EWR 3 (2004), Nr. 3 (Mai/Juni 2004)

Volker Gedarth
Vergessene Traditionen der Sozialpädagogik
Weinheim: Juventa 2003
(478 Seiten; ISBN 3-7799-1112-4; 34,90 EUR)
Die Geschichte der Sozialpädagogik beginnt gemeinhin erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Zwar lassen sich einzelne Elemente und Ansätze bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts zurückverfolgen (Pestalozzi), aber von einem modernen sozialpädagogischen Denken wie auch einer entsprechenden Praxis spricht man diesbezüglich nur mit erheblichen Vorbehalten. Hinzu kommt, dass es sich um Einzelfälle handelt, dass es sowohl an der Kontinuität des Diskurses wie auch einer institutionalisierten Praxis zu fehlen scheint. Das Buch "Vergessene Traditionen der Sozialpädagogik" verspricht an diesem Bild nachhaltig Korrekturen vorzunehmen. Volker Gedrath versucht nachzuweisen, dass es parallel zur beginnenden Modernisierung der Gesellschaft um 1800 in Deutschland auch zur Institutionalisierung von Formen der Hilfe, Erziehung und Bildung kam, die mit ihrer Ausrichtung an Emanzipation (Hilfe zur Selbsthilfe) und Integration (Ausbildung/Disziplinierung) sowie in ihren konkreten praktischen Ausprägungen (Besuchsverein) dem Typus moderner Sozialpädagogik entsprechen. Er findet diese Hilfe- und Erziehungsformen allerdings nicht auf staatlicher, sondern kommunaler Ebene als privat organisierte und finanzierte Einrichtungen der Nacherziehung gewerblich beschäftigter Jugendlicher, die Sonntagsschulen, in zunehmend industriell geprägten Städten (Duisburg, Leipzig). Initiator und Träger dieser Anstalten ist das gehobene, sich in Vereinen organisierende städtische Bürgertum. Innerhalb dieser bürgerlichen Kreise macht Gedrath wiederum eine bestimmte Gruppe aus, die aufgrund der sie prägenden Geisteshaltung nicht nur eine besondere Affinität für dieses spezifische soziale Engagement zeigen, sondern nachweislich an der Gründung und Erhaltung diverser Sonntagsschulen maßgeblich beteiligt war: die Logen der Freimaurer. Neben dieser Offenlegung einer bisher weit gehend übersehenen Ursprungsgeschichte der Sozialpädagogik geht es dem Autor konzeptionell um eine ideen-, regional- und alltagsgeschichtliche Aspekte integrierende Sozialgeschichte von Bildung und Erziehung im Vormärz.

Das Buch gliedert sich in drei Teile. Zuerst werden die ideengeschichtlichen, sozialen und rechtlichen Voraussetzungen der Entstehung jener sozialen und intellektuellen Situation erläutert, die sozialpädagogische Praktiken erforderlich und überhaupt erst möglich machten. Hierbei konzentriert sich Gedrath zum einen auf die sozialpolitisch relevanten Artikel des Allgemeinen Landrechts, Grashofs Reisebericht von 1815 und die Hardenberg-Umfrage bei den Oberpräsidenten über die Lage der Volkserziehung und bettet in diese Ausführungen die Darstellung der Kinderarbeitsfrage und des Pauperismusproblems aus sozialhistorischer wie historisch-administrativer Sicht ein. Dem schließt sich in einem zweiten Teil eine Darstellung der sozialpädagogisch anschlussfähigen Ethik der Freimaurer an. In Verbindung mit der Erläuterung der Hintergründe der Sonntagsschulbewegung versucht Gedrath seine These zu belegen, dass ganz besonders bei Mitgliedern der Freimaurer jene Verbindung von neuer Gesellschaftstheorie und Staatsbürgerbegriff sowie jene Orientierung an dem doppelten Ziel einer Selbstvervollkommnung des Menschen als Bildungsvorstellung verbunden mit berufspraktisch relevanter Ausbildung nachzuweisen ist, die zusammen mit einem sozialen Problembewusstsein und Engagement für die Entstehung dieser sozialpädagogischen Erziehungs- und Hilfekonzeption maßgeblich war. Detailliert stellt er dies an Leben und Werk des freimaurerischen Pädagogen Karl Benjamin Preuskers dar, um in diesem Zusammenhang zugleich allgemeine Aspekte der pädagogischen Begründung und des organisatorischen Aufbaus der Sonntagsschulen im Vormärz zu erläutern. Als Beispiel einer solchen von Freimaurern begründeten und unterhaltenen Sonntagsschule enthält der abschließende, aber zugleich umfangreichste dritte Teil eine auf intensivem Archivstudium beruhende Lokalgeschichte einer Duisburger Sonntagsschule. Finanzierung, Lehrplan, Unterrichtsinhalte und –methoden werden hier ebenso detailreich erläutert wie die Herkunft der Schüler und die Biographien der Lehrenden. Sozialgeschichtlich von großem Interesse ist dieser Teil auch deshalb, weil sich an der Geschichte dieser Einrichtung tiefe Einblicke in das Spannungsverhältnis von freiwilligem, finanziell aber immer prekärem sozialem Engagement zahlreicher Bürger, einer wohlwollenden Bezirksregierung und einer die städtischen Regelschulen favorisierender und sich ansonsten in Zurückhaltung übender Stadtregierung gewinnen lassen.

Bei einem so umfangreichen und mit zahlreichen Thesen aufwartenden Buch ist es kaum zu erwarten, dass man dem Autor in allen Fällen bei seinen Interpretationen folgen wird. So bedarf es, um nur ein Beispiel zu nennen, sicher noch weiterer Klärungen, ob es tatsächlich genuin freimaurerisches Gedankengut ist, dass zu diesen sozialpädagogischen Denk- und Praxisformen führt, oder ob dieses nicht vielmehr ein Gemeingut bestimmter Kreise des Bürgertums ist, die häufig auch unter den Freimaurern anzutreffen sind und infolgedessen deren organisatorische Möglichkeiten sowie finanzielle und soziale Ressourcen nutzen. Der durchweg gut lesbare Band ist aber gerade wegen seiner klaren Thesen und Interpretationen nicht nur eine überaus informative Lektüre, die forschungssystematisch eine Pionierleistung darstellt, sondern auch Anregung für weitere Forschungen und Diskussionen.
Sebastian Manhart (Trier)
Zur Zitierweise der Rezension:
Sebastian Manhart: Rezension von: Gedrath, Volker: Vergessene Traditionen der Sozialpädagogik, Weinheim: Juventa 2003. In: EWR 3 (2004), Nr. 3 (Veröffentlicht am 02.06.2004), URL: http://klinkhardt.de/ewr/77991112.html