EWR 3 (2004), Nr. 3 (Mai/Juni 2004)

Martina Weber
Heterogenität im Schulalltag
Konstruktion ethnischer und geschlechtlicher Unterschiede
Opladen: VS Verlag für Sozialwissenschaften (ehemals Leske + Budrich) 2003
(311 Seiten; ISBN 3-8100-3772-9; 39,00 EUR)
Heterogenität im Schulalltag Martina Weber versucht in ihrer Veröffentlichung theoretisch und empirisch die seit fünfzehn Jahren geführte Debatte über den Zusammenhang von Rassismus und Sexismus weiter zu entwickeln. Ihre Grundthese lautet: die "diskursive Verknüpfung der sozialen Kategorien Geschlecht und Ethnizität (bringen - d. V.) Geschlechterkonzepte hervor, die als legitime und illegitime Formen von Weiblichkeit in Konkurrenz zueinander gesetzt werden und der Dominanzgesellschaft Distinktionsgewinne sichern" (9). Am Beispiel schulischer Bildungsprozesse von bildungserfolgreichen türkischen Schülerinnen soll dies aufgezeigt werden, weil die Schule "eine Schlüsselfunktion für die Reproduktion sozialer Ungleichheit" hat (9). Es soll bewiesen werden, dass Geschlechterdifferenzen und Ethnisierungsprozesse in die alltäglichen Interaktionen hineinwirken. Es wird die Frage gestellt, ob türkischen Schülerinnen Besonderheiten in ihrer Persönlichkeit zugeschrieben werden, die sich auf "die soziale Position auswirken und ob diese als mentale Defizite auftreten, in dem sie dysfunktional für einen erfolgreiche Teilhabe an höherer Bildung bewertet werden" (10).

Die Autorin stellt diese Fragen aus langjähriger berufspraktischer Erfahrung bei der Förderung von Oberstufenschülerinnen der interkulturellen Schülerinitiative e.V. Migrantinnen berichteten von der Zuschreibungserfahrung, "die gymnasiale Oberstufe sei nicht der rechte Ort für sie" (11). Die bislang theoretisch getrennt diskutierenden Teildisziplinen der Erziehungswissenschaft ‚Geschlechterforschung und Ethnizität’ verbindet die Autorin im theoretischen und empirischen Teil am Beispiel von türkischen Oberstufenschülerinnen überzeugend.

Die leitende Hypothese der empirischen Untersuchung ist: vergeschlechtliche Ethnisierungsdiskurse wirken sich auf Sichtweisen von LeherInnen auf türkische Schülerinnen aus, aber gleichzeitig wirken besondere Bedingungen der Schule/Schulform und die Grundhaltungen eines Kollegiums auf das pädagogische Verhalten (83). Die empirischen Daten wurden nach den Kriterien der qualitativen Sozialforschung und einer Methodentriangulation erhoben. Quasi konzentrisch wurden um fünf türkische Schülerinnen an vier verschiedenen Oberstufen einer westdeutschen Großstadt in unterschiedlichen Schulformen mit diversen Erhebungsinstrumenten die interessierenden Fragestellungen im schulischen Alltag erkundet. Diese sind: "herkunfts- und geschlechtsbezogene Zuschreibungen und das Wechselverhältnis darauf basierender Wahrnehmungen" (16).

Im Zentrum der Auswertungen stehen die Sichtweisen der Lehrkräfte auf türkische Mädchen, die mit Interviews und Unterrichtsbeobachtungen erhoben wurden. Interviews mit den Schülerinnen, Beobachtungen des Schulumfeldes, Beschreibungen des Schulklimas, Zeichnungen des jeweiligen Schulportraits und Gespräche mit Leitungskräften ergänzen die empirische Basis.

Martina Weber beschreibt die Situation in den vier untersuchten Schulen detailliert und hebt besonders jeweils das Schulklima, die kulturelle Vielfalt der SchülerInnenschaft und die Schulerfolge allochthoner SchülerInnen hervor. Gerade in der feingliedrigen Deskription der schulinternen Interaktionsvorgänge, die minutiös mit Protokolltexten belegt werden, liegt die Stärke der Veröffentlichung. So werden Wahrnehmungen wie z.B. ethnische Gruppenbildungen türkischer SchülerInnen sowohl in ihrer äußeren Form, der von LehrerInnen und MitschülerInnen interpretierten Wirkungsweise als auch aus Sicht der MigrantInnen selbst bewertet. Immer werden dabei eigene Beobachtungen geschildert, die andere Ursachen des Verhaltens erweiternd aufzeigen.

Die Fragestellungen sind klar und eindeutig abgrenzend formuliert. Es geht nicht um die Beschreibung der objektiven Sozialisationsprozesse, sondern um die interaktionellen Zuschreibungen und deren Folgen im System der Oberstufe. Solche Zuschreibungen lauten z.B.: "Ja, wir haben hier also einige Kopftuchträgerinnen...die also überhaupt nicht kommunikativ sind." Gemeinsamkeiten von Kopftuchträgerinnen sehen Lehrkräfte in geringeren geistigen Fähigkeiten. Die Motivation zum Schulbesuch wird gedeutet als "...offensichtlich die einzige Möglichkeit, sich vor Verheiratetwerden oder so etwas zu schützen."

Die Anlage der empirischen Untersuchung ist transparent und wird durch das diskursanalytische Vorgehen nachvollziehbar. Theoretisch bezieht die Autorin sich auf Bourdieus Konzept des Habitus und der Kapitalarten. Sie setzt sich ebenso kritisch mit der westdeutschen Frauenbewegung auseinander wie mit Analysen zu Geschlechtszugehörigkeit, sozialer Schichtung und verschiedenen Konzepten zur Analyse von Ethnisierungen. Interessant ist der Aspekt des "neuen Kulturrassismus" in der BRD, der Kulturen nach ihrem vermeintlichen Grad an Sexismus bewertet und Lebensorientierungen und –praxen Eingewanderter pauschal be- und abwertet. Martina Weber entlarvt damit auch pseudofeministische Analysen, die "die Ausgrenzung von Minderheiten legitimieren" (59).

Im theoretischen Teil ist das Buch geeignet für fortgeschrittene Studierende und Experten. Die empirischen Erörterungen sind als Einstiegstext in die interkulturelle Thematik und für Lehrpersonen in der Praxis zu empfehlen.

Insgesamt wird die Autorin ihren Ansprüchen gerecht und hat einen wesentlichen Beitrag zur Theoriebildung geleistet. Konkrete Hinweise zu Innovationsnotwendigkeiten im deutschen Schulsystem sind ebenfalls beschrieben.
Angelika Krämer (Düren)
Zur Zitierweise der Rezension:
Angelika Krämer: Rezension von: Weber, Martina: Heterogenität im Schulalltag, Konstruktion ethnischer und geschlechtlicher Unterschiede, Opladen: VS Verlag für Sozialwissenschaften (ehemals Leske + Budrich) 2003. In: EWR 3 (2004), Nr. 3 (Veröffentlicht am 02.06.2004), URL: http://klinkhardt.de/ewr/81003772.html