EWR 3 (2004), Nr. 3 (Mai/Juni 2004)

Johanna Hopfner / Michael Winkler (Hrsg.)
Die aufgegebene AufklÀrung
Experimente pÀdagogischer Vernunft
Weinheim/MĂŒnchen: Juventa 2004
(176 Seiten; ISBN 3-7799-1261-9; 15,00 EUR)
Die aufgegebene AufklĂ€rung Der Ausgangspunkt des Sammelbandes "Die aufgegebene AufklĂ€rung", der von Johanna Hopfner und Michael Winkler anlĂ€sslich der Emeritierung von Wolfgang SĂŒnkel herausgegeben wurde, findet sich in der "bitteren geschichtlichen Erfahrung" (10) des Scheiterns des Projekts der AufklĂ€rung und der daraus resultierenden Herausforderung an die PĂ€dagogik. Das hochgesteckte Ziel des Buches ist es, "die Tragweite dieser verhĂ€ngnisvollen FehleinschĂ€tzung der pĂ€dagogischen Vernunft" (11) bewußt zu machen. In vier Abteilungen sollen die zentralen Elemente des aufklĂ€rerischen Prozesses, dessen Voraussetzungen und Bedingungen, aber auch Irr- und Abwege der Vernunft in einzelnen BeitrĂ€gen erörtert werden.

Die Abteilung Grundlagen beginnt mit Christoph LĂŒths Aufsatz "Die AufklĂ€rung der Sophisten als Traditionsbruch und Reaktionen Platons". Der Autor betrachtet in seiner solide gefĂŒhrten Argumentation insbesondere den Homo-mensura-Satz des Protagoras als zentral fĂŒr die erkenntisrelativistische Position der Sophisten, welche von einer empirisch-rationalen Basis ausgehen (vgl. 23). "Ein sensualistisches VernunftverstĂ€ndnis, RelativitĂ€t der Erkenntnis und logisches Argumentieren pro und contra bei Prodikos, eine aufklĂ€rerische Unterscheidung zwischen falschen und wahren Reden bei Gorgias und Kritias, analytische Wortunterscheidungen bei Prodikos und die Vernunft als ethisches Konzept" (28) weisen der menschlichen Vernunft ihre zentrale Bedeutung zu. Insofern bestimmt LĂŒth die Sophistik als erste AufklĂ€rung in Europa. Die Unterschiede der Erziehungstheorie zwischen den Sophisten und Platon macht der Autor am unterschiedlichen WissenschaftsverstĂ€ndnis - empirisch-sensualistischer Zugang vs. Ideenlehre - (vgl. 40) und der GegensĂ€tzlichkeit von sophistischer Rhetorik und platonischer Dialektik fest (vgl. 43).

Der Beitrag von KĂ€te Meyer-Drawe "Sklaverei und TĂ€ndelei" hat zum Ziel, sich mit den Grenzen der Kantschen Erziehung und Bildung zu beschĂ€ftigen. Richtig bestimmt die Autorin den Zusammenhang von Erziehung und AufklĂ€rung im Moment des freien Willens (vgl. 47) und weist mit Kants "Kritik der reinen Vernunft" auf die "Diaetetic des Denkens" hin, die die Vernunft vor dem Überschreiten ihrer Grenzen schĂŒtzen soll (vgl. 49). Nach Meyer-Drawe forsche Kant "nach Wegen, Welt und Selbst in ihrer Beziehung genau zu bestimmen und Hinweise zu ihrer Gestaltung zu geben" (49). In der Selbstregierung - nicht in der Herrschaft - sieht die Autorin die pĂ€dagogische Grundhaltung Kants. Damit sei Erziehung nicht sklavisch (Brechung des Willens), wohl aber zwangsmĂ€ĂŸig möglich. Erziehung wird nach Kant als Disziplinierung, Zivilisierung, Kultivierung und Moralisierung bestimmt (vgl. 54ff.) Zwar wurde die antinomische Denkstruktur, die auch die Kantsche PĂ€dagogik prĂ€gt, gewĂŒrdigt, jedoch bleibt die Argumentation der Autorin auf einer Ebene stehen, die die zentralen Aussagen Kants komponiert, seine Begrifflichkeit aber nicht unbedingt expliziert oder dessen Argumentation systematisch rekonstruiert. Auch formal ist die Kant-Zitation unsystematisch, insofern nicht durchgehend z. B. nach der Akademie-Ausgabe zitiert wird (z.B. 49, 50, 51). Die im Titel genannten Begriffe von Sklaverei und TĂ€ndelei werden nur unzureichend erklĂ€rt; ihre Stellung im Kantschen System der Erziehung bleibt unklar. Eine Antwort auf die im Untertitel des Beitrages ableitbare Frage "Wie bestimmt Kant die Grenzen von Erziehung und Bildung?" bleibt die Autorin somit schuldig.

Der Aufsatz von Wolfgang SĂŒnkel "AufklĂ€rung und bĂŒrgerliche Gesellschaft" versteht sich als Beitrag zur begrifflichen VerhĂ€ltnisbestimmung von AufklĂ€rung und Marxismus. Der Autor, der sich zu Beginn des Textes selbst zitiert - jedoch keine Quellenangabe macht - (vgl. 60), will das Thema der AufklĂ€rung insbesondere nach 1789 in der "kritischen Revision der Traditionen" und im "Entwurf vernĂŒnftiger VerhĂ€ltnisse in Kultur, Gesellschaft und Staat" (61) bestimmen. Im folgenden wird der "Vierte Stand" im marxistischen Sinne als modernes Proletariat gedeutet, das sich nach SĂŒnkel deswegen durch die Revolution selbst aufgeklĂ€rt habe, weil die "alte AufklĂ€rung" dazu nicht im Stande gewesen sei. Der Autor postuliert den Marxismus als die wichtigste aller neuaufklĂ€rerischen Denkrichtungen (vgl. 63). Mit umgangssprachlichen Wendungen und einer Lexik, die dem Niveau wissenschaftlicher Texte nicht entspricht (z. B. "saukomisch"; 65), untersucht der Autor der dialektischen Methode folgend, inwieweit das Proletariat nach Marx eine Klasse der bĂŒrgerlichen Gesellschaft sei (vgl. 64). Sowohl der Schlusssatz ("Philosophen aller LĂ€nder, verbĂŒndet euch!") als auch die Postulierung des Marxismus als Überwindung der "alten AufklĂ€rung" verweisen auf eine apologetische Intention des Autors.

Die zweite Abteilung Rezeptionshermeneutik beinhaltet die AufsĂ€tze von Alfred Langewand ("Hölderlins ‚Sokrates und Alcibiades‘ bei Johann Friedrich Herbart") und Götz Hillig ("Einige Anmerkungen zu SĂŒnkels ‚Fassadenhypothese‘, mit Seitenblicken auf redaktionelle Eingriffe und Druckfehler"). Der an sich interessanten Thematik fehlt jedoch der Bezug zum Gegenstand des Sammelbandes.

In der dritten Abteilung Dialektik beschĂ€ftigt sich Caroline Hopf mit ihrem Beitrag "Bey so aufgeklĂ€rten Zeiten..." mit Leopold Mozart als Erzieher seines berĂŒhmten Sohnes. Über eine kurze biographische Notiz und eine Skizze von Wolfgangs Kindheit erarbeitet Hopf das pĂ€dagogische Bild von Leopold Mozart als wichtigsten Lehrer fĂŒr seinen Sohn (vgl. 120). Auch dieser an sich ordentliche Beitrag erarbeitet keine strukturellen Gemeinsamkeiten zwischen der historischen Persönlichkeit und der AufklĂ€rung. Mehr als ein allgemeiner Hinweis auf die deutsche AufklĂ€rungspĂ€dagogik, die den Vater zur Erziehung Wolfgangs geprĂ€gt haben mĂŒsse, wird nicht gegeben (vgl. 119).

Der kenntnis- und informationsreiche Beitrag von Eva Matthes "Die aufgegebene AufklĂ€rung. Höhere Schulen im NS-Staat" thematisiert den Nationalsozialismus "als brutalst mögliche Negation [sic!]" der AufklĂ€rung (124): Die von Hitler geforderte "völkische Weltanschauung" mit Rassenlehre und FĂŒhrerprinzip steht dem "sapere aude" der AufklĂ€rung entgegen. Die Höheren Schulen wurden als Instrument der AntiaufklĂ€rung genutzt, indem nicht-systemkonforme LehrkrĂ€fte entlassen, die Rassenkunde als ĂŒbergreifendes Unterrichtsprinzip aufgewertet und die körperliche LeistungsfĂ€higkeit der SchĂŒler neu bewertet wurde.

In der letzten Abteilung Perspektiven entfaltet der Ă€ußerst lesenswerte und profunde Beitrag von Helmut Heid "Kann man zur Verantwortlichkeit erziehen?" die verschiedenen Merkmale von Verantwortung (Kausalkonzept, Handeln, Zweckbestimmung, Wissen, Handlungsfreiheit, Wertung). Der Autor formuliert die These, dass "in einer Vielzahl von FĂ€llen, in denen Verantwortlichkeit ĂŒbertragen wird und ĂŒbertragen werden kann, getrennt wird, was zusammengehört, um Verantwortlichkeit zu begrĂŒnden" (152). Die Praxis des Verantwortlich-Machens habe zur Folge, dass die Voraussetzungen verantwortlichen Handelns ĂŒberflĂŒssig werden. Vor dem Hintergrund des aufklĂ€rerischen "sapere aude" will Heids pĂ€dagogisches Verantwortungskonzept den Menschen befĂ€higen, "die QualitĂ€t jener Aufgaben selbst, kompetent und verallgemeinerbar zu beurteilen" (153). Dabei könne Verantwortlichkeit kein direktes Ziel pĂ€dagogischen Handelns sein, sondern mĂŒsse "durch BemĂŒhungen um Verwirklichung der notwendigen Voraussetzungen" (153) ermöglicht werden.

Der abschließende Beitrag von Michael Winkler "AufklĂ€rung" stellt sich die Frage nach der Zukunft der AufklĂ€rung, indem ein Tableau inhaltlicher Bestimmung zwischen naiver und desillusionierter AufklĂ€rung (Salzmann - Rousseau) entworfen wird. Über Kants Bestimmung der Vernunft als "letztes Kriterium, das fĂŒr AufklĂ€rung gilt" (158), skizziert Winkler die Position von Horkheimer und Adorno, um so zu den Perspektiven, die sich durch die "jĂŒngeren Entwicklungen in Bildungs- und Wissenschaftspolitik abzeichnen" (159), ĂŒberzuleiten. Die sich an Hobsbawn anlehnende Bewertung des 20. Jahrhunderts ("Zeitalter der Extreme") fragt nach der Stellung von AufklĂ€rung in einer Gesellschaft, die fĂŒr sich glaubt, "AufklĂ€rung realisiert zu haben" (160). Winklers lesenswerte und genau den Zeitgeist beobachtende Argumentation pointiert insbesondere die Entwicklung der desillusionierenden AufklĂ€rung, die das reflexive Potential geisteswissenschaftlicher PĂ€dagogik zu vergessen scheine (vgl. 162). Der Autor mahnt den Verlust des begrifflichen Instrumentariums als Grundlage des Zugriffs auf die Bestimmung von PĂ€dagogik selbst an. "Eine erziehungswissenschaftliche AufklĂ€rung ohne eine Theorie, die auf die Vergangenheit pĂ€dagogischer Reflexion zurĂŒckverweist, dementiert sich selbst" (168). Winkler sieht dadurch und aufgrund des aktuellen Modernisierungstrends die wissenschaftliche BeschĂ€ftigung mit PĂ€dagogik an der Hochschule gefĂ€hrdet (vgl. 169).

Abschließend gilt es, die BeitrĂ€ge von LĂŒth, Heid und Winkler als lobenswert hervorzuheben. Das im Sammelband formulierte Ziel, die FehleinschĂ€tzungen pĂ€dagogischer Vernunft im Projekt der AufklĂ€rung bewusst zu machen, können nicht alle BeitrĂ€ge einlösen. Nicht nur aufgrund der heterogenen QualitĂ€t in den Argumentationen, sondern gerade auch durch z.T. fehlenden Themenbezug erscheint der vorliegende Band nicht als einheitliches Ganzes - zu unterschiedlich und zu individuell bestimmten die Autoren ihren Begriff von AufklĂ€rung. Zwar ist die Fragestellung nach der Verortung der pĂ€dagogischen Vernunft vor dem Hintergrund einer gescheiterten (?) AufklĂ€rung aktuell und wichtig, ein solches Thema erscheint jedoch als zu umfangreich, um in neun Sammelband-BeitrĂ€gen erschöpfend behandelt werden zu können.
Martin Fabjancic (Trier)
Zur Zitierweise der Rezension:
Martin Fabjancic: Rezension von: Hopfner, Johanna / Winkler, Michael (Hg.): Die aufgegebene AufklĂ€rung, Experimente pĂ€dagogischer Vernunft, Weinheim/MĂŒnchen: Juventa 2004. In: EWR 3 (2004), Nr. 3 (Veröffentlicht am 02.06.2004), URL: http://klinkhardt.de/ewr/77991261.html