EWR 3 (2004), Nr. 3 (Mai/Juni 2004)

Christian Ritzi / Ulrich Wiegmann (Hrsg.)
Behörden und pädagogische Verbände im Nationalsozialismus
Zwischen Anpassung, Gleichschaltung und Auflösung
Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2004
(268 Seiten; ISBN 3-7815-1327-0; 22,00 EUR)
Behörden und pädagogische Verbände im Nationalsozialismus Will man Erziehung, Pädagogik und Erziehungsprozesse historisch erforschen, bedarf es gesicherter Erkenntnisse über die Behörden, Institutionen und Verbände, in denen pädagogische Fragen (auch politisch) entschieden, durchgesetzt und vermittelt werden. Dies gilt insbesondere für den Nationalsozialismus, der überkommene Institutionen veränderte (‚gleichschaltete’), neue schuf und darüber hinaus ständige Veränderungen in dem oft als ‚Polykratie’ beschriebenen Geflecht von Interessen, Kompetenzen und Machtfaktoren bedingte. Deshalb werden gerade für den Nationalsozialismus Arbeiten über den organisatorischen Aufbau, die Kompetenzen und Funktion, aber auch über die Entwicklung und Rolle pädagogischer Institutionen benötigt. Obwohl einige solcher Arbeiten zu pädagogischen Verbänden und Institutionen im Nationalsozialismus vorliegen, genügen viele dieser bereits in den 70er und 80er Jahren vorgelegten Forschungsergebnisse in der Zwischenzeit nicht mehr den Ansprüchen einer quellennahen und genauen Darstellung, die den ‚Behördenalltag’, Entscheidungsprozesse und deren Hintergründe und Entwicklungen nachvollziehbar macht. Dies gilt für die ‚bekannten’ Institutionen Reichserziehungsministerium (REM), Zentralinstitut für Erziehung und Unterricht (ZI) und den Nationalsozialistischen Lehrerbund (NSLB), aber auch das Wissen über kleinere und unbekanntere Behörden und Institutionen ist zum Teil noch recht gering.

Vor diesem Hintergrund ist jetzt ein Sammelband zu "Behörden und pädagogische[n] Verbänden[n] im Nationalsozialismus" erschienen, dessen Arbeiten die Vorträge einer Tagung in der Bibliothek für Bildungsgeschichtliche Forschung (BBF) dokumentiert, die von der Arbeitsgemeinschaft zur Erforschung pädagogischer Organisationen und Institutionen in der BBF sechzig Jahre nach der Machtübertragung an die Nationalsozialisten veranstaltet wurde.

Ziel ist die Untersuchung "kleinere[r] Vereine oder Substrukturen von Behörden", "die bislang in der Forschung keine oder nur ausnahmsweise Beachtung" fanden (Vorwort, 7, 8). Leider wird aber über diese formale Defizitdiagnose hinaus keine inhaltliche Fragestellung des Bandes z.B. nach dem Verhältnis von Kontinuität und Diskontinuität oder den (pädagogischen und politischen) Konsequenzen der beschriebenen Veränderungsprozesse formuliert, wobei sich dies wohl auch aus der Entstehung der insgesamt acht zum Teil sehr unterschiedlichen Arbeiten erklärt. Drei Arbeiten (von Schütte, Ritzi und Kluchert) thematisieren Aspekte der staatlichen Bildungsverwaltung, weitere drei Arbeiten (von Lost, Wolff und Harik) befassen sich mit der Geschichte von (Lehrer-)Verbänden, ihrer Gleichschaltung und Auflösung während der NS-Zeit, während sich zwei weitere Arbeiten mit ‚informellen Netzwerken von Pädagoginnen und Pädagogen in der Zeit des Nationalsozialismus’ (Basikow) sowie der "Hitlerjugend als Gegenstand bildungshistorischer Forschung und Publikationstätigkeit" (Wiegmann) befassen.

Wiegmanns Arbeit über die Hitlerjugend (HJ) unterscheidet sich von den anderen Beiträgen des Bandes dadurch, dass er versucht, auf Grund quantitativer Analysen der Publikationstätigkeit über die HJ zu Aussagen über die Qualität der bildungshistorischen Erforschung der HJ zu gelangen. Er konzentriert sich hierbei auf die in der BBF vorhandenen Titel und kommt zu der Schlussfolgerung, dass die Literatur zur HJ, obwohl quantitativ beachtlich, qualitativ darunter leide, dass sie zu wenig Quellen heranzieht. Er schließt daraus, dass von einem "Ende des Forschungsbedarfs" zur HJ nicht die Rede sein kann. Wiegmann verzichtet aber leider darauf, eine zumindest exemplarische Sichtung der Forschungsliteratur vorzunehmen, um seine gewagte und eher implizit vorgetragene These konkret zu untermauern und vor allem die inhaltlichen Forschungsdesiderate aufzuzeigen.

Die Abhandlung Schüttes über die "Abteilung für berufliches Ausbildungswesen" im Reichserziehungsministerium stellt ausführlich und quellennah Geschichte, Struktur, Personenkorpus sowie die Arbeitsfelder der Abteilung dar. Er kommt zu dem Schluss, dass die Abteilung ihren nach der Gründung des Ministeriums 1934 zunächst vorhandenen politischen Einfluss Stück für Stück an andere NS-Institutionen (vor allem das Reichswirtschaftsministerium und die Deutsche Arbeitsfront) verlor, was Schütte auch auf die ideologische Ausrichtung der Abteilung in den frühen 30er Jahren zurückführt, die spätestens während des Krieges den praktischen und pragmatischen Erfordernissen der Machthaber nicht mehr entsprach. Deutlich wird an der Untersuchung Schüttes, wie wenig über die Politik und den Einfluss des Reichserziehungsministerium bisher bekannt ist: Nach wie vor fehlt eine Gesamtdarstellung des Ministeriums, die auch dessen Position innerhalb der nationalsozialistischen Machtapparate ausleuchten müsste. Schüttes Darstellung ist ein gelungener Baustein für die Einlösung dieses Desiderats. Es ist aber bedauerlich, dass zwar viele Entscheidungen und Entwicklungen, z.B. in Bezug auf die Ämterkonkurrenz, genannt, aber nicht nachvollziehbar und in ihren inhaltlichen Dimensionen genügend dargestellt werden. Obwohl dies vermutlich den Rahmen der Arbeit gesprengt hätte, bleibt damit die bei vielen pädagogischen Institutionen während der NS-Zeit thematisierte Frage, inwieweit die immer wieder nachweisbaren Konflikte innerhalb der nationalsozialistischen Polykratie reine Machtfragen waren oder auch auf (möglicherweise sinnvolle) inhaltliche Auseinandersetzungen verweisen, unbeantwortet.

Auch Ritzis Arbeit über die Entwicklung der 1899 gegründeten "Königlich Preußischen Auskunftsstelle für Lehrbücher des höheren Unterrichtswesens", die 1936 als "Reichsstelle für Schulwesen" ähnlich dem Reichserziehungsministerium für das gesamte Reichsgebiet zuständig wurde, füllt eine Leerstelle bisheriger Forschungen. Er stellt die Geschichte dieses pädagogischen ‚Dienstleisters’ zu allen Fragen von Unterrichtsbetrieb, Lehrplänen, Lehrbüchern und -mitteln vom 19. Jahrhundert bis nach dem Zweiten Weltkrieg dar und sprengt so die Eingrenzung auf den Zeitraum von 1933-1945: Der Nationalsozialismus nimmt einen eher geringen Teil der Darstellung ein, Ritzi konstatiert allerdings, dass die Auskunftsstelle ihre Arbeit unter erweiterter Zuständigkeit relativ bruchlos fortsetzen konnte, was wohl an ihrer Nützlichkeit auch für die nationalsozialistischen Machthaber lag. Das Fehlen einer auf den Nationalsozialismus bezogenen Fragestellung ist ein nur geringes Manko, da die Information über die Geschichte einer bisher nur wenig gewürdigten Institution sowie ihr spannungsreiches Verhältnis zum Zentralinstitut für Erziehung und Unterricht und zur Hauptstelle für den naturwissenschaftlichen Unterricht einen weiteren Darstellungsschwerpunkt bildet.

Aufmerksamkeit verdient auch der Artikel von Kluchert über die "Abteilung für höheres Schulwesen" der Provinz Brandenburg, der von der Frage geleitet ist, inwieweit die Schulaufsicht nach der nationalsozialistischen Machtübernahme politisiert wurde. Auf verschiedenen Ebenen wird die Praxis der Schulaufsicht beschrieben und anhand von Personal, Praxis der Schulrevisionen sowie den pädagogischen Konzepten sehr quellennah analysiert. So gewinnt man einen konkreten Eindruck von der Arbeit der Schulaufsicht und der praktischen Berufsausübung der Lehrerschaft im Verhältnis zur Schulaufsicht. Kluchert kommt dabei zu der interessanten Schlussfolgerung, dass sich die Politisierung der Schulverwaltung einerseits in eher engen Grenzen hielt, dass sich aber vor dem Hintergrund der nationalsozialistischen Machtübernahme im Allgemeinen und z.B. des Berufsbeamtengesetzes im Besonderen die Bereiche der totalitären Willkür schleichend ausbreiteten und es somit nie absehbar war, wann der totalitäre ‚Maßnahmenstaat’ (Fraenkel) aktiv werden würde. Dies mag wohl zu einer zumindest unterschwelligen Verunsicherung und damit auch Disziplinierung der Lehrerschaft geführt haben. Insgesamt hat Kluchert damit einen ausgesprochen lesenswerten Beitrag zur Praxis der nationalsozialistischen Schulverwaltung und –aufsicht vorgelegt.

Die Arbeiten von Lost, Wolff und Harik analysieren die Geschichte von (Lehrer-) Verbänden unter den Bedingungen des Nationalsozialismus. Christine Lost beschreibt die Vor- und Nachgeschichte der Auflösung des Deutschen Fröbelverbandes im Jahr 1938 und konstatiert dabei die widerstandlose Selbstauflösung dieses traditionsreichen Verbandes, ohne dass aber die Gründe und Entwicklungen für diese Widerstandslosigkeit richtig nachvollziehbar werden: Es wird nicht deutlich, warum sich der Fröbelverband z.B. im Vergleich zu anderen Lehrerverbänden so schnell selbst gleichschaltete bzw. gleichschalten ließ. Lag dies an der Verunsicherung der Mitglieder und Funktionäre, oder waren bei diesem Prozess auch Sympathien und Ambivalenzen im Spiel? Eine Fragestellung, die verschiedene Kriterien z.B. nach dem organisatorischen Ablauf oder dem Verhalten der Verantwortlichen deutlicher herausgearbeitet hätte und dies im Verhältnis zum Gleichschaltungsprozess anderer Verbände gesetzt hätte, wäre wünschenswert gewesen.

Sabine Harik gelingt es in ihrer Fallstudie zur Auflösung des Allgemeinen Deutschen Lehrerinnen-Vereins (ADLV) detailliert nachzuweisen, wie die Selbstauflösung des Verbandes dem Zweck diente, einerseits die Vermögenswerte des Verbandes vor dem Zugriff des NSLB zu schützen und andererseits "eigene Kommunikationsnetzwerke zu reprivatisieren" (226). Die Arbeit stellt ein gutes und exemplarisches Beispiel dafür dar, wie die Selbstauflösung nach der nationalsozialistischen Machtübernahme auch ein Akt der Opposition sein konnte.

Einen anderen Aspekt der Selbstauflösung eines Lehrerverbandes beleuchtet Sylvia Wolff mit ihrem Beitrag zum Bund Deutscher Taubstummenlehrer, denn hier stehen die "Folgen für die Gehörlosen" im Zentrum der Betrachtung. Wolff gelingt es, die Ambivalenz der Taubstummenlehrer gegenüber ihrer Zielgruppe nachzuzeichnen und zu dokumentieren, wie sich viele Taubstummenlehrer an der Durchführung des ‚Gesetzes zur Verhütung des erbkranken Nachwuchses’ beteiligten und sich damit auch ihrer Verantwortung gegenüber ihren Klienten entzogen. Nachvollziehen und vielleicht sogar erklären lässt sich dieser Prozess aus Kontinuitätslinien und Entwicklungen der Zeit von vor 1933. Interessant an der Arbeit Wolffs ist vor allem der gelungene Perspektivenwechsel auf die Klienten der Bundes Deutscher Taubstummenlehrer.

Den Abschluss des Bandes bildet eine Arbeit von Ursula Basikow zu informellen Netzwerken von Pädagoginnen und Pädagogen, wie sie sich an Hand von in der BBF aufbewahrten Nachlässen nachweisen lassen. Dieser Aufsatz ist allerdings eher ein Hinweis auf die in der BBF verfügbaren Nachlässe, da die dokumentierten Netzwerke eher für Forscher interessant sein dürften, die sich mit einzelnen Personen beschäftigen. Darüber hinaus fällt diese Arbeit aus der Thematik des Sammelbandes heraus und steht wohl auch daher etwas isoliert am Ende des Bandes.

Worin liegt nun der allgemeine Befund des Bandes? Insgesamt bietet der Sammelband zahlreiche, im einzelnen reichhaltige Forschungsergebnisse, die lesenswert sind. Neben den Abhandlungen zur Geschichte von Verbänden, die unser Wissen über zum Teil bereits bekannte Entwicklungen um einzelne Aspekte der Gleichschaltung und Auflösung von Lehrerverbänden erweitern und vertiefen, liefern vor allem die Arbeiten von Schütte, Ritzi und Kluchert Untersuchungen zu bisher weitgehend unerforschten Institutionen der staatlichen Bildungsverwaltung, die auf Fortsetzungen hoffen lassen, so dass irgendwann einmal fundierte Gesamtdarstellungen zum Reichserziehungsministerium, zum Zentralinstitut für Erziehung und Unterricht und zu anderen Instanzen der Bildungsverwaltung in der Zeit des Nationalsozialismus vorgelegt werden können.
Andreas Kraas (Berlin)
Zur Zitierweise der Rezension:
Andreas Kraas: Rezension von: Ritzi, Christian / Wiegmann, Ulrich (Hg.): Behörden und pädagogische Verbände im Nationalsozialismus, Zwischen Anpassung, Gleichschaltung und Auflösung, Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2004. In: EWR 3 (2004), Nr. 3 (Veröffentlicht am 02.06.2004), URL: http://klinkhardt.de/ewr/78151327.html