EWR 1 (2002), Nr. 5 (Oktober - Dezember 2002)

Uta Dietze-Münnich
Pädagogische Führung und Erziehung – Selbsttätigkeit und Selbsterziehung
Zur Diskussion pädagogischer Grundkategorien, insbesondere in der Pädagogik der DDR
Berlin: Kovac 2002
(527 Seiten; ISBN 3-8300-0615-2; 128,00 DM)
Das Buch ist neben Abkürzungs- und Literaturverzeichnis und einem Anhang von 100 Seiten, in dem Interviewauszüge versammelt sind, in vier Kapitel von sehr unterschiedlicher Länge geteilt. Das erste Kapitel stellt "Gegenstand und Methode" vor, im zweiten wird das "Spannungsverhältnis von Erziehung und Selbsterziehung im 20 Jh." diskutiert. Das dritte Kapitel, das sich in vier Teile gliedert, nimmt mit ca. 200 Seiten den größten Raum der Arbeit ein. Hier soll die "Reflexion über Selbsterziehung und das Verhältnis von Erziehung und Selbsterziehung in der pädagogischen Diskussion der DDR der 70er und 80er Jahre" geleistet werden.

Der erste Teil des zweiten Kapitels verspricht, das "Spannungsverhältnis von Erziehung und Selbsterziehung im 20. Jahrhundert" an ausgewählten erziehungstheoretischen Positionen zu beleuchten. Dort stehen für die "reformpädagogische Bewegung ‚Vom Kinde aus’ E. Key – L. Gurlitt – J. Gläser", für den "Führerglauben in der Jugendbewegung: G. Wyneken – H. Blüher", für die "Kritik am Individualismus: F. W. Foerster – F. Gogarten", für "Freiheit und Glück des Kindes als pädagogische Leitideen: A. S. Neill", für die "Dialektik von Führen und Wachsenlassen: T. Litt", für die sowjetische Pädagogik: "N. K. Krupskaja – A. S. Makarenko – W. Suchomlinski" und vielleicht am unkonventionellsten für "Führung und Selbsterziehung, Individuum und Gemeinschaft im Nationalsozialismus: A. Hitler – E. Krieck". Eine Kritik, die fragte, warum einige - nicht weniger illustre – Namen, wie z. B. Herman Lietz oder andere, auf dieser Liste nicht verzeichnet sind, scheint müßig. Allenfalls die Nennung Adolf Hitlers in der Reihe der pädagogischen Ahnen scheint etwas befremdlich, verspricht aber durchaus eine reizvolle und aufschlussreiche, weil unkonventionelle Untersuchung, ein Versprechen, das leider nicht eingelöst wird. Die Lektüre von Nachschlagewerken hätte das Kapitel erübrigt. In einem zweiten Teil werden drei "ausgewählte Diskussionen und Denkansätze in Westdeutschland seit den 60er Jahren" vorgestellt. Die der "antiautoritären Erziehungsbewegung", die des Bonner Forums "Mut zur Erziehung" und schließlich die Position Andreas Flitners. Diese Auswahl wirkt allerdings reichlich eklektisch.

Da die Darstellung der Positionen nicht das Hauptanliegen des Buches ist, mag man die Mediokrität der Darstellung akzeptieren, wenn deutlich würde, wozu dieser Exkurs durch die Theoriegeschichte notwendig ist. Dies ist aber nicht der Fall, denn Bezüge zur eigenen Position der Autorin werden nicht gezogen. Die "theoretische Grundposition dieser Arbeit" wird vielmehr als "Erziehung zwischen Führen und Wachsenlassen, Binden und Befreien, Autorität und Freiheit" mit Bezug auf Litt, Benner und Geißler erläutert. Da die geneigte LeserIn sich noch daran erinnert, dass es in dem Buch um die Diskussion insbesondere in der Pädagogik der DDR gehen sollte, wird nun deutlich, dass die Autorin die Bedeutung der Selbsttätigkeit in der ostdeutschen Pädagogik meint analysieren zu sollen, ohne zur Bildung ihrer analytischen Instrumentariums die ostdeutsche Diskussion zu dieser Frage zur Kenntnis zu nehmen. Es geht der Autorin also um eine externe Kritik. Der Analysebegriff wird bewusst außerhalb und in Absehung von dem Analyseobjekt gewählt, um ihn durch größtmögliche Distanz in größtmöglicher Klarheit porträtieren zu können.

Das korrespondiert der Einstellung der Autorin, dass "zeitliche und auch persönliche Distanz ... optimale Voraussetzungen für eine sachliche Auseinandersetzung mit Phänomenen der DDR-Geschichte wie der Transformation nach dem gesellschaftlichen Umbruch dar(stellen)." (11) Obgleich dieses Argument mit großer Selbstverständlichkeit vorgetragen wird, ist dieses Vorgehen keineswegs unumstritten. Am heftigsten wurde dieser Streit wohl um die Arbeiten des Kirchenhistorikers Gerhard Besier geführt, der mit zahlreichen großvolumigen und materialreichen Veröffentlichung zur Kirchengeschichte der DDR hervortrat und gerade in seiner Distanz und Unkenntnis der Situation in der DDR die Garantie der Objektivität seiner Bewertung der Quellen sah. Dies ist nicht unwidersprochen geblieben. Die Kenntnis dieser Diskussion hätte der Autorin vielleicht eine allzu naiv erscheinende Forschungsperspektive erspart. Der folgende Satz jedoch lässt grundsätzlich fragen ob sich die Autorin der Perspektivengebundenheit jedes, auch des wissenschaftlichen Fragens, überhaupt bewusst ist: "Der Blick zurück macht nunmehr aus heutiger Perspektive eine weitgehend vorurteilsfreie Annäherung an Strukturen und Zusammenhänge im gesellschaftlichen Kontext der DDR möglich […]" (11) Einer besonderen hermeneutischen Reflexion machen sich diese Aussagen nicht verdächtig. Den positivistischen Optimismus der Welterkennbarkeit teilt diese Arbeit freilich mit anderen Werken und er ist hier lediglich zu konstatieren.

Bleibt also die Untersuchung der Pädagogik der DDR, die dem Titel nach das Hauptanliegen der Arbeit darstellt. Anhand der Auseinandersetzung mit zahlreichen Dokumenten und Veröffentlichungen rekonstruiert die Autorin verschiedene Standpunkte zur Selbsterziehungsthematik in der Erziehungswissenschaft der DDR. Diese Arbeit verlangt der LeserIn vor allem schon deshalb ein hohes Maß der Bewunderung ab, weil die Autorin in den meisten dieser Dokumente mit dem unerträglichen Verlautbarungsstil der offiziellen DDR-Sprache konfrontiert war. Es ist ihr Verdienst, trotz dieser normierten Sprache sehr unterschiedliche Positionen zum Thema rekonstruieren zu können. Insofern leistet das Buch einen fundierten Beitrag zur Aufklärung über die Existenz von Kontroversen in einer zu Unrecht als monolithisch wahrgenommenen DDR-Pädagogik. Freilich ist die Existenz dieser Kontroversen der Forschung keineswegs neu und auch die Autorin bezieht sich auf die einschlägige Literatur. Neu ist aber die Ausführlichkeit der Dokumentation kontroverser Positionen zu ihrem Thema.

Die Autorin stimmt mit anderen Rekonstruktionen pädagogischer Kontroversen zumindest der späteren DDR darin überein, dass ihnen eine systemimmanente Grenze eigen war. Alle kontroversen Positionen waren sich letztlich in dem Ziel einig, den Sozialismus und sein Erziehungssystem zu stärken. Lediglich der Weg war strittig. "Mithin steht hinter der Selbsterziehungsdiskussion die mehr oder weniger direkte Intention einer Indienstnahme des Menschen, der zur Festigung und zum Ausbau sozialistischer Gesellschaftsstrukturen aktiv werden soll." (275).

Ebenfalls in vorgedachten Gleisen verlaufen die anschließenden Überlegungen, ob die Selbsterziehungskonzeptionen in der DDR-Pädagogik explosiven Gehalt hatten oder systemstabilisierend wirkten. Aufgrund ihrer Untersuchung bleibt der Autorin nur der unspektakuläre Schluss, dass die Selbsterziehungsdiskussion in der DDR-Erziehungswissenschaft aufgrund der Beachtung systemimmanenter Grenzen, nicht über das System hinausweisen konnte. So wird zwar in dem Buch an einem Beispiel materialreich illustriert, dass es innerhalb der DDR-Erziehungswissenschaft auch Kontroversen gegeben hat und damit ein weiterer Beleg gegen die These, das DDR-Erziehungssystem sei restlos uniform gewesen, geliefert. Zugleich ist die Autorin in der Interpretation dieser Kontroverse äußerst zurückhaltend und konservativ. Die eigentlich spannende Frage nach nichtintendierten Folgen dieser kontroversen Debatte, wird nicht gestellt.

Vielleicht am verdienstvollsten an diesem Buch sind die Interviews mit Repräsentanten der Erziehungswissenschaft der DDR, die im Anhang abgedruckt wurden. Sie werden im Laufe der Argumentation des Buches immer wieder als Beleg herangezogen. Diese Interviews der Pädagogen W. Lindner, R. Rudolf, D. Kirchhöfer, H.-J. Schille, I. Bastian, W. Iffert sind ein echter Schatz für die Geschichtsschreibung der DDR-Pädagogik. Wie sich hier z. T. sehr (selbst-)kritische Offenheit und naive Geschichtsverklärung, Beharrung und Rechtfertigung aber auch geradezu hermeneutisches Bemühen um das Erklären der eigenen Position und damit zugleich ein Prozess der Selbstinterpretation und des Selbstverstehens spiegelt, das hat streckenweise den Charme hochkarätiger autobiographischer Reflexionen. Besonders interessant sind vielleicht die Bildungsprozesse, die sich während der Gespräche ergeben. Da kann Werner Lindner z. B. sagen: "Aber das ist mir selbst erst in unserem Gespräch jetzt völlig klargeworden, dass wir für unsere Fragestellung in der marxistischen Philosophie keinen Rückhalt finden konnten, weil die Frage Führung und eigene Aktion, oder Menschenbild, natürlich beantwortet war." (S. 419) In diesen Gesprächen wird die Autorin als eine kompetente Gesprächspartnerin sichtbar, die in der sperrigen Materie der DDR-Pädagogik mit ihren GesprächspartnerInnen auf Augenhöhe diskutieren kann. Insofern ist es nahezu ironisch, dass nicht "zeitliche und persönliche Distanz" der Autorin die tiefsten Einblicke des Buches gewährten, sondern inhaltliche und kommunikative Nähe. Hier hat die Autorin eine Quelle zur Verfügung, die den Stoff für mehrere Bücher abgäbe. Leider bleibt die Verwertung dieser Interviews hinter den Gesprächen selbst zurück. Ein Kapitel, das die Spezifik der jeweiligen Quellen (Originaltexte, Sekundärtexte, Reflexion von DDR-Pädagogen nach der Wende, Interviews) diskutiert und darum Schlussfolgerungen für eine methodisch reflektiertes Interpretationsverfahren zöge, fehlt dem Buch schmerzlich.

Die Rezension schließt darum mit der ungewöhnlichen Empfehlung eines Buches wegen seines Anhanges, weniger wegen seines vermeintlichen Hauptinhaltes.
Henning Schluß (Berlin)
Zur Zitierweise der Rezension:
Henning Schluß: Rezension von: Dietze-Münnich, Uta: Pädagogische Führung und Erziehung – Selbsttätigkeit und Selbsterziehung, Zur Diskussion pädagogischer Grundkategorien, insbesondere in der Pädagogik der DDR, Berlin: Kovac 2002. In: EWR 1 (2002), Nr. 5 (Veröffentlicht am 01.12.2002), URL: http://klinkhardt.de/ewr/83000615.html