehend zu betrachten. Hierbei kann die Fotografie ein sehr hilfreiches Medium sein, das uns erlaubt, ruhig und konzentriert Bilder auszulegen, bei ihnen zu verweilen. „Die Methode des Projektes lebte ja davon, dass wir uns nicht Filme angeguckt haben, in denen sich das Geschehen rasend schnell abspult, sondern dass wir uns ganz viel Zeit nehmen, eine im Bild eingefrorene Situation, einen Augenblick, uns möglichst genau anzuschauen“ (215). Die Studierenden spüren ausgehend von den Fotografien, die Kinder zeigen, dem nach, was Kindheit heute bedeutet. Dabei zeigen sie u. a. wie unterschiedlich Kinder und Jugendliche sein können und dass sie keinesfalls auf einen Nenner zu bringen sind. Die Fotos gewähren Einblicke in Kinderwelten, Orte und Räume der Erziehung. Die präzisen Analysen stellen somit auch einen wichtigen Beitrag zur Kindheits- und Jugendforschung dar. Dass Bilder und Fotos nicht alles zeigen, sondern auch verhüllen und verstecken können, bzw. eine heile Welt vorspiegeln können, wird im dritten Kapitel durch die sehr gelungenen Analysen von Familienfotografien deutlich.

Die Fotografien von Kindern, Paargruppen, Jugendlichen, Erziehern, Lehrerinnen werden sehr genau, vorsichtig, ja beinahe behutsam interpretiert. Die Fotos werden als ernstzunehmende Dokumente behandelt, die gelesen werden müssen. Die genauen Beschreibungen regen an, fordern die Betrachter und Leserinnen und Leser auf, genauer hinzusehen und interessante Details auf den Bildern zu entdecken bzw. dem detektivischen Blick der Studierenden zu folgen. Dabei zeigen die Analysen, dass man aus den Fotografien viel mehr „herausholen“ kann, als sie auf den ersten Blick vermuten lassen. Entstanden ist ein Panorama pädagogisch relevanter Szenen und Situationen. Die „Lektüren“ dieser Bilder sind daher für angehende Pädagogen ebenso interessant wie für alle, die sich bereits mitten im praktischen Umgang mit der nachwachsenden Generation befinden. Die Interpretationen der Studierenden lassen uns vor- und zurückblättern und die abgebildeten Fotografien genau betrachten. Dabei wird auch bei den Lesern ein selbstreflexiver Prozess in Gang gesetzt, der zu eigenen, teils anderen Deutungen führt.

Das Buch, das ohne Fußnoten und auch ohne Literaturverzeichnis am Ende auskommt, wird durch ein überraschendes und sehr aufschlussreiches Interview abgerundet, das eine Reflexion über die gesamte Veranstaltung bildet. Kritisch anmerken lässt sich allenfalls, dass bei manchen Analysen offenbar Kontext- bzw. Hintergrundwissen der Studierenden eine Rolle gespielt hat, dies jedoch nicht explizit thematisiert wird. Auch werden Methoden der Bildinterpretation zwar vom Herausgeber in seiner Einleitung erwähnt, jedoch nicht ausführlich diskutiert, es geht sozusagen gleich in medias res.

Dem Band sind viele Leserinnen und Leser zu wünschen, aber auch vor allem viele weitere Nachfolge-Projekte, die in solch intensiver Weise gleich zwei Bildungsbewegungen bzw. Blickerweiterungen auszulösen vermögen: Bei den Studierenden selbst, die entweder durch die Produktion oder das Auslegen von Bildern ästhetische Erfahrungen machen konnten und bei den Leserinnen und Lesern, die durch die Lektüre dieses Buches und das Betrachten der Fotografien zum Nachvollziehen dieser Erfahrungen und Nachdenken über pädagogische Generationenbeziehungen angeregt werden. Insgesamt: Ein gelungenes und innovatives Beispiel von Teamwork. Besonders lobenswert ist, dass Studierende hier bereits in einer frühen Phase ihres Studiums an einem Forschungsvorhaben beteiligt bzw. zu Mitautoren eines Buches werden, was im landläufigen Universitätsbetrieb eher selten vorkommt.
Irit Wyrobnik (Frankfurt a.M.)
Zur Zitierweise der Rezension:
Irit Wyrobnik: Rezension von: Gruschka, Andreas (Hg.): Fotografische Erkundungen zur Pädagogik. Wetzlar: BĂĽchse der Pandora 2005. In: EWR 6 (2007), Nr. 5 (Veröffentlicht am 04.10.2007), URL: http://klinkhardt.de/ewr/88178166.html