EWR 3 (2004), Nr. 4 (Juli/August 2004)

JĂŒrgen Reyer
Eugenik und PĂ€dagogik
Erziehungswissenschaft in einer eugenisierten Gesellschaft
Weinheim/MĂŒnchen: Juventa-Verlag 2003
(248 S.; ISBN 3-7799-1713-0; 17,00 )
Eugenik und PĂ€dagogik JĂŒrgen Reyer legt ein Buch vor, in dem er ein problembeladenes Thema - die Eugenik - sowohl in seiner historischen Dimension als auch in seiner aktuellen Bedeutsamkeit neu zur Geltung, ja zur Anerkennung bringen will. Systematisch will er nĂ€mlich dazu beitragen, dass sich "die PĂ€dagogik im Diskurs-Abseits nicht einrichten sollte", das sie offenbar angesichts des Siegeszuges der modernen "Bio-Wissenschaften" - ohne Not und ohne gute GrĂŒnde, wie Reyer meint - gewĂ€hlt habe. Die Referenzen seiner Überlegungen sind nicht allein historische WissensbestĂ€nde, z.B. die "alte Eugenik", sondern auch zentrale Themen der gegenwĂ€rtigen Debatte im Kontext der "Bio-Wissenschaften". Nach der Methode seiner Argumentation könnte man Reyers Vorgehen historisch-systematisch nennen, fĂŒhrt er doch den Leser ĂŒber eine Rekonstruktion der alten Debatte ĂŒber Eugenik und ihre "Wahrnehmung" in der PĂ€dagogik - in Kap. 2 - zur gegenwĂ€rtigen Situation, die im Zeichen der "Bio-Wissenschaften" nicht weniger als das "Zeitalter der neuen Eugenik" darstellen soll, wie Kap. 3 thesenhaft ĂŒberschrieben ist, und zwar "in einer eugenisierten Gesellschaft", wie die zeitdiagnostische Generalthese lautet.

Was erfĂ€hrt der Leser im Detail? Die "Einleitung" teilt die zentrale These in ihren unterschiedlichen Elementen mit: deskriptiv, dass die PĂ€dagogik sich aus dem neu erwachten bio-wissenschaftlichen Diskurs verabschiedet, zumindest starke Distanz entwickelt habe, kritisch, dass solche "Diskurs-Abstinenz" problematisch sei, erklĂ€rend, dass die PĂ€dagogik sich wegen einer Art von "KrĂ€nkung" so verhalte, wie sie sich verhalte, vor allem, weil sie gegenĂŒber den Bio-Wissenschaften ihren "Allein-Vertretungsanspruch" im Projekt der "Verbesserung des Menschen" gefĂ€hrdet sehe und lieber die Abwehr der (alten) Eugenik fortsetze, als offen fĂŒr wichtige Themen und Fragen im Umkreis der Bio-Wissenschaften zu werden, obwohl es lĂ€ngst eine gute, neue, "liberale Eugenik" gebe.

Kap. 1 - vor der historischen Erörterung - wiederholt die These von der Dominanz der Abwehr-Argumente, stellt dann das Neue am biowissenschaftlichen Diskurs vor und rĂ€t dazu, sich lernbereit zu verhalten, bevor man in der Stabilisierung des "Kultur" vs. "Natur"-Schemas den Erkenntnissen und Problemen nur nachlaufe, die mit den Biowissenschaften heute - jenseits solcher Schematisierung - verbunden seien. Nicht nur, dass die moderne Entwicklung der Wissenschaften das Dual selbst aufhöbe und damit auch die vermeintliche NatĂŒrlichkeit als feste Basis des Generationenvertrages in Frage stelle (Habermas), sie erzeuge in der Argumentation fĂŒr die Anwendbarkeit der Erkenntnisse der Bio-Wissenschaften auch neue "sozialethische" Fragen, ganz ohne es zu bemerken, jedenfalls ohne sie angemessen zu bearbeiten. Hier mĂŒsse die PĂ€dagogik ihre ethische Kompetenz zur Geltung bringen, nicht allein die Erkenntnisse der Bio-Wissenschaften nutzen.

Mit Kap.2 beginnt die historische Rekonstruktion der "alten Eugenik" und des ersten Kontakts von PĂ€dagogik und Bio-Wissenschaften. Reyer geht weit vor die Zeit zurĂŒck, zu der diese Begegnung unter dem Begriff der Eugenik stattfand: Er erinnert an Rousseau und Schleiermacher, durchwandert das 19. Jahrhundert, auch international fĂŒr Europa und die USA; er verharrt selbstverstĂ€ndlich ausfĂŒhrlich in der Zeit um 1900, bei ReformpĂ€dagogik und empirischer Erziehungswissenschaft, und lĂ€sst seine Rekonstruktion mit Nohl und Krieck enden, durchaus ambivalent: kritisch, denn man mĂŒsse kritischer gegenĂŒber den vermeintlich Guten werden, wie Nohl, und offener gegenĂŒber den vermeintlich nur schlechten, wie Krieck, argumentieren. Die Details dieser Darstellung sind so neu nicht, weil Reyer im Wesentlichen doch nur die historische, wissenschaftshistorische und erziehungswissenschaftliche Forschung gedrĂ€ngt zusammenfasst, freilich manchmal etwas zu knapp, z.B. ohne den sozialistischen Strang der Eugenik-Rezeption (das mag mit dem Verweis auf die Arbeit von Kappeler gerechtfertigt sein), gelegentlich aber doch in unverstĂ€ndlicher, ja grob fahrlĂ€ssiger KĂŒrze - das Krieck-Kapitel ist entschieden zu harmonistisch angelegt.

Die Pointe dieser historischen Rekonstruktion ist schnell erzĂ€hlt: Die PĂ€dagogik erweise sich konstant als abwehrende Instanz gegenĂŒber der Eugenik oder den Bio-Wissenschaften (das wird nicht sĂ€uberlich getrennt), weil ihr Alleinvertretungsanspruch gegenĂŒber der "NatĂŒrlichkeit des Menschen" und seiner "ErziehungsbedĂŒrftigkeit" in Gefahr zu geraten drohe. Aber abwehrend sei sie dann auch gegenĂŒber einer Eugenik, die gar nicht als ihr Konkurrent, sondern als ihr Helfer hĂ€tte verstanden werden können, jedenfalls als ein guter Informant ĂŒber die menschliche Natur und ihre Beeinflussbarkeit.

In Kap. 3 wiederholt sich der ErzĂ€hltypus genauso wie der Kritiktypus, und auch hier ist das Material nicht neu, aber erneut an zentraler Stelle massiv entproblematisierend. Das gilt vor allem, wenn man die wirklich schwer verstĂ€ndlichen positiven Bemerkungen ĂŒber den fĂŒr seine NS-AktivitĂ€ten einschlĂ€gig berĂŒchtigten - von Reyer aber unkritisiert gelassenen - Otmar von Verschuer betrachtet (nicht "Verschner", wie es S. 180, Anm. 10 fĂ€lschlich heißt). Bei Reyer wird er fĂŒr seine eugenischen AktivitĂ€ten in der fĂŒr eine "offensive Vertretung eugenischer Maßnahmen nicht besonders gĂŒnstig[en]" Situation der Bundesrepublik gelobt - das geht nun wirklich nicht in dieser Weise.

Reyer ist die Kritik der PĂ€dagogik wichtiger; denn auch angesichts der "neuen Eugenik" denkt, so Reyer, die PĂ€dagogik wie die PĂ€dagogik schon immer dachte, lĂ€sst man außer Acht, dass sie keine rassistischen Gestaltungsphantasien entwickelt. Distanz als dominantes Muster der Wahrnehmung sieht er - und das mag zunĂ€chst ĂŒberraschen - selbst im Verhalten der neuen "PĂ€dobiologie" bestĂ€tigt, die doch explizit biowissenschaftlich und evolutionstheoretisch zu argumentieren beanspruche. Aber ihre Eugenik-Resistenz und Enthaltsamkeit sei unĂŒbersehbar und sie speise sich nicht aus theoretischer Einsicht, sondern aus der Vermeidungs-Angst gegenĂŒber den politisch-sozialen Erfahrungen des 20. Jahrhunderts - ohne Not, wie Reyer auch hier meint. Seine freundliche Empfehlung, sich dem Eugenik-Diskurs oder doch den Bio-Wissenschaften - erneut ist die Unterscheidung nicht prĂ€zise - zu öffnen, weil er sowieso unaufhaltsam sei, ist denn auch das konsequente Resultat einer Darstellung, die zwar normative Argumentation als Revier der PĂ€dagogik mehrfach empfiehlt, aber im Wesentlichen im "realwissenschaftlichen" Ertrag der Biowissenschaften und ihrer gentechnologischen Nutzung - obwohl aktuell noch unmöglich - die wahre AttraktivitĂ€t und Herausforderung der hier einschlĂ€gigen wissenschaftlichen Disziplin(en) sieht.

Was kann, was muss man zu diesen Argumenten sagen? Die allgemeine Debatte ĂŒber Biopolitik kann an dieser Stelle nicht gefĂŒhrt werden, die Erziehungswissenschaft sollte sich auf ihr Revier konzentrieren, aber man sollte zumindest auf die Quelle seiner systematischen Orientierung verweisen: Reyer ist in der Frage der Legitimation und der normativen Akzeptanz der neuen Eugenik sichtbar orientiert an der Dualisierung, die aus J. Habermas‘ positiver Rezeption der sog. "liberalen Eugenik" der anglophonen Debatte ableitbar ist. Hier findet er die Argumente, mit denen er kritisch gegen die "retrograden Dammbruch-Argumentationen" (13, 20 und bes. 23 ff.) zu Felde zieht, die sich aus der pĂ€dagogischen Abwehr der Erfahrungen mit der "alten Eugenik" speisen, fĂŒr die der Kontext zu Sozialdarwinismus und Rassismus so offenkundig gewesen sei, dass er bis heute die Negation eugenischer Argumente scheinbar wie selbstverstĂ€ndlich legitimiere - ohne gute GrĂŒnde, wie Reyer jetzt angesichts der "neuen Eugenik" nahe legen will.

Das mag den internen Diskurs der Bio-Wissenschaften bestimmen, fĂŒr die PĂ€dagogik sind die erziehungstheoretischen Schlussfolgerungen Reyers von Bedeutung. Sie betreffen nicht allein das Legitimationsproblem, das er fĂŒr die "neue Eugenik" wegen ihrer RĂŒcksicht auf die Subjekte gelöst sieht, sondern auch die quasi operativen Konsequenzen fĂŒr das pĂ€dagogische Handeln. Hier eröffne die Eugenik-Debatte die schönsten Optionen und zwar trotz ihrer aktuell noch gegebenen Erkenntnisgrenzen und "auch wenn der genetisch verbesserte Mensch technisch noch nicht machbar ist" (14, Herv. dort). Reyer sieht den "Möglichkeitsraum des Noch-Nicht" (14) und man wird ihm zustimmen, dass damit der traditionelle Denk-Raum der PĂ€dagogik betreten wird, so, wie er z.B. im Begriff der "Bildsamkeit" in der Tradition der PĂ€dagogik prĂ€sent ist.

Reyer betritt dieses Feld der pĂ€dagogischen Argumentation aber in einer eigentĂŒmlichen und, wie ich deutlich sagen will, letztlich fĂŒr die Probleme der PĂ€dagogik, und zwar in Theorie und Praxis, höchst problematischen, fĂŒr die Tradition verfĂ€lschend-kurzsichtigen und fĂŒr die aktuellen Handlungsoptionen deshalb auch nicht akzeptablen Weise. Er sieht in der (vornehmlich progressiven) PĂ€dagogik nĂ€mlich - und das scheint mir der zentrale Fehler - primĂ€r die "Anwaltschaft fĂŒr die biologische Natur des Kindes" (18) reprĂ€sentiert. Aber das ist seit Rousseau und bis heute gerade nicht der Fall; denn es ist im erziehungstheoretischen Kontext immer die "zweite", die soziale und moralische Natur des Menschen, auf die sich die BemĂŒhungen der PĂ€dagogik richten. "Garantin fĂŒr die offene Zukunft des Kindes" kann und will sie nur in dieser Hinsicht sein, der Begriff der "NatĂŒrlichkeit" fundiert nicht ein biologistisches Argument und die "ErziehungsbedĂŒrftigkeit der menschlichen Natur" (18) ebenfalls nicht.

Der "Alleinvertretungsanspruch" der PĂ€dagogik "oder ihre Autonomie in Sachen Menschen-Verbesserung" (18, auch 21) waren und wĂ€ren deshalb auch allenfalls dann gefĂ€hrdet, wenn ihre Technologie (wie ich einmal knapp formuliere) tatsĂ€chlich eine Technologie der Verbesserung der biologischen Natur wĂ€re; dann könnte aus der Konkurrenz zu den Biowissenschaften eine "KrĂ€nkung ihres SelbstwertgefĂŒhls" entstehen und die Distanz zur Eugenik-Debatte angemessen als "Verbarrikadierung im Diskurs-Abseits" (19) erklĂ€rt werden. Aber die Erziehungstheorie hat weder gegenĂŒber der Medizin im 18. Jahrhundert noch gegenĂŒber der Biologie im 20. die "realwissenschaftliche Kompetenz des Faches" (15) gefĂŒrchtet, weil sie neben der Rezeption der Naturwissenschaften immer eigene "Auffassungen vom Entwicklungs- und Bildungspotential des Menschen" entwickelt, keineswegs nur "biowissenschaftlich" gedacht hat oder nur die "eugenischen Anwendungsperspektiven" (15) kannte.

Entsprechend muss man sagen, dass in der PĂ€dagogik das "Dual von Natur und Kultur" (15) auch nicht ungebrochen geherrscht hat, sondern immer begleitet war von anderen Denkfiguren und Auffassungsweisen, z.B. triadischen, wie bei Pestalozzi. Seine Referenz auf "Natur" und "Geschlecht" wird ja immer erweitert durch einen Blick auf das "Selbst", den sich selbst konstruierenden Menschen, analysiert also in einer quasi konstruktivistischen, in autopoietischen Denkformen zu rekonstruierenden, jedenfalls nicht schlicht dualisierenden Weise. Und selbstverstĂ€ndlich - "Anwaltschaft fĂŒr die biologische Natur des Kindes" wird man in dieser Anthropologie so wenig finden wie in der aktuellen Anthropologie im Milieu der Erziehungswissenschaft, die sich eher als historische und soziologische, denn als biowissenschaftliche entfaltet.

Das, die historische genaue Rekonstruktion der pĂ€dagogischen Tradition, blendet Reyer ebenso aus wie die aktuelle Debatte der Anthropologie und deshalb ist im Ergebnis seine historische Rekonstruktion so wenig akzeptabel wie seine systematischen Schlussfolgerungen. Im Blick auf das pĂ€dagogische Handeln wird er schließlich - erwartbar bei einer solchen Denkform - in eigentĂŒmlicher Weise fatalistisch, was die Unabwendbarkeit einer "eugenisierten Gesellschaft" als Zukunftsvision betrifft (195). Jedenfalls kann ich nicht erkennen, was eine PĂ€dagogik, die nur biowissenschaftlich denken kann, dabei ausrichten soll. Mag sie "Diskurskompetenz" (14 und ff.), ja "DiskurszustĂ€ndigkeit" (schon 12 u.ö.) besitzen, "Gestaltungskompetenz" beanspruchen und sich deshalb mutig einmischen, statt nur zuzuschauen, das Paradox der Offenheit angesichts der Biowissenschaften (32) wird man nicht bearbeiten können, wenn man nur biowissenschaftlich denkt. Kritisch gegen die "Designer-PĂ€dagogik" (zuerst 19, dann passim), also eine PĂ€dagogik, die nur noch "erzieherische Umwelten fĂŒr das genetische Design bereitzustellen" habe (19), kann nur eine PĂ€dagogik sein, die ein eigenes Design fĂŒr eine vom Gedanken der "Bildsamkeit" getragene Theorie der Erziehung entwickeln kann. Reyer verabschiedet sich von dieser Tradition durch Negation der Tradition, durch Flucht in die Biowissenschaften und durch die Reduktion der PĂ€dagogik auf das ethische Argument. Aber dort wird er kein Heil finden, sondern nur seinen Untergang erleben, weil er die theoretischen und technologischen Möglichkeiten der PĂ€dagogik schon verschenkt hat, bevor er sie meint einsetzen zu können.
Heinz-Elmar Tenorth (Berlin)
Zur Zitierweise der Rezension:
Heinz-Elmar Tenorth: Rezension von: Reyer, JĂŒrgen: Eugenik und PĂ€dagogik, Erziehungswissenschaft in einer eugenisierten Gesellschaft, Juventa-Verlag: Weinheim/MĂŒnchen 2003. In: EWR 3 (2004), Nr. 4 (Veröffentlicht am 05.08.2004), URL: http://klinkhardt.de/ewr/77991713.html