EWR 2 (2003), Nr. 5 (September/Oktober 2003)

Alexandra Obolenski
Integrationspädagogische Lehrerinnen- und Lehrerbildung
Grundlagen und Perspektiven für "eine Schule für alle"
Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2001
(350 Seiten; ISBN 3-7815-1176-6; 21,50 EUR)
Integrationspädagogische Lehrerinnen- und Lehrerbildung Im Mittelpunkt des Buches stehen Überlegungen, wie sich die LehrerInnenausbildung verbessern lässt, so dass sie integrationspädagogischen Ansprüchen genügt. Nach einer recht persönlichen Herleitung der Fragestellung setzt die Arbeit mit einer umfassenden Kritik ein: nach Ansicht der Autorin löst die Sonderpädagogik ihren Anspruch auf eine besondere Förderung behinderter Kinder mit dem Ziel gesellschaftlicher Integration nicht ein. Insbesondere die Schulen für "Lernbehinderte" und "Verhaltensgestörte" können im Sinne Obolenskis als Einrichtungen gelten, die überwiegend einer Entlastung der Regelschulen verpflichtet sind. Einen Mehrwert sonderpädagogischer Praxis und Theorie erkennt die Autorin nicht an, vielmehr handele es sich dabei um "Mystifizierungen", weil sich die in Sonderschulen praktizierte methodisch-didaktische Arbeit nicht substantiell von der in Regelschulen unterscheide. Darüber hinaus hält Obolenski Sonderschulen auch "aufgrund der rechtlichen, ökonomischen und sozialen Verhältnisse sowie der bildungs- und gesellschaftspolitischen Bedingungen" für "mindestens fragwürdig" (81) und plädiert deshalb für eine umfassende und verbesserte Einlösung des landesgesetzlich bereits mehrfach festgelegten und bislang nur unzureichend realisierten Anspruches auf gemeinsamen Unterricht. Wie im Weiteren deutlich wird, sieht sie vor allem in einer grundlegenden Reform der LehrerInnenausbildung den Schlüssel zu einer Verbesserung, sofern diese Theorie und Praxis miteinander verzahnt und die als obsolet angesehene Separierung zwischen Regel- und Sonderpädagogik aufgibt.

Damit ist die Überleitung zum zweiten Teil der Arbeit geschaffen, der sich mit der Frage nach zu vermittelnden Qualifikationen befasst. Obolenskis Auffassung nach ermöglicht nur eine "Didaktik der Vielfalt" Unterricht, der behinderten und nicht behinderten Kindern gleichermaßen gerecht wird. Im Kern meint "Didaktik der Vielfalt", dass engagierte, kooperierende LehrerInnen die Heterogenität ihrer Schülerschaft als Regelfall akzeptieren und grundsätzlich differenzierte Fördermöglichkeiten eröffnen, wobei die Art des methodisch-didaktischen Arrangements gleichzeitig eine Öffnung von Schule beinhaltet. Um so arbeiten zu können, müssen angehende LehrerInnen nach Obolenskis Auffassung über eine Vielzahl von Kompetenzen verfügen, die sich den drei "Basisqualifikationen": "Weiterlernqualifikation", "Kooperationsqualifikation" und "Differenzierende Förderqualifikation" (vgl. 147ff.) zuordnen lassen. Wie sich Obolenski die Vermittlung dieser Kenntnisse an der Hochschule konkret vorstellt, zeigt sie im fünften Kapitel vor allem anhand von drei "Bausteinen", d.h. mehrdimensional angelegten Seminarkonzeptionen zu ausgewählten Themen, die sie an der Universität Oldenburg bereits mit Erfolg erprobt hat.

In der Konsequenz der vorherigen Überlegungen präsentiert Obolenski im dritten und letzten Teil ein "Zukunfts-Modell der LehrerInnenbildung für integrationspädagogische Tätigkeit", das den Charakter einer ausführlich begründeten Studienordnung für einen neu zu schaffenden Ausbildungsgang hat. Kennzeichnend für dieses Modell ist neben geänderten Eingangsvoraussetzungen (z.B. ist eine mindestens einjährige Tätigkeit im Berufsleben oder in einem sozialen Arbeitsfeld obligatorisch) vor allem die Aufhebung der etablierten Phasierung in der LehrerInnenbildung und die Abschaffung einer besonderen Ausbildung für Lehrkräfte an Lern- und Erziehungshilfeschulen.

In ihrem Vorwort heben Hans Eberwein und Hilbert Meyer zu Recht hervor, dass die Autorin eine "sehr komplexe Thematik [...] auf der Basis eines großen Überblickswissens und einer Bereitschaft zur Systematisierung in unwegsamem Gelände bearbeitet" (9) hat. Tatsächlich regt sie durch die thematische Breite der Arbeit zum Nachdenken über ganz fundamentale Fragen der Schulreform an. Dies umso mehr, als Obolenski die zu Recht beklagte Trennung in Allgemein- und Sonderpädagogische Theorienbildung auch in der Literaturauswahl überwindet. Die "Systematisierung" erfolgt häufig auf der Basis eines persönlichen Erkenntnisinteresses sowie aufgrund eigener Werte- und Erfahrungshorizonte und fördert so beim Leser eine kritische Überprüfung eigener Orientierungen. Solche Impulse entstehen auch durch den konsequenten Einbezug authentischen Materials aus den Erfahrungen der Autorin in Schule und Hochschule.

Diese Vorzüge können allerdings nicht den Blick darauf verstellen, dass einige zentrale Aspekte des Buches kritische Nachfragen herausfordern. Zunächst wird bereits zu Beginn deutlich, dass sich Obolenski bei ihren integrationspädagogischen Überlegungen fast ausschließlich auf (sogenannte) lernbehinderte und verhaltensgestörte SchülerInnen bezieht: die dieser Klientel gewidmeten sonderpädagogischen Fachrichtungen und die entsprechenden Schulen will sie abgeschafft wissen. Gerade mit Blick auf die im Buch zitierte Literatur erscheint mir eine solche Einschränkung wenig einsichtig. Nicht nur, dass beispielsweise die Übergänge zwischen den Konstrukten "lernbehindert" und "geistig behindert" fließend sind, aus Obolenskis Sicht also keine Veranlassung für das Weiterbestehen einer Geistigbehindertenschule bestehen dürfte; bedenkenswert erscheint vielmehr auch die implizite Annahme, dass selbst eine "Didaktik der Vielfalt" bestimmte Kinder nicht trägt. Im Unterschied zu der von ihr geschmähten sonderpädagogischen Theorienbildung präzisiert die Autorin nicht, welche Kinder sie warum noch immer für sonderschulbedürftig hält und setzt sich damit dem Vorwurf der Willkürlichkeit aus. Obwohl die Didaktik also offenkundig nicht jegliche Vielfalt akzeptiert, addiert Obolenski unter dem Begriff einer "Didaktik der Vielfalt" nahezu alles, was der aktuellen (insbesondere Grundschul-)Pädagogik zufolge als "guter Unterricht" gelten kann. Dass die insbesondere in Kapitel 4.1 genannten Werte, Kategorien und Kompetenzen erstrebenswert sind, kann wohl kaum bezweifelt werden. Ob und inwieweit diesen umfassenden Ansprüchen allerdings genügt werden kann, bleibt fraglich, solange die Diskussion dieser Aspekte völlig von der strukturellen Wirklichkeit der Schullandschaft abstrahiert. Aber selbst wenn es gelingen könnte, LehrerInnen entsprechende Kompetenzen zu vermitteln, so erscheint die Erwartung, diese könnten die Schullandschaft nolens volens verändern (vgl. 276), überzogen. Aktuelle Belastungsstudien legen meines Erachtens eher nahe, dass die Lehrkräfte sich an der Wirklichkeit aufreiben würden.

Ein letzter Aspekt schließt sich an. Ausgehend von den notwendigen Kompetenzen kommt die Autorin zu einer sehr detailliert ausgestalteten Studienordnung. Betrachtet man die Vorschläge, so erscheint das Eingeständnis, ihr Vorschlag könne "als Tendenz zu einem ‘verschulten‘ System interpretiert werden" (289), noch untertrieben. Tatsächlich lässt der Rahmen für universitäre Freiheiten nahezu keinen Raum mehr. Inwiefern eine derartig enge Ausbildungsstruktur, bei der ab dem vierten Semester ein enormer Zensurdruck erzeugt wird, eine adäquate Rahmenbedingung für eine Hochschul-"Didaktik der Vielfalt" darstellt, bedarf meines Erachtens der Begründung. Im Hinblick auf Obolenskis Erwartung, dass sich durch die Realisierung ihres Modells die zentralen Problemlagen gerade auch für die behinderten Kinder lösen lassen, besteht also durchaus noch Diskussionsbedarf. Als Anregung zur Auseinandersetzung allerdings ist das vorliegende Buch bestens geeignet.
Gabriele Kremer (Gießen)
Zur Zitierweise der Rezension:
Gabriele Kremer: Rezension von: Obolenski, Alexandra: Integrationspädagogische Lehrerinnen- und Lehrerbildung, Grundlagen und Perspektiven für "eine Schule für alle", Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2001. In: EWR 2 (2003), Nr. 5 (Veröffentlicht am 01.10.2003), URL: http://klinkhardt.de/ewr/78151176.html