EWR 4 (2005), Nr. 4 (Juli/August 2005)

Thomas von Freyberg / Angelika Wolff (Hrsg.)
Störer und Gestörte
Band 1: Konfliktgeschichten nicht beschulbarer Jugendlicher
Frankfurt a.M.: Brandes & Apsel 2005
(317 S.; ISBN 3-86099-813-7; 24,90 EUR)
Störer und Gestörte Störer und Gestörte – der Titel ist erfrischend uneindeutig: Wer sind die Störer und die Gestörten? Sind die Störer auch die Gestörten? Sind die Störer gestört? Diese Mehrdeutigkeit verweist bereits auf den methodischen Zugang, den die vorliegende Studie wählt: einen vorwiegend psychoanalytischen.

Das Frankfurter Institut für Sozialforschung hat in Kooperation mit dem Institut für analytische Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapie (ebenfalls Frankfurt a. M.) eine Studie vorgelegt, die mit soziologischen und psychoanalytischen Erkenntnisinstrumenten Konfliktgeschichten nicht beschulbarer Jugendlicher rekonstruiert. Der erste jetzt vorliegende Band dokumentiert vier von insgesamt sieben Fallgeschichten inkl. einer Einführung in die Methode psychoanalytischen Fallverstehens.

Das DFG-geförderte Forschungsprojekt hat es sich zur Aufgabe gemacht, zwei Perspektiven, nämlich die einer soziologischen Rekonstruktion des institutionellen Umgangs mit dem jeweiligen Fall und eine psychoanalytische Perspektive auf den betroffenen Schüler zu erarbeiten, um diese dann in interdisziplinären Falldiskussionen miteinander zu konfrontieren. Der Fokus der Betrachtung liegt dabei auf dem institutionellen und individuellen Umgang mit ‚Konflikten’, denn, so die Forschungshypothese, die Wahrnehmung einer eskalierenden Konfliktgeschichte ist die Grundlage einer abschließenden Feststellung von ‚Nichtbeschulbarkeit’ (13). Und schulische Konfliktgeschichten, so ein Untersuchungsbefund, sind eingelassen in das Spannungsfeld des Gebots des ‚Nichtversagens’ einerseits und Schuldzuweisungen andererseits: „Die Jugendlichen unserer Untersuchung scheitern nicht einfach, weil sie den Anforderungen der Regelschule nicht gewachsen sind. Sie scheitern erfolgreich, aktiv, als bemühten sie sich geradezu ums Scheitern. Sie scheinen nicht unter ihrem Versagen zu leiden, keine Angst vor dem Scheitern zu haben. Sie sind vielleicht die einzigen überhaupt in der Schule, die sich frei von dieser Angst wähnen. Jenes 1. schulische Gebot ‚Du darfst nicht scheitern!’ hat für sie und über sie keine Macht. Schule und Lehrer aber sind genau darauf angewiesen: auf die Angst vor dem Versagen und vor dem Scheitern“ (16).

Die Lektüre dieses Buches ist insofern auch spannend, weil sich die Fälle erst langsam durch die unterschiedlichen Zugänge entfalten (wobei die Dichte der gewonnenem Daten variiert). Den soziologischen Erhebungen (an dieser Stelle sei allerdings angemerkt, dass es sich hier weitgehend um die Sammlung von Rohdaten aus Schulakten und aus Interviews mit LehrerInnen und/oder SozialarbeiterInnen handelt und nicht etwa um professionstheoretisch begründete Analysen pädagogischen Handelns) wird die biographische Perspektive der betroffenen Jugendlichen schließlich beigestellt, die durch psychoanalytisch geschulte Interviewer gewonnen und interpretiert wird. Befragt wurden die Jugendlichen selbst und wenn möglich, auch die Erziehungsberechtigten. Diese Interviews gewinnen an Brisanz, weil hier soziale Welten aufeinander treffen, die sich vorher kaum berührten: Hier die eloquenten Psychoanalytiker, dort die einsilbigen Jugendlichen, die ungeübt sind in biographischer Selbstschau. Das z.T. karge Material gewinnt dann in den Deutungsversuchen der Fallkonferenzen an zunehmender Dynamik.

Dieses Vorgehen ist in dieser Gründlichkeit sicherlich bislang einmalig (auch wenn LeserInnen, die dieser Form des hermeneutischen Fallverstehens kritisch gegenüber stehen, die Interpretationsversuche zuweilen vielleicht als überschüssig und z.T. redundant betrachten werden).

Im Ergebnis kommt die vorliegende Untersuchung zu dem Fazit, dass in keinem der dargestellten Fälle eine grundlegende Erörterung des Problems stattgefunden hat: Schulen reagieren mit weitgehend unkoordinierten Hilfemaßnahmen („viel zu viel – und nie genug“), die vorübergehend auch das Problem ‚still’ stellen können, um dann bei weiteren Konflikten schließlich Ordnungsmaßnahmen steigernder Güte einzuleiten. Darüber hinaus wird die Schuldfrage weitgehend den Eltern angelastet, ohne – soweit die Untersuchung – dass erkennbar die eigenen professionellen Interventionsstrategien ausreichend geprüft wurden. Dies wird vom Forscherteam als fehlende institutionelle Verantwortung interpretiert. Dieses Phänomen institutioneller Verantwortungslosigkeit wird vor allem daran illustriert, dass die Schule für die eigenen institutionellen Übergänge (vom Kindergarten in die Grundschule, von einer Klasse in die andere, von der Schule zur Sozialarbeit, von der Grundschule zur weiterführenden Schule) keine begleitenden Strukturen vorhält und dies auch gar nicht in ihren Kompetenzbereich rechnet. Insofern entstehen auch keine kontinuierlich begleitenden Hilfen – eher im Gegenteil befreit die Suggestion des jeweiligen Neuanfangs von der Sorgfalt, die bisherige Lerngeschichte des Schülers und pädagogische Präventions- und Interventionsmaßnahmen zur Kenntnis zu nehmen. Schule, so der Vorwurf, begreife sich nach wie vor als Selektionsinstanz und nicht als Institution, die den gesetzlichen Bildungsanspruch eines jeden zu realisieren habe (314f.).

Auf der anderen Seite ergänzt dieses Bild der biographische Blick auf die interviewten SchülerInnen, die höchst vielfältige Problemlagen mitbringen, zu denen sie offenbar selbst keinen Zugang und wenig Lösungskompetenzen finden können. Obwohl sie institutionelle Ordnungsmaßnahmen als wenig beängstigend einschätzen, werden die individuellen Folgen des Schulausschlusses in den Interviews beeindruckend deutlich: Die Suche nach Kontakt, nach Einbindung und nach Anerkennung ist in allen Fällen allzu sichtbar und sucht sich nun neue Wege in Kleinkriminalität, Selbstdestruktion, Aggression oder Depression.

Fragt man sich, wer die Adressaten dieser Studie sind, deutet sich dies v.a. in der These der ‚strukturellen Verantwortungslosigkeit‘ der Professionellen an. Diesen wird geraten, interdisziplinäre und reflexionsbasierte Arbeitsformen einzurichten, um die latenten Konfliktstrukturen solcher Störungsprozesse aufdecken zu können.

Der vorliegende Forschungsbericht ist eine äußerst anregende Lektüre für all diejenigen, die die Thematik schulischer Konflikte genauer erörtern möchten. Dass hierbei eine vorwiegend psychoanalytische Perspektive gewählt wurde (von der auch die sog. ‚soziologische Perspektive’ nicht frei ist), ist für die Rekonstruktion der Konfliktgeschichten sehr erhellend, denn biographische Einblicke in Verhaltensauffälligkeiten und ihre institutionelle Einbindung können in der Tat sorgfältig Auskunft geben über erforderliche pädagogische, aber auch therapeutische Hilfen.

Vera Moser (Gießen)
Zur Zitierweise der Rezension:
Vera Moser: Rezension von: Freyberg, Thomas von / Wolff, Angelika (Hg.): Störer und Gestörte, Band 1, Frankfurt am Main: Brandes & Apsel 2005. In: EWR 4 (2005), Nr. 4 (Veröffentlicht am 10.08.2005), URL: http://klinkhardt.de/ewr/86099813.html