EWR 3 (2004), Nr. 2 (März/April 2004)

Franz-Josef Jelich / Heidemarie Kemnitz (Hrsg.)
Die pädagogische Gestaltung des Raums
Geschichte und Modernität
Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2003
(566 Seiten; ISBN 3-7815-1270-3; 24,80 EUR)
Die pädagogische Gestaltung des Raums Der Band dokumentiert die Jahrestagung der Sektion Historische Bildungsforschung in der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft. Solche Tagungsbände bergen editorische Risiken, besteht doch in der Regel der Druck, alle Beiträge aufzunehmen und damit qualitativ oder systematisch an Gehalt zu verlieren. Sie bergen jedoch auch Chancen, können sie doch ganz unterschiedliche Blicke auf und Zugänge zu einer Thematik eröffnen. Der schwachen Position der Herausgeber/innen solcher Tagungsbände steht die relativ starke Position der einzelnen Autor/inn/en gegenüber, deren Beiträge deshalb je eigens zu betrachten sind. Dies erlaubt dem Rezensenten, sich hinsichtlich der editorischen Ebene des Bandes auf die Frage nach thematischer Strukturierung und Systematisierung zu beschränken und sich auf die Besprechung ausgewählter Einzelbeiträge zu konzentrieren.

Betrachten wir zunächst den Sammelband als editorisches Werk. Wer die pädagogische Gestaltung des Raumes behandelt, muß zunächst klären, was er unter Raum versteht. Franz-Josef Jelich und Heidemarie Kemnitz unterscheiden einleitend private und öffentliche, geschlossene und offene, erlaubte und verbotene Räume. Zurecht heben sie die Unterscheidung zwischen Offenheit und Geschlossenheit hervor und fordern, diese Dimension in ihrer Dialektik und Ambivalenz zu erfassen. Schließlich postulieren sie, daß der pädagogische Raum in seiner Historizität Spiegel von Kontinuität und Veränderung pädagogischen Denkens ist, und bieten damit eine weitere Unterscheidung, nämlich jene zwischen Kontinuität und Veränderung, als Kategorie historisch-pädagogischer Raum-Forschung an. Ergänzen ließe sich diese kategoriale Klärung des Raumbegriffs durch die im Beitrag Gisela Miller-Kipps präzise und anschaulich auf den Punkt gebrachte Unterscheidung zwischen mathematischem und sozialem Raum. Leider nutzen die Herausgeber/innen diese Kategorien nicht zur Systematisierung des Bandes, sondern stellen die insgesamt 32 Beiträge unter teils stufenbezogenen (z.B. "Pädagogische Architektur der Schule", "Lehr- und Lernräume der Berufs- und Erwachsenenbildung"), teils phänomenologischen (z.B. "Landschaft als pädagogischer Raum") oder inhaltlich spezifizierten (z.B. "Räume in Kontexten religiöser Erziehung") Kapitel-Überschriften zusammen.

Wer die Einzelbeiträge nach Kategorien der Erforschung pädagogischer Raume durchsucht, wird außer bei Miller-Kipp auch in dem Beitrag von Johannes Bilstein fündig, dem die Herausgeber/innen folgerichtig den Status einer weiteren Einleitung bzw. "Annäherung" zugestehen. Bilstein verdeutlicht anhand Willy Steigers 1921 bis 1924 bestehendem "Blauen Nest" in der Volksschule Hellerau nämlich nicht nur Steigers Postulat, der Klassenraum solle Heimat werden, sondern unternimmt den interessanten Versuch, die kunsttheoretische Unterscheidung zwischen Werk-, Rezeptions- und Produktionsästhetik zur Analyse pädagogischer Raumgestaltung zu nutzen. Die in Bilsteins Beitrag zu beobachtende Verbindung bildungsgeschichtlicher Analyse und anthropologischer Überlegungen bleibt in dem Band eine Ausnahme.

Die Stärke des Beitrags von Hanno Schmitt über das Schnepfenthaler Philanthropin liegt in der Konzentration auf zwei Fragen, nach den theoretischen Prämissen der Schnepfenthaler Raumkonzeption sowie nach der unterrichtlichen Fruchtbarmachung dieses pädagogischen Raumes. Insbesondere die Antwort auf die erste Frage erweckt Aufmerksamkeit, bringt sie doch mit Philipp Julius Lieberkühns Versuch über die anschauende Erkenntnis von 1782 einen noch vor dem Revisionswerk publizierten Beitrag zur philanthropistischen Theorie des Unterrichts zum Vorschein.

Die folgenden drei Beiträge zu historischen Siedlungen (Hellerau, Eden, verschiedene Kibbuzim) tun sich eher schwer, diese als pädagogisch gestaltete Räume auszuweisen. Am ehesten gelingt dies Ulrike Pilarczyk, die nach Art und Funktion pädagogischer Räume fragt, welche die Kibbuzgründer für die zweite, bereits in Palästina geborene Generation entwerfen. Möglicherweise gelingt es ihr gerade deshalb, weil sie nicht die Siedlung selbst als pädagogischen Raum herauszuarbeiten sucht, sondern – im Auftrag jüdischer Nationalfonds zur Dokumentation des Aufbaus der Kibbuzim angefertigte – Fotografien als mediale pädagogische Räume analysiert.

Bettina Irina Reimers’ Beitrag zur Volkshochschule Thüringen macht die Bedeutung einer Stadt, nämlich Weimar, als – unmittelbare Kulturerlebnisse ermöglichender – historischer Ort humanistischer und idealistischer Bildung deutlich. Paul Ciupkes Beitrag hingegen – über die Volkshochschulen Prerow und Klappholttal an Ost- und Nordsee – zeichnet die als Veranstaltungsorte genutzten Dünen und Strände als Erfüllung der erwachsenenpädagogischen Anforderung, der Freiwilligkeit des Lernens entgegenzukommen. Dorle Klika schreibt über "Erlaubte und verbotene Räume. Der erinnerte Raum in Autobiographien" und öffnet damit ein weites Feld, das in der Kürze eines Sammelbands zwangsläufig nur summarisch abgehandelt werden kann.

Der Kapitel-Überschrift "Pädagogische Architektur der Schule" sind sieben Beiträge subsummiert. Der Begriff Architektur gibt wohl am ehesten die Raumauffassung der Herausgeber/innen wieder (nicht zufällig findet sich hier ein Beitrag von Heidemarie Kemnitz über Tauts Modell der Berliner Dammwegschule). Die Beiträge fokussieren zumeist das Gebäude. Lehr- und Lernmaterialien und andere nicht-architektonische Elemente pädagogicher Raumgestaltung, metaphorisch gesprochen die "Software" pädagogischer Umgebung, rücken damit an den Rand des Blickfeldes. Unter dem Gesichtspunkt pädagogischer Organisationsforschung ist der Beitrag von Frank Tosch von besonderem Interesse, dem es am Beispiel der Jahnschule Forst/Lausitz gelingt, Zusammenhänge zwischen schulischer Strukturentwicklung und Schulbauaktivitäten nachzuweisen. Zweifellos ein Gewinn sind auch die Beiträge aus nicht-deutscher Sicht. Insbesondere Jun Yamanas Beitrag über die Verwestlichung des japanischen Schulraums in der Meiji-Zeit gewährt klare und anschauliche Einblicke in eine hierzulande kaum bekannte Welt.

Dass die vier Beiträge zu Berufsbildungsräumen durchweg von Männern, die drei zu Räumen in Kontexten religiöser Erziehung dagegen durchweg von Frauen stammen, sei angemerkt. Aus ersteren sei, um der Fokussierung der Innenausstattung mehr Aufmerksamkeit zu verleihen, der Beitrag von Martin Kipp hervorgehoben, der die in den 1930er Jahren erfolgende Einführung der Wochen(wand)sprüche in die industrielle Lehrlingsausbildung analysiert und sie als betriebspädagogischen Modernisierungsschub interpretiert. Aus letzteren sei stellvertretend auf den Beitrag von Christine Lost hingewiesen, die auf der Basis von Recherchen im Unitätsarchiv Herrnhut das im frühen 18. Jahrhundert entwickelte und im weiteren wirksame Konzept der Gemeine als pädagogischer Raum nachweist.

Dem letzten Kapitel namens "Politisch-pädagogische Architekturen" wäre eine größere historische Bandbreite zu wünschen, widmen sich die sechs Beiträge doch ausschließlich Räumen im Nationalsozialismus und in der DDR, was die Frage nahe legt, ob es in einer westlichen demokratischen Gesellschaft wie der Bundesrepublik keine bzw. keine untersuchenswerten politisch-pädagogischen Architekturen gibt. Sowohl begrifflich als auch von der Dichte des Materials und dessen Analyse sticht hier der schon erwähnte Beitrag von Gisela Miller-Kipp heraus, welche anhand zeitgenössischer Fotografien die ästhetische Perfektionierung der Rauminszenierung am NS-Fahnenkreis herausarbeitet.

Insgesamt bietet der Sammelband zahlreiche, im einzelnen reichhaltige Forschungsergebnisse. Auch wenn die Fokussierung des Raumes nicht, wie die Herausgeber/innen meinen, eine in der bildungsgeschichtlichen Forschung neue Perspektive ist, ist der vorliegende Sammelband wichtig. Er hat das Potential, die in der Tradition historisch-pädagogischer Forschung bereits formulierte[1] Fokussierung des pädagogisch gestalteten Raumes erneut und aufgrund der bundesweit verankerten Autor/inn/enschaft machtvoll ins Bewusstsein der Disziplin zu rücken. Dem Thema wäre weitere Aufmerksamkeit zu wünschen, ist doch der pädagogisch gestaltete Raum seit alters her zumindest impliziter Bestandteil von Bildung und Erziehung, wenn auch erst im 20. Jahrhundert explizit vom "Raum als Erzieher" gesprochen wird.

Anmerkung

[1] Vgl. Lange, H.: Schulbau und Schulverfassung der frühen Neuzeit. Zur Entstehung und Problematik des modernen Schulwesens. Weinheim 1967; Göhlich, M.: Die pädagogische Umgebung. Eine Geschichte des Schulraums seit dem Mittelalter. Weinheim 1993.
Michael Göhlich (Erlangen)
Zur Zitierweise der Rezension:
Michael Göhlich: Rezension von: Jelich, Franz-Josef / Kemnitz, Heidemarie (Hg.): Die pädagogische Gestaltung des Raums, Geschichte und Modernität, Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2003. In: EWR 3 (2004), Nr. 2 (Veröffentlicht am 31.03.2004), URL: http://klinkhardt.de/ewr/78151270.html