EWR 2 (2003), Nr. 5 (September/Oktober 2003)

Roland Reichenbach / Fritz Oser (Hrsg.)
Die Psychologisierung der PĂ€dagogik
Übel, Notwendigkeit, Fehldiagnose
Weinheim und MĂŒnchen: Juventa 2002
(210 Seiten; ISBN 3-7799-1098-5; 15,00 EUR)
Die Psychologisierung der PĂ€dagogik Das Buch faßt zehn BeitrĂ€ge zusammen, die im Oktober 2001 in Freiburg/Schweiz im Rahmen eines Kolloquiums vorgetragen und diskutiert wurden. Es handelt sich also um einen typischen Tagungsband, der daher alle Vor- und Nachteile dieser Gattung widerspiegelt.

Die Tatsache, dass die Herausgeber fĂŒr die Veröffentlichung einen anderen, vom ursprĂŒnglichen Tagungsthema abweichenden Titel gewĂ€hlt haben, erscheint allerdings in systematischer Hinsicht von Bedeutung und fĂŒhrt unmittelbar zum Kern der Sache: Die Tagung stand unter dem Motto "Die Erosion des pĂ€dagogischen Denkens – Zur Psychologisierung pĂ€dagogischer Theorie und Praxis". Der Begriff der "Erosion" bezeichnet gemeinhin den (hĂ€ufig zerstörerischen) Einfluß von fließendem Wasser, Wind oder Eis auf Formationen der unbelebten Natur; in der Heilkunde wird damit eine oberflĂ€chlicher Gewebeschaden der Haut oder Schleimhaut benannt und in der Zahnmedizin wird der Begriff benutzt, um ein Fehlen oder die Abschleifung von Zahnschmelz zu erfassen. Demnach dĂŒrfte die leitende Intention des Unternehmens gewesen sein, zu erörtern, dass das pĂ€dagogische Bewußtsein durch Ă€ußere EinflĂŒsse entscheidendes von seiner ursprĂŒnglichen Gestalt eingebĂŒĂŸt hat (wobei sich zwangslĂ€ufig die Frage aufdrĂ€ngt, wie diese denn wohl ausgesehen haben mag). Und das, was ĂŒblicherweise Wasser, Wind oder Eis verursachen, wird hier offensichtlich dem zugeschrieben, was "Psychologisierung" genannt wird.

Was verstehen die Herausgeber nun unter diesem Begriff? Es geht, so Reichenbach in seinen einleitenden Bemerkungen als Mitherausgeber, "in keiner Weise um die Psychologie als Fach oder um psychologische Teildisziplinen, sondern allein um bestimmte EinflĂŒsse bestimmter Psychologien fĂŒr das pĂ€dagogische SelbstverstĂ€ndnis" (7). Der Begriff soll drei Tendenzen markieren: erstens die Tendenz, "die unmittelbaren BedĂŒrfnisse des Kindes zum Leitkriterium pĂ€dagogischen Handelns und Denkens zu machen"; zweitens die Tendenz, "der Zeitperspektive der Gegenwart (des Kindes) gegenĂŒber derjenigen der Zukunft (des Kindes) Primatstatus zuzuordnen" und drittens schließlich darum, "das Ideal der symmetrischen Kommunikation zum Gebot erzieherischer Kommunikation ĂŒberhaupt zu stilisieren" (9). Man sieht also: Es geht den Autoren im Grunde genommen um ein zentrales, genuin pĂ€dagogisches Thema, wobei die vermeintlich griffige Rede von "der Psychologisierung" eher fĂŒr MissverstĂ€ndnisse und falsche Erwartungen sorgen dĂŒrfte und kaum geeignet erscheint, um das Vorhaben angemessen und prĂ€gnant zu bezeichnen.

JĂŒrgen Oelkers eröffnet mit einem ebenso instruktiven wie mustergĂŒltig angelegten Beitrag den Reigen der insgesamt zehn AufsĂ€tze. Am Anfang steht eine starke These: "Es gibt", so Oelkers, "keinen ‚Übergriff‘ der Psychologie auf die PĂ€dagogik, der eine als grundlegend angenommene Denkform verĂ€ndern oder beeintrĂ€chtigen wĂŒrde. Die PĂ€dagogik ist nicht bedroht, das Problem ist eher ihr Normalverhalten" (12). Diese systematisch fundierte Einsicht wird nun in drei DurchfĂŒhrungen historisch variiert: Zuerst geht es in jeweils kurzen prĂ€gnanten Skizzen um den Sensualismus des 18. Jahrhunderts (Locke, Condillac), den Herbartianismus des 19. Jahrhunderts und die Kinderpsychologie des beginnenden 20. Jahrhunderts (Preyer). Dann steht die experimentelle PĂ€dagogik Meumanns im Mittelpunkt, danach folgt der Blick auf die Psychologien der ReformpĂ€dagogik. In allen FĂ€llen zeigt sich (zumindest wenn man dem Sog dieser Konstruktion zu folgen bereit ist), daß nicht die jeweiligen psychologischen Wahrheiten den Modus der Rezeption bestimmt haben, sondern die Passungen in pĂ€dagogische Absichten. Kurzum: Die PĂ€dagogiken nehmen sich, was sie fĂŒr ihre jeweiligen normativen Zwecke brauchen, und zwar ohne RĂŒcksicht auf die theoretische DignitĂ€t der (psychologischen) Konzepte. Den Grund hierfĂŒr sieht Oelkers darin, dass "Erziehung" gemeinhin als "Wirkungserwartung" (26) konzipiert wird. Und das schafft Folgeprobleme, nĂ€mlich einen spezifischen Technologiebedarf, den Zwang, sich "geeignete" Psychologien zu suchen und begrĂŒndet wohl auch die an sich ĂŒberraschende Beharrlichkeit, das auf Wirkung angelegte Grundmodell zu verĂ€ndern. Wie, so sein anregender Ausblick, wĂŒrde sich die Theorielandschaft wohl verĂ€ndern, wenn man "Erziehung" ohne Ganzheitlichkeit konzipierte, Wechselseitigkeit annehmen könnte und nicht auf Nachhaltigkeit zu zĂ€hlen brĂ€uchte (vgl. 27)?

Auch bei dem zweiten Beitrag des Buches, den Fritz Osterwalder in bekannter Manier verfaßt hat, handelt es sich um ein KabinettstĂŒck der historischen PĂ€dagogik, das ĂŒberraschende Einsichten bereithĂ€lt. Von Osterwalder kann man lernen, wie disziplinĂ€re WissensbestĂ€nde sozusagen im Prozess eines "theoretischen Metabolismus" gleichsam verschoben, verwandelt und dabei zu "neuer" Gestalt verschmolzen werden. Von den LehrbĂŒchern Niemeyers ("GrundsĂ€tze der Erziehung und des Unterrichts", 1796) und Schwarz‘ ("Lehrbuch der Erziehungs- und Unterrichtslehre", 1805) ausgehend fĂŒhrt er ĂŒberzeugend die These vor, "dass die BegrĂŒndung der PĂ€dagogik auf Psychologie ... das sakrale Erbe der Frömmigkeitstheologie des ausgehenden 17. und 18. Jahrhunderts in der sĂ€kularen PĂ€dagogik ausmacht. Die sakrale Psychologie ĂŒberlebt demnach in der profanen Disziplin PĂ€dagogik, gerade weil diese zunehmend ihren theologischen Entstehenskontext verloren hat" (30f.).

Walter Bauer geht dann (die nach dem Vorangegangenen nun auf gegenwĂ€rtige VerhĂ€ltnisse gerichteten Erwartungen des Lesers enttĂ€uschend) noch einmal auf die Geschichte der PĂ€dagogischen Psychologie zurĂŒck, wĂ€hrend Lutz Koch in seinem Beitrag ein unbestreitbar zentrales Thema der Allgemeinen PĂ€dagogik, nĂ€mlich die Probleme einer pĂ€dagogischen Theorie des Lernens, leider so behandelt, dass die DignitĂ€t der Fragestellung einer rhetorisch unnötig aufgeladenen Emphase zum Opfer fĂ€llt. Dass viele Vorstellungen und Konzepte, die der pĂ€dagogische Zeitgeist fĂŒr bedeutsam hĂ€lt (z.B. "BedĂŒrfnisorientierung"), sich vor dem Hintergrund einer sorgfĂ€ltig verfahrenden PhĂ€nomenologie des Lernens als wenig tragfĂ€hig erweisen, zeigt sodann Helmut Heid, wenn auch in einer stellenweise (z.B. 97f.) kaum verstĂ€ndlichen Sprache. Den Versuch von BĂ€rbel Schön, "Gemeinsamkeiten und Differenzen zwischen pĂ€dagogischem und therapeutischem Denken und Handeln" aufzuzeigen, muss man allerdings weitgehend als gescheitert bezeichnen.

Der folgende Beitrag von Fritz Oser ist – vorausgesetzt, geneigte Leser lassen sich durch die affektgeladene Darstellung nicht ĂŒber GebĂŒhr irritieren – insofern instruktiv, als er an einem Beispiel konkreten unterrichtlichen Handelns, dem "Auffordern" (in seiner Sprache eine "Mutterstruktur des PĂ€dagogischen schlechthin", 136), zu zeigen vermag, dass die Eigenart pĂ€dagogischer Vernunft nicht durch gute Absichten, sondern durch die professionell ausgebildete FĂ€higkeit, das Lernen ebenso transparent wie operativ geschmeidig zu artikulieren, zur Geltung kommt. Und die hiermit verbundenen Kompetenzen werden, wie der Hinweis auf empirische Studien zeigt, in der Ausbildung von Lehrerinnen und Lehrern unzureichend vermittelt. Die von Oser voller Ärger als "psychologistische Ödeme" bezeichneten "Schwellungen des (pĂ€dagogischen, V.K.) Denkens" (126) verdanken sich demnach schlicht Defekten und Defiziten im eigenen Hause.

Welche Konsequenzen sich fĂŒr die Ausbildung ergeben, wenn Professionalisierung der Lehrerbildung primĂ€r als "Wissens- (und damit auch: Wissenschafts-)bezug" verstanden wird, erlĂ€utert Kurt Czerwenka. "Wissensbezug", so der Autor, ermögliche die "Überwindung erfahrungsbezogenen Handelns", sichere "Gerechtigkeit im System", biete "Sicherheit" und fĂŒhre zu "besserem Handeln" (vgl. 163ff.). Dass allerdings in der Geschichte der Lehrerbildung Modelle (z.B. Tuiskon Ziller) bereitliegen, die demonstrieren, wie Reflexions- und Handlungswissen vernĂŒnftig verknĂŒpft werden können, scheint jedoch merkwĂŒrdigerweise nicht bekannt zu sein. So empfiehlt der Autor, fĂŒr diesen Zweck auf (psychologische) Konzepte ("anchored instruction" oder auch "cognitive load theory") zurĂŒckzugreifen.

In seinem ebenso originellen wie kenntnisreichen und gut verstĂ€ndlichen Aufsatz entfaltet Roland Reichenbach ein bildungsphilosophisch fundiertes "Votum fĂŒr exoterische PĂ€dagogiken". Die Pointe seiner Überlegungen gipfelt in der Forderung nach Psychologien, die auschließlich genuin pĂ€dagogischen Zwecken entsprechen: "Der pĂ€dagogische Einsatz fĂŒr den Personenbegriff", so heißt es, "erfordert einen theoretischen Zugang zu exoterischen Beschreibungs- und SelbstbeschreibungsbemĂŒhungen, die nur von Psychologien erhellt und ĂŒberhaupt begriffen werden können, die sich mit der Bedeutung von kulturellen Sinnstiftungsangeboten und Sinnstiftungsgeboten beschĂ€ftigen" (186f.). Angesichts der gegenwĂ€rtigen Übermacht von im Sinne des Autors nicht genuin pĂ€dagogischen Zwecken dienenden (PĂ€dagogischen) Psychologien ist dieser radikal angelegte Befreiungsschlag zwar nachvollziehbar und verstĂ€ndlich. Er erscheint gleichwohl ĂŒberzogen, denn das Selbst ist zwar, dem muss man zustimmen, nicht unmittelbar lesbar, aber doch auch, um in der Metapher zu bleiben, nie vollkommen unleserlich, sondern stets beides. Und warum sollte man Psychologien nicht nutzen, die seine Lesbarkeit erhöhen, wenn dabei nicht vergessen wird, dass das, was man zu lesen vermag, immer nur ein Teil des Textes ist?

Wie sich der Blick auf das Thema verĂ€ndern kann, wenn man von den Schultern Foucaults aus zu sehen gelernt hat, zeigt Jan Masschelein in einem ebenfalls lesenswerten Beitrag ĂŒber "die Erosion des pĂ€dagogischen Denkens als ein Vergessen der Kindheit". Mit Foucault versteht er (gĂ€nzlich anders als die Herausgeber) unter Psychologisierung "eine spezifische Art und Weise, das Selbst in der Welt sichtbar, denkbar und ‚praktikabel‘ (nutzbar) zu machen" (189f.). Als eine "individualisierende Technologie, welche Berechenbarkeit oder Verwaltbarkeit mitproduziert" (196f.), ist die Psychologie wesentlicher Bestandteil dessen, was Foucault als "the government of individualisation" (190) bezeichnet hat. Den Begriff der "Kindheit" verwendet Masschelein nun als "Name fĂŒr die Erfahrungen und Möglichkeiten, die das IndividualitĂ€ts- und ImmunitĂ€tsdispositiv als Sag- und Sichtbarkeitsregime der Sicht und den Blicken entzieht" (201). Das pĂ€dagogische Denken lebt aber seiner Ansicht nach gerade vom "Wissen" ĂŒber diese so verstandene "Kindheit". Und wenn nun die PĂ€dagogik diese "Kindheit" vergisst, wird auch sie zu einem Teil der Macht, die mögliche Formen der SubjektivitĂ€t verhindert: Sie degeneriert zur IndividualitĂ€tsschablone.

Dass die BeitrĂ€ge dieses Bandes in mehrfacher Hinsicht Ă€ußerst heterogen sind, wird durch die skizzenhaften Anmerkungen deutlich geworden sein. Abgesehen von dem unglĂŒcklich gewĂ€hlten Titel ist den Herausgebern die Frage zu stellen, ob alle BeitrĂ€ge, die im Rahmen der Tagung vorgetragen wurden, auch (noch dazu in offensichtlich kaum verĂ€nderter Form) veröffentlicht werden mussten? FĂŒr StudienanfĂ€nger ist das Buch nicht geeignet, da es eher zu deren Verwirrung beitragen dĂŒrfte als fĂŒr ein klares VerstĂ€ndnis des Faches zu sorgen. Da man von Eingeweihten eine hinreichend ausgebildete intradisziplinĂ€re Frustrationstoleranz erwarten kann, wird fĂŒr sie sicherlich der eine oder andere Beitrag von Interesse sein und mit Gewinn gelesen werden.

Insgesamt gesehen zeigt auch dieser Band, in welchem Ausmaß die erziehungswissenschaftliche Reflexion in einer negativen theoretischen IdentitĂ€t verhaftet zu sein scheint: Die Disziplin scheint immerhin zu wissen, was sie nicht ist oder nicht sein will. Negative IdentitĂ€t aber, das kann man aus verschiedenen Entwicklungspsychologien lernen, gilt gemeinhin als ein Durchgangsstadium, das in der Regel ĂŒberwunden werden kann.
Volker Kraft (Kiel/Neubrandenburg)
Zur Zitierweise der Rezension:
Volker Kraft: Rezension von: Reichenbach, Roland / Oser, Fritz (Hg.): Die Psychologisierung der PĂ€dagogik, Übel, Notwendigkeit, Fehldiagnose, Weinheim und MĂŒnchen: Juventa 2002. In: EWR 2 (2003), Nr. 5 (Veröffentlicht am 01.10.2003), URL: http://klinkhardt.de/ewr/77991098.html